Seit 70 Jahren geht das nun so – immer wieder heißt es, in Deutschland sei kein Platz für Antisemitismus, aber immer wieder kommt es zu antijüdischen Übergriffen, wie jetzt in Halle. »Wir werden jeden Antisemitismus bekämpfen«, versicherte Konrad Adenauer am 11. November 1949 gegenüber der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, »nicht nur weil er uns innen- und außenpolitisch unerwünscht ist, sondern weil wir ihn aus Gründen der Menschlichkeit mit aller Entschiedenheit ablehnen. Wir werden die Juden gegen jede Möglichkeit neuer Verfolgungen sichern.«
Das sahen die Sicherheitsbehörden in Halle allem Anschein nach nicht so eng. Dass die Synagoge an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, sei skandalös, sagte der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster. Aber wie das so ist – wer die Abkehr der Deutschen vom Antisemitismus anzweifelte, wurde als national unzuverlässig hingestellt, so auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der 1963 auf die Frage einer dänischen Zeitung, wie es die Deutschen mit den Juden hielten, geantwortet hatte, der Hass sei immer noch der gleiche.
Dass der Antisemitismus etwas mit dem Fortleben nazistischer Einstellungen zu tun haben könnte, war und ist nicht überall geläufig. Als die Synagoge in Düsseldorf zehn Jahre nach Adenauers vollmundigem Versprechen mit Hakenkreuzen beschmiert wurde, suchte die Polizei die Schuldigen nicht in rechtsradikalen Kreisen, sondern nahm einen jungen Kommunisten als mutmaßlichen Täter fest. Der nordrhein-westfälische Innenminister Dufhues (CDU) behauptete, es seien »bestimmte politische Kräfte am Werk«, denen an einer Schädigung des deutschen Ansehens im Ausland gelegen sei. Zehn Monate dauerte es bis zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den zu Unrecht Verdächtigten. Die wahren Täter wurden nie ermittelt.
Ähnliches spielte sich ab, als 2011 die Mordserie einer rechtextremistischen Gruppe aufflog, die im Laufe von sechs Jahren zehn Menschen zumeist ausländischer Herkunft ermordete. Die Täter wurden nicht in der rechtsextremistischen Szene gesucht, sondern im Umfeld und sogar bei den Familien der Opfer. Der bis heute nicht aufgearbeitete Skandal um die NSU-Morde gedieh auf demselben Boden, auf dem die Anschläge gegen jüdische Einrichtungen seit jeher gedeihen. Obwohl inzwischen ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland ausländische Wurzeln hat, insgesamt sind das mehr als 20 Millionen Menschen, gibt es – wie Umfragen immer wieder ergeben – bei genauso vielen tief sitzende Ressentiments gegenüber den Juden.
Sechs Jahre nach der Kapitulation des Naziregimes wollte der amerikanische Hochkommissar John McCloy wissen, ob sich die Haltung der Deutschen gegenüber den Überlebenden des Massenmordes an den Juden geändert hat. Die Ergebnisse einer entsprechenden Umfrage deutscher Institute waren ernüchternd. 17 Prozent der Befragten meinten, die Juden hätten das geringste Recht auf Hilfe. Für McCloy war die Haltung Deutschlands gegenüber den Juden angesichts der ungeheuren Schuld, die das deutsche Volk ihnen gegenüber trage, die »Zentralfrage der inneren Reinigung, mit der diese steht und fällt«. Die Katharsis hat nie stattgefunden.
Im Grunde hat sich bis heute nichts geändert. Jeder fünfte Deutsche hängt rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Denkweisen an. Sie zu bedienen kann der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht bekommen. Zu viel ist geschehen in den Jahren seit Deutschlands Aufstieg zu neuer Größe und dem Erstarken der Rechtspopulisten, als dass den vielen schönen Worten nicht endlich Taten folgen müssten. Einmal im Jahr der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken reicht nicht. Das Thema gehört als Pflichtfach in den Schulunterricht. Die Mahnung des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi steht im Raum: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.«