Unsere Zustände
Früher hießen die Kinder Kinder. Jetzt heißen sie Kids. Das klingt hart und kämpferisch und so, als brauchen sie keine Eltern.
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In einer versauten Gesellschaft werden Schweinsköpfe regierungsfähig.
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Wenn der Wolf den Schafen das Fell leckt, glauben die, er meint es gut mit ihnen.
Wolfgang Eckert
Ein Jahr nach »1-O«
Unter dem Kürzel »1-O« fand am 1. Oktober 2017 in Katalonien das Unabhängigkeitsreferendum statt. Ein Jahr danach gibt es in Madrid und Barcelona neue Regierungen. Viele Katalanen wollen derweil weiter unabhängig von Spanien werden.
Mit verschiedenen Aktionen erinnerten Demonstranten an die Abstimmung vor einem Jahr: In Girona blockierten sie stundenlang die Gleise des Hochgeschwindigkeitszuges AVE. In Barcelona waren mehrere Hauptverkehrsadern gesperrt, auf zwei Autobahnen in Katalonien behinderten aufgetürmte Reifen eine Weiterfahrt. Im Regionalparlament von Girona ersetzten Demonstranten die spanische Nationalflagge gegen die katalanische Fahne.
Kataloniens Ex-Regionalpräsident Carles Puigdemont verurteilte die Vorfälle. Über die Demonstranten sagte er: »Diejenigen, die Kapuzen tragen und Gewalt anwenden, die sind nicht für 1-O.« (Übersetzung hier und im Folgenden: K.-H. W.) Auch Oriol Junqueras von der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), seit über acht Monaten in Haft, verkündete aus einer Madrider Haftanstalt eine pazifistische Botschaft: »Wir sind Menschen des Friedens, unsere Bewegung war immer friedlich. So lasst uns auch heute demonstrieren. Die 1-O hat uns 2017 gelehrt, dass Schlagstöcke und Schläge immer die schlechteste Lösung sind, das kann nicht unser Weg sein. Unsere Wunden sind noch offen.«
Der Campanile von Les Planes d´Hostoles trägt ein gelbes Band. Das Symbol für die Freiheit der politischen Gefangenen des »1-0 2017« weht auch auf dem höchsten Gebäude der Gemeinde von La Corrotxa. Überall gibt es Plakate, die die Freilassung der »politischen Gefangenen, der inhaftierten Unabhängigkeitsführer« fordern. In Les Planes, wie in anderen Orten in Katalonien wurde das Referendum von der Ortskirche unterstützt. Es waren dutzende christliche Gemeinden und über dreihundert Priester, die sich öffentlich 2017 für das Referendum einsetzten. Dabei auch katalanische Bischöfe.
Am 1. Oktober 2018 demonstrierten nachmittags über 180.000 Katalanen in Barcelona für die Unabhängigkeit von Spanien. Die Demonstranten trugen die Wahlurnen von 2017 in einem Meer von katalanischen Fahnen und Transparenten. Die Sprecherin der PSOE-Regierung in Madrid, Isabel Celaá, warf dem katalanische Regionalpräsidenten Quim Torra in der Nachrichtensendung des Staatlichen Fernsenders TVE 1 vor, dass er zur Gewalt aufgerufen habe. Am Vorabend des 1. Oktober 2018 hatte Torra ein neues Referendum gefordert und dabei den zivilen Ungehorsam verteidigt. Den 1. Oktober 2017 bezeichnete er »als Meilenstein für die Unabhängigkeit«. Es gelte jetzt, »den Sieg zu festigen. Was wir bisher getan haben, muss einen Sinn ergeben. Wenn uns jetzt die Angst überkommt, sind wir nicht in der Lage erneut den Geist von 1-0 zu erwecken, um die katalanische Republik zu erlangen.«
Karl-H. Walloch
Sattelfest
Es gibt Politiker, die einem Reiter gleichen, der noch fest im Sattel sitzt, wenn das Pferd unter ihm schon weggelaufen ist.
Günter Krone
Sonderrechte schaden der Kirche
Das besondere Arbeitsrecht der Kirchen ist in der Tat ein Ärgernis und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Auslaufmodell. Es hat eine Menge Schaden angerichtet und ist dadurch unglaubwürdig geworden. Es konnte sich nur so lange halten, weil die Gewerkschaften im Raum der Kirchen schwächelten. Im Arbeitsrecht wenig bewanderte Kirchenjuristen trugen ebenfalls dazu bei, dass die Kirchen als Arbeitgeber nicht das beste Image haben.
Diesen Säkularisierungsprozess beschreibt Hans Krieger als Entkirchlichung des Rechts (Ossietzky 19/2018). Seiner Analyse stimme ich bezogen auf das Arbeitsrecht zu. Beim Sonntagsschutz und beim Kirchenasyl für abschiebungsbedrohte Flüchtlinge kann ich mich dagegen durchaus mit dem Engagement der Kirchen anfreunden. Im Blick auf die niedersächsische »Härtefallkommission« sprach der frühere braunschweigische Landesbischof Friedrich Weber von der »Barmherzigkeit im Recht«.
30 Jahre lang habe ich als Redakteur für die kirchliche Nachrichtenagentur Evangelischer Pressedienst (epd) gearbeitet. Für mich galten die Tarifverträge für Tageszeitungsredakteure. Angestellt war ich bei einem e. V., dem Presseverband Niedersachsen-Bremen. Gleichzeitig galt das kirchliche Mitarbeitervertretungsgesetz. So wurde ich in den 1980er Jahren Mitarbeitervertreter, 1992 Betriebsrat. Nach einer Umstrukturierung war jetzt eine kirchliche GmbH, das Lutherische Verlagshaus, mein Arbeitgeber.
Das Lutherische Verlagshaus wechselte mehrfach den Geschäftsführer, blieb aber trotzdem mit seinen Büchern und der Wochenzeitung Evangelische Zeitung wirtschaftlich erfolglos. Der Evangelische Pressedienst sollte überleben. Er wurde deshalb ausgegliedert. Heute sind die Kollegen wieder bei einem Presseverband angestellt und dem kirchlichen Mitarbeiterrecht ausgesetzt. Das gilt für den Landesdienst Niedersachsen-Bremen. Die Mitarbeiter in der epd-Zentrale in Frankfurt haben schon immer und auch heute noch einen Betriebsrat.
Das kirchliche Mitarbeitervertretungsrecht ist aus Arbeitnehmersicht mehr oder weniger wirkungslos. Dem kirchlichen Dienstherren drohen keine größeren Sanktionen, wenn er sich über die Mitbestimmungsrechte hinwegsetzt. Die Nähe zum kirchlichen Dienstrecht bedeutet fast immer Gefahr für Arbeitnehmerrechte und -interessen.
So startete die Kirchenleitung den Versuch, den Beschäftigten der kircheneigenen GmbH das Weihnachtsgeld zu kürzen. Der Betriebsrat war nicht bereit, darüber zu verhandeln und wies auf das Tarifrecht und die Zuständigkeit der Gewerkschaften hin. Das Wort Gewerkschaft wird von Kirchenoberen als Bedrohung erfunden.
Zwei Beispiele zeigen, wozu die kirchliche »Dienstgemeinschaft« fähig ist. Skandal im evangelischen Schwesternwohnheim: Eine Schwesternschülerin verbrachte dort die Nacht mit einem (verheirateten) Mann. Die Schwesternschaft kündigte deshalb der jungen Frau. Die Frau zog vor das Arbeitsgericht. Der einführende Vortrag des vorsitzenden Richters war bereits ein vernichtendes Urteil über die Qualität kirchlicher Arbeitsverträge. Die Schwesternschaft hätte der Schülerin nur außerordentlich und nicht wie geschehen ordentlich kündigen dürfen, stellten die Richter fest. Denn es handele sich um ein Ausbildungsverhältnis. Die Schwesternschaft warf der Auszubildenden vor, mit ihrer Lebensführung gegen die in der Satzung festgelegten Prinzipien verstoßen zu haben. Der Richter stellte jedoch fest, dass der Ausbildungsvertrag keinen Hinweis auf diese Satzung enthalte.
Für Schlagzeilen sorgte auch der Fall einer katholischen Putzfrau. Sie durfte in einem evangelischen Studentenwohnheim in Braunschweig nicht fest eingestellt werden. Die kirchliche Mitarbeitervertretung billigte damals diese Ausgrenzung.
Mein Fazit: Mit ihren Sonderrechten kommen die Kirchen und ihre »Unterorganisationen« zum Teil selbst nicht klar. Das Chaos, das sie verursachen, ist ein wesentlicher Beitrag zur Entkirchlichung des Arbeitsrechts.
Manfred Laube
Gelenkt und nicht selbstbestimmt
Genau das von Maria Michel beschriebene »Nachhausekommen« in der Dresdener Ausstellung »Ostdeutsche Malerei und Skulptur 1949–1990« empfand auch ich in der Ausstellung (Maria Michel: Ein hässlicher Regentropfen der Geschichte, Ossietzky 17/2018). Das veranlasste mich, den 2014 erschienenen Band »Sozialistisch sammeln. Die Galerie Neue Meister Dresden zur Zeit der DDR« anzuschaffen. Vom Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Hartwig Fischer, wird im Grußwort Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gedankt, die sich mit der Sammlungsgeschichte der Galerie Neue Meister auseinandergesetzt hätten. Sicher ist das ein interessantes, zugleich auch diffiziles Thema. Beim Anlesen der Texte fand ich vielfach die hinlänglich bekannten Klischees zur DDR-Kunst und Kunstpolitik, Falsches und Oberflächliches. Aber die gezeigten Kunstwerke sind mir bedeutsam. Auf der Seite 26 fand ich eine klitzekleine Abbildung von Max Schwimmers »Jugendfestival«, 1953, Öl auf Leinwand, 54 x 65 cm. In dem Beitrag von Kathleen Schröter »Politisch gelenkt versus selbstbestimmt« erfuhr ich, dass Schwimmers Bild ein politisches Ereignis zeige. Dieses wird als das Deutschlandtreffen der Jugend für Frieden und Völkerfreundschaft 1950 verortet und dann heißt es: »Die vorwärtsstürmenden Reihen von Jugendlichen in FDJ-Hemden […] werden […] von Angehörigen der Volkspolizei begleitet, die ihnen eine (wenn auch schmale) Gasse zum Durchmarschieren öffnen.« Diese Interpretation ist falsch und hätte bei geringster Recherche vermieden werden können. Auf dem Bild tragen die Polizisten grüne Uniformen, die der Volkspolizei waren damals dunkelblau. Solcherart farbliche Unterscheidung ist Max Schwimmer zuzutrauen. Die Nichtvolkspolizei bildete die schmale Gasse, um den 30.000 Jugendlichen, die zum Deutschlandtreffen 1950 in die DDR eingereist waren, die Rückreise wegen angeblicher Seuchengefahr zu verweigern und die namentliche Registrierung der Jugendlichen zu verlangen. Ein Jahr später, anlässlich der Weltfestspiele der Jugend in Berlin, wurden durch die Westberliner Polizei Jugendliche, die in Westberlin demonstrierten, in blutige Straßenschlachten verwickelt. Diese Ereignisse gestaltete Schwimmer 1953. Ungenaue und teilweise fehlerhafte Interpretationen, die sich wissenschaftlich geben und unfehlbar scheinen, sind politisch zweckbestimmt, dienen allein dem »hässlichen Regentropfen« leider nicht nur im genannten Buch.
Gerhard Hoffmann
»Sozialistisch sammeln. Die Galerie Neue Meister zur Zeit der DDR«, Herausgeber Staatliche Kunstsammlungen Dresden Birgit Dalbajewa, Simone Fleischer, Gilbert Lupfer, Kathleen Schröter. Verlag Walther König, 192 Seiten, 29,80 €
Der Vorwurf
Kaum zu glauben, was der ehemalige Sachsenhausen-Häftling mir damals berichtete. Er war ins Gesicht geschlagen worden. Von einem jungen, ihm sympathischen sowjetischen Offizier. Von einem seiner Befreier.
Diese Geschichte hat mich mein ganzes erwachsenes Leben nicht losgelassen. Ich erzählte sie einige Male im Freundeskreis und denke, dass es angesichts der Vorfälle in Chemnitz und der erschreckenden Rechts-Entwicklung in Deutschland Zeit ist, sie aufzuschreiben.
Hans Behr hatte vier Jahre bei der Vulkanwerft in Bremen gelernt und dann eine Spezialausbildung zum Schiffsingenieur abgeschlossen. Anfang der dreißiger Jahre gehörte der junge Schiffsoffizier der SPD an und nutzte seine Position, um nach der Machtübernahme der Faschisten 1933 als 25-Jähriger Flugblätter und anderes antifaschistisches Propagandamaterial auf dem Seeweg nach Nazi-Deutschland zu schmuggeln – eine wichtige und gefährliche Arbeit. Anfang 1935 wurde er von der Gestapo verhaftet, landete zuerst im Zuchthaus, dann im Konzentrationslager Sachsenhausen – für insgesamt zehn Jahre. Bei seiner Befreiung war er 37 Jahre alt und krank.
Im KZ war er zum Kommunisten geworden, trat dann der KPD bei, war deren Vorsitzender in Verden an der Aller bei Bremen. Er wurde mein zweiter Vater. Der kluge und geduldige Genosse war ein wunderbarer, verständnisvoller Partner für den Heranwachsenden.
Seine Geschichte erzählte er mir Anfang der fünfziger Jahre. Das Erlebnis nach seiner Befreiung hatte ihn bewegt, ihn immer beschäftigt, und es sei, so betonte er, Ursache für viele seiner politischen Entscheidungen gewesen.
Erklärend fügte Hans hinzu, der Vorfall mit dem Sowjetoffizier habe ihn zuerst furchtbar getroffen, ihn dann aber nachdenklich gemacht, nachdem er versucht hatte, dessen Beweggründe zu verstehen. Das sei ihm dann Antrieb gewesen, den Kampf gegen den Faschismus und die nach Kriegsende überall aus den Löchern kriechenden Verantwortlichen für die Barbarei in das Zentrum seiner politischen Arbeit zu stellen. Die endete 1956 abrupt. Er starb mit 48 Jahren an den Folgen seiner KZ-Haft.
1945 hatte der sowjetische Offizier in Sachsenhausen von Hans Behr in perfektem Deutsch wissen wollen, warum er so viele Jahre eingesperrt gewesen war. Hans erzählte ihm vom Widerstandskampf seiner kleinen Gruppe von Seeleuten gegen die Hitler-Diktatur und von seiner Festnahme. Der Offizier war aufgestanden und stand direkt vor ihm. Dann habe er den Schmerz im Gesicht gespürt.
Aber hat er denn nichts erklärt, wollte ich wissen.
Doch, sagte Hans Behr. Sein Befreier habe ihn lange angeschaut, vielleicht das Unverständnis des ehemaligen Häftlings gespürt und mit veränderter, leiser Stimme einige Wörter und Sätze gemurmelt, die er nicht vergessen könne und wolle: »Weißt du«, sagte der Offizier, »ich habe im Krieg meine ganze Familie verloren. Alle ... Auch ihr Antifaschisten habt euch schuldig gemacht. Warum konntet ihr den Faschismus nicht verhindern? Warum?«
Horst Schäfer
Lesereise nach Bosnien
Seit einem Jahrzehnt lädt der Schriftsteller Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, in Kenia aufgewachsen und auf Deutsch schreibend, also selbst eine Art Weltenwanderer, Jahr für Jahr zweimal zu einer »Lesereise ins Unbekannte« ein. 20 Bände liegen inzwischen vor in dieser »Weltlese«-Reihe der Edition Büchergilde mit Romanen und Erzählungen aus fünf Kontinenten und 17 Ländern. Einige Bände wurden auch in Ossietzky vorgestellt, zuletzt »Die Rache der Mercedes Lima« des guatemaltekischen Schriftstellers A. G. Suárez (siehe Heft 2/2018).
Als Band 20 erschienen jetzt unter dem Titel »Der Jude, der am Sabbat nicht betet« Erzählungen des jüdischen jugoslawischen Schriftstellers Isak Samokovlija aus Bosnien, der 1955 im Alter von 65 Jahren in Sarajewo starb. Er entstammte einer sephardischen Familie, die aus Bulgarien nach Bosnien eingewandert war.
Die Vorfahren der osteuropäischen Sephardim waren 1492/95 von der iberischen Halbinsel vertrieben worden. Die meisten Jüdinnen und Juden flüchteten, um der christlichen Zwangsbekehrung zu entgehen, vor allem nach Nordafrika und in die Balkanländer.
Von Beruf war Samokovlija Arzt. Das veranlasste den serbischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić (»Die Brücke über die Drina«, 1945) später dazu, ihn »unseren Tschechow« zu nennen: weil er wie dieser russische Arzt und Schriftsteller »so erzählt, dass er in die Seelen seiner Figuren eindringt«, wie der zeitgenössische serbische Schriftsteller Dževad Karahasan im Nachwort schreibt.
Die jetzt in der Edition Büchergilde veröffentlichten acht Erzählungen wurden dem 1975 im Aufbau-Verlag erschienenen Band »Die rote Dahlie« entnommen. Sie berichten von einer untergegangenen Welt. Der Bogen reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts, als die Region noch zum Osmanischen Reich gehörte, bis in die 1950er Jahre, als Bosnien ein Teil der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien war. Die Geschichten durchschreiten, wie in dem Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse, »Raum um Raum«, und auch ihnen wohnt ein stiller »Zauber inne«. Mich allerdings erinnern sie weniger an Tschechow als an den anderen großen Chronisten des Ostjudentums und seiner durch Ausgrenzung, Verfolgung und Massenmord vernichteten Welt, an den österreichischen Schriftsteller Joseph Roth.
Klaus Nilius
Isak Samokovlija: »Der Jude, der am Sabbat nicht betet«, herausgegeben von Ilija Trojanow, aus dem Serbokroatischen von Werner Creutziger sowie Waltraud und Manfred Jähnichen, Nachwort von Dževad Karahasan, Edition Büchergilde, 320 Seiten, 25 €
Zuschrift an die Lokalpresse
Endlich gibt es ein neues, die sensiblen Berliner leidenschaftlich bewegendes Medienthema! Nachdem die Maaßen-Missverständnisse, die ersten Schulwochen mit Kurz- und Quereinsteigern, das Gerangel um die GroKo und die Berichte über die Bemühungen katholischer Geistlicher um eine engere Körpernähe zu ihren Gläubigern zwar noch nicht abgearbeitet, aber entschärft sind, kommt ein neues Desaster auf das hauptstädtische Problemtablett, und das provoziert geradezu erbitterte Auseinandersetzungen: der Signalton in den Berliner S-Bahnen vor dem automatischen Türenschließen. Ich hätte eher gedacht, die Berliner freuen sich über die Vorstellung eines neuen S-Bahn-Typs, nachdem immer wieder über den Ausfall, die Unpünktlichkeit oder den Fahrermangel herumgenölt worden ist – aber das scheint nicht entscheidend zu sein. Entscheidend ist die neue Komposition des Türschließ-Klanges. Sie liegt sowohl den legalen Fahrgästen als auch den kriminellen Beförderungserschleichern (offizielle Terminologie) mehr am Herzen und im Ohr als das Glockengeläut der Dreifaltigkeitskirche oder das Signalgetöse der Feuerwehr. Der Da-dü-da-Dreiklang ist ein Stück Tradition, und Traditionen gehören zur Berliner Lebensart! Nun wird nichts weiter übrig bleiben, als eine große Volksbefragung mit genehmigten Demonstrationen und anschließender geheimer Abstimmung einzuläuten, denn der Ton macht nicht nur die Musik, sondern auch die Demokratie – das ist ja aus Bundestagssitzungen hinlänglich bekannt. Ehrenamtliche Helfer werden gesucht, und ich bin gern dazu bereit, mich einzubringen. Dazu vorab schon mal drei Gedanken: Könnte man mehrere Varianten vorgeben und die Teilnehmer am öffentlichen Verkehr selbst entscheiden lassen? Könnte man die Schließtöne nach Strecken variieren? Oder sollte man die Fahrpatienten die Tür mit dem Handy oder der App individuell bedienen lassen? – Helmuth Durchblick (72), Inhaber des Tickets »65 plus«, 13069 Berlin, Kleingartenanlage »Freies Land«
Wolfgang Helfritsch