Wie beginnt Krieg? Vielleicht so: Im Juni legten die USA militärische Computersysteme des Iran lahm. Das Internetportal German Foreign Policy berichtete (24.6.2019), Washington habe die Vollmachten des U.S. Cyber Command erweitert; jetzt dürfe auch die Stromversorgung feindlicher Staaten unterbrochen werden. Schon 2010 konnte der Iran einen Computerangriff auf seine Atomanlagen mit dem Virus Stuxnet aufdecken, das nach übereinstimmenden Angaben von Experten und Insidern von den USA und Israel gegen Iran eingesetzt worden war.
Von internationalen Rüstungskonzernen gesponsert, trafen sich kürzlich hochrangige NATO-Militärs, Politiker sowie Rüstungsindustrielle zu einer Konferenz in Kalkar, »um den kombinierten Einsatz aller Waffengattungen auf allen Ebenen der Kriegsführung – von Angriffen im Internet, also dem Cyberkrieg, bis zum Krieg aus dem und im Weltraum« zu planen (junge Welt, 28.9.2019). Die Essener Friedensbewegung protestierte unter dem Motto »Friedensperspektiven statt Kriegsplanung« gegen den Kongress.
Die Bundeswehr rüstet auf – auch für den Cyberkrieg. Zu den Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe zählt jetzt auch »Cyber«, das Internet ist militärisches Operationsgebiet. Seit April 2018 arbeitet das Zentrum für Cyber-Operationen (ZCO) daran, eine »erfolgreiche und bedrohungsgerechte Auftragserfüllung der Bundeswehr im Zeitalter der Digitalisierung und hybrider Kriegsführung« zu gewährleisten, wie im Internetportal der Bundeswehr zu lesen ist. Das deutsche Militär beteiligte sich auch am NATO-Manöver »Locked Shields«: Laut Übungsplan war die Chlorzufuhr in den Wasserwerken mit Hilfe eines Schadprogramms manipuliert worden, um das Trinkwasser zu vergiften. Und da der Feind mit Fake News in den sozialen Netzwerken die Bevölkerung verwirrte, sollte er durch geeignete Gegeninformationen bekämpft werden.
Wann also beginnt Krieg? Als Warnung an den russischen Präsidenten Putin verstärkten die USA ihre Manipulation der Stromnetze Russlands – so berichtete die New York Times. Unter US-Präsident Trump seien solche Aktionen zur Vorbereitung von Sabotage ausgebaut worden (heise online, 16.6.2019). Der Cyberkrieg bleibt aber kein »Privileg« der Großmächte. Cyberaufrüstung betreiben inzwischen etwa 100 Staaten. Sie alle befassen sich mit der Kriegsführung mithilfe der Informations- und Kommunikationstechnik, mit der Software als Waffe.
In einer Broschüre der Informationsstelle Militarisierung IMI (»Krieg im Informationsraum«, auch kostenlos als PDF) beschreibt Hans-Jörg Kreowski, wie mit Schadsoftware (Viren, Würmer und Trojaner) Spionage, Propaganda und Manipulation betrieben wird, Computersysteme umfunktioniert und lahmgelegt und ganze Anlagen ferngesteuert oder zerstört werden können. Die »Vorteile« der IT-Kriegsführung sind offensichtlich: Sie ist billig, lässt kaum Rückschlüsse auf die Urheber zu, schont eigene Kräfte. Damit begünstigt sie auch Angriffe unterhalb der offenen Kriegsschwelle. Und: Angriffen unter »falscher Flagge« sind Tür und Tor geöffnet. Immer wieder wird etwa Russland beweislos der Cyberattacken beschuldigt, ohne die Frage zu stellen, welche Mächte ein Interesse haben, das Feindbild Russland durch »False Flag«-Aktionen zu pflegen (vgl. dazu Ralph Hartmann in Ossietzky 21/2018).
Angriffe zielen nicht nur auf militärische Anlagen, sondern auf die Grundversorgung der Bevölkerung: auf Wasser- und Energieversorgung, Verkehr, Verwaltung, Krankenhäuser. Wann jemals hat Kriegsführung auf die Bedürfnisse, die Sorgen und auf das Leben der Menschen Rücksicht genommen? Nach der Genfer Konvention müssten Cyberwaffen verboten werden – zumindest in ihrer offensiven Verwendung. Aber was kümmert Bundeswehr und Bundesregierung das humanitäre Völkerrecht bei der Aufrüstung? Offen preisen sie die Angriffsfähigkeit: »Offensive Cyber-Fähigkeiten der Bundeswehr haben grundsätzlich das Potenzial, das Wirkspektrum der Bundeswehr in multinationalen Einsätzen signifikant zu erweitern.« (BMVg, 16.4.2015, veröffentlicht von Netzpolitik.org) Wie gedenken Politiker und Militärs, bei geheimen Cyberoperationen dem Parlamentsvorbehalt gerecht zu werden? Offensichtlich gar nicht.
NATO und EU im Info-Krieg
Jede Aufrüstung, jeder Krieg benötigt ein klares Feindbild und eine effektive Strategie zur Beeinflussung der Bevölkerung. So auch der Cyberkrieg. Das Feindbild Russland und Putin bauen Politiker und Medien seit Jahren auf, hämmern es geradezu ein. Jürgen Wagner von IMI zitiert in der erwähnten Broschüre aus einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: »Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben […], dass der derzeitige Konflikt mit Russland von vorübergehender Dauer sei. […] In seinem Krieg gegen den Westen greift Russland auf verschiedene Instrumente zurück.« (Russland führt Krieg gegen uns? Die hetzerische Sprache dient der eigenen Kriegsvorbereitung.) Das Ziel sei, mit Mitteln der virtuellen Kriegsführung »das Vertrauen der westlichen Gesellschaft in die eigenen Institutionen und politischen zu untergraben«. Mit dem Arsenal der »hybriden Kriegsführung«, vor allem mit Propaganda und aggressiven Cyberattacken versuche Russland, politische Prozesse hierzulande zu beeinflussen. Das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in Politik und reale Demokratie: nur Ergebnis feindlicher Propaganda?
Der angebliche russische Cyberkrieg dient dem Westen als Argument für Gegenmaßnahmen: Die Bundesakademie hält die Förderung von Initiativen und der Zivilgesellschaft in Russland für notwendig. Nicht ein direkter Regimewechsel, wohl aber die »Entstehung alternativer politischer Eliten in Russland« ist das Ziel. Dafür müssen kreative technologische und rechtliche Lösungen angestrebt werden. Konnten wir solche Aktivitäten des Westens nicht bereits in Ländern wie Venezuela und der Ukraine verfolgen? Allem Anschein nach bedienen sich die Westmächte beim Kampf gegen »hybride Bedrohungen« – so das neue Schlagwort des Militärs – genau der Mittel, die dem »Feind« angelastet werden. Der Kampf um die Deutungshoheit ist ein entscheidender Teil der Strategie des Cyberkrieges. Aber selbstverständlich werden hybride Bedrohungen wie »massive Desinformationskampagnen unter Verwendung sozialer Medien zur Kontrolle politischer Narrative oder zur Radikalisierung ...« nur beim Feind ausgemacht.
Das westliche Militärbündnis will in den Köpfen die Kernbotschaft die Kernbotschaft verankern, es bekämpfe die wirklich bösen Menschen, die die Menschenrechte verletzen, wie es in einer NATO-Studie heißt. Hier kommt deutlich die Tendenz zum Vorschein, die Norman Paech in seinem Buch »Menschenrechte« (PapyRossa, 2019) so charakterisiert: »Unter dem humanitären Mantel des Menschenrechtsengagements kommt allzu deutlich der nackte Kampf um geopolitische Vorteile zum Vorschein« – Menschenrechte im Dienste des Krieges. Und der Informationskrieg muss auch an der Heimatfront geführt werden. Die Geheimdienste in der EU müssen, wie Wagner beschreibt, Daten darüber sammeln, wer Propaganda des Feindes konsumiert; diese erkennt man daran, dass sie staatliche Interessen zu untergraben sucht. In diesem Sinn ist es folgerichtig, wenn die Tageszeitung junge Welt vom Verfassungsschutz beobachtet wird und das Nachrichtenportal Russia Today sich ständig des Propagandavorwurfs erwehren muss.
Viele fordern: Der eskalierende Cyber- und Informationskrieg ist zu ächten, denn er verstößt gegen das Völkerrecht, die UN-Charta und selbst gegen den NATO-Vertrag. Er ist unkontrollierbar und kann im Fall eines verheerenden Cyberangriffs sogar den kollektiven Verteidigungsmechanismus der NATO auslösen. Staaten ist zwar nicht die Abwehr von Cyberangriffen zu verwehren. Es gibt aber keinen Grund, sie dem Militär zu überlassen. Umso mehr, als die Bundeswehr offensive Operationen ganz selbstverständlich zu ihren Aufgaben zählt und das Bundesinnenministerium an einem Gesetzespaket zum »Hackback« arbeitet, also an »aktiver Gefahrenabwehr« – was zahlreiche Initiativen und Fachleute als ebenso sinnlos und gefährlich wie auch für verfassungswidrig halten.
Oberstleutnant John Zimmermann übte im August für den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages (»Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch«) klar Kritik an den Plänen. In seinem von Netzpolitik.org öffentlich gemachten Gutachten heißt es, man könne »unintendierte Schäden« an Zivilisten und zivilen Einrichtungen nicht vermeiden; Wettrüsten und Militarisierung würden »mehr neue Probleme schaffen als bestehende lösen«. Generell sei das »Ziehen von klaren definitorischen Grenzen zwischen Angriff und Verteidigung kaum möglich«. Die Bundeswehr solle sich »auf den defensiven Schutz ihrer Strukturen und Einrichtungen beschränken«.
Die Bundeswehr solle sich »auf den defensiven Schutz ihrer Strukturen und Einrichtungen beschränken«.
Ein kleiner Videobeitrag des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung FIFF fasst im Titel zusammen, worauf es ankommt: »Cyberpeace statt Cyberwar« (s. unter diesem Titel bei youtube). Es gibt wichtige Gründe dafür, Cyberwar genauso zu ächten wie chemische und biologische Waffen. Deutsche Politiker sollten Verantwortung übernehmen und den Cyberwettlauf stoppen sowie Abrüstungsinitiativen unterstützen oder selbst ergreifen.
Der Negativpreis BigBrotherAward 2017 ging an die Bundeswehr und die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, »für die massive digitale Aufrüstung der Bundeswehr mit dem neuen ›Kommando Cyber- und Informationsraum‹ (KdoCIR)«. Die von Rolf Gössner gehaltene Laudatio ist in Ossietzky 10/2017 nachzulesen.