Ohne Vertrauen kein An-Vertrauen. Die Psychotherapie und die Schweigepflicht – sie gehören unbedingt zusammen. Hat irgendjemand das jemals bezweifelt?
1999: Mit Erhalt meiner Approbation als Psychotherapeutin mit tiefenpsychologischer Ausrichtung beginne ich, im Kassensystem zu arbeiten. Zuerst im Jobsharing, seit 2002 mit eigener Kassenzulassung. Mit dem Psychotherapeutengesetz wird eine psychotherapeutische Behandlung 100-prozentige Kassenleistung: eine große Errungenschaft für das Nachkriegsdeutschland, das an den Wunden der Nazidiktatur laboriert.
Ich erlebe tagtäglich, wie bitter notwendig die Aufarbeitung der in uns allen lebendigen Auswirkungen wie Autoritätshörigkeit, Bereitschaft zu Grausamkeit, Gewalt, Abstumpfung, zum Wegsehen, zur schulterzuckenden Akzeptanz von Zwangsmaßnahmen und der sadistischen Freude am Leid anderer ist. Heute vielleicht noch wichtiger denn je!
In einer Psychotherapie erfahren die KlientInnen, wie heilsam es ist, mit einer/m neutralen Unbeteiligten zu sprechen. Mit der vertrauensvollen Beziehung wächst der Mut, die Dinge (wieder) in die eigenen Hände zu nehmen. Der Bedarf ist groß, die Zulassungszahlen steigen, die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind lang.
Bei meinem Klientel geht es häufig um eine Mixtur von: Erschöpfung/Müdigkeit, psychosomatischen Symptomen, Schlafstörungen, Unruhe und Angst, auch bei vermeintlich kleinen Anforderungen zu versagen, fehlendem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, Verlust an Vertrauen in andere, menschlichen Enttäuschungen.
Dauerthemen in den Therapien sind ständige Umstrukturierungen und erhöhter Arbeitsdruck, sinnfreie Verwaltungsanforderungen, digitale Umstellungen und Neueinführungen. Viele, sehr viele KlientInnen haben ihren Beruf vorzeitig verlassen. Viele, sehr viele kommen aus dem Gesundheitswesen.
Und nun rollt die Digitalisierungswelle vermeintlich unaufhaltsam auf das Gesundheitswesen selbst zu!
Telematik-Infrastruktur (TI) ist das sperrige Zauberwort, das den schnellen Austausch von Informationen verheißt: Alle in einem Netz – klingt das nicht nach grenzenlosen Möglichkeiten und kuscheliger Gemeinschaft? Nein, in meinen Ohren klingt es nach Gefangenschaft, ich sehe zappelnde Fische vor mir und all die gestrandeten Erschöpften, die durch meine Praxis getaumelt sind.
Und ich sehe die Schweigepflicht in Gefahr, unser höchstes Gut. Digitale Anbindung heißt: Jederzeit ist Zugriff auf die von mir erhobenen und gespeicherten Daten möglich.
Das Thema geht jede/n an, egal, ob im Gesundheitswesen tätig oder als Versicherte: Künftig werden wir uns nicht mehr entscheiden können, ob die beim Arzt, in der Klinik und bald auch in der Apotheke erhobenen Daten ins Netz kommen: Sie sind und bleiben gespeichert. Die Pharma-, Werbe- und IT-Branchen reiben sich schon die Hände angesichts der ungeahnten Möglichkeiten, schließlich ist der Gesundheitsmarkt Deutschlands größter Wirtschaftsfaktor.
Die digitale Aufrüstung meiner kleinen Praxis mit dem Risiko, dass Daten meiner Klientel unkontrollierbar in das geplante umfassende Netz wandern, war und ist für mich jedenfalls unvorstellbar. Juristisch und technisch bin ich als Praxisinhaberin die Verantwortliche für das, was mit den Daten geschieht. Bitter, wie jüngst die Arztpraxen, die an dem großen Gesundheitsdatenskandal beteiligt waren, an den Pranger gestellt wurden. Die angebliche Sicherheit ist ein einziger Witz, schon angesichts der Vielzahl der Zugriffsberechtigten – von 200.000 angeschlossenen Institutionen ist die Rede. Da soll es keine unwägbaren Sicherheitsrisiken geben? Es wird immer fehlerhaften Umgang mit technischen Systemen geben. Wer das leugnet, ist realitätsfremd. Daten von psychisch Kranken in den falschen Händen? Unverantwortbar.
Ich will nicht mit müden Augen und innerlich angespannt in der Praxis sitzen und gleichzeitig den PatientInnen nahelegen, besser auf ihre Selbstfürsorge zu achten. Wie soll ich ein offenes Ohr behalten für ihre Nöte, wenn ich selbst eine hoch risikoreiche und inhaltlich überflüssige Technik einsetzen soll? Wie soll ich den Rücken stärken für Auseinandersetzungen, wenn ich selber nicht den Mumm habe, Nein zu sagen und für meine Meinung einzutreten?
Wie wollen wir den Klima- und Wertewandel hinkriegen, wenn energieintensive Techniken immer weiter ausgebaut werden? Innehalten, Nachdenken und Verzicht sind das Gebot der Stunde, nicht Wachstum um den Preis unserer schönen Welt. Es wird immer wieder bahnbrechende Erfindungen geben, die sich irgendwann in den Alltag einreihen. Das wird mit der Digitalisierung nicht anders sein. Auch dieser Hype wird abebben.
Bislang kann ich zusichern: Was in der Praxis gesprochen wird, bleibt in der Praxis. Die therapeutische Schweigepflicht schafft einen Schutzraum, in dem auch schwierige, scham- und schuldbesetzte Themen und Gefühle Platz haben. Ich habe keinen Internetanschluss in der Praxis. Wozu auch? Ich habe trotz eindringlichen Fragens und viel Lektüre noch kein einziges Argument gefunden, das mich vom Vorteil der TI-Einführung in meiner Praxis überzeugt.
Auf mich kämen nur nutzlose Mehrarbeit und gefährliche Risiken zu. Ganz zu schweigen von den Kosten. Ich betrachte es als Verrat an der Versichertengemeinschaft, dass ihre Gelder in Milliardenhöhe in die TI fließen, ohne dass darüber informiert und umfassend diskutiert wurde. Geld, das für die Behandlungen fehlen wird. Und dass wir BehandlerInnen nicht einbezogen wurden und werden in Entscheidungen, die unsere Arbeit in ihrem Kern treffen, empört mich immens.
Aber: Wie wehren gegen die Zwangsanbindung? Das erste, wichtigste und naheliegende ist: beim Nein bleiben. Die Zahlen sind ungenau, aber zwischen 20 und 50 Prozent der BehandlerInnen nehmen Honorarabschläge in Kauf und verweigern den Anschluss. Viele, die sich zunächst haben anschließen lassen, haben es mit Bauchweh getan und stehen nicht dahinter. ÄrztInnen wie ZahnärztInnen wie TherapeutInnen. Stecker ziehen geht zwar noch, aber die Kosten werden im Fall eines Rückzugs wohl bei den BestellerInnen hängenbleiben. Im Schnitt über 3000 Euro pro Anschluss.
Angst, irgendwann abgehängt zu werden oder die Zulassung zu verlieren, habe ich nicht. Wir werden gebraucht, das Gesundheitswesen ächzt unter dem Exodus der qualifizierten Kräfte.
Entscheidend für den weiteren Widerstand ist unser persönliches Engagement. Die Kritiker der Digitalisierung schließen sich derzeit zusammen, es existieren Listen mit Verweigerern: https://kollegennetzwerk-psychotherapie.de/telematikgegner. Im Kollegennetzwerk Psychotherapie informiert ein wöchentlicher Newsletter über den aktuellen Stand der Dinge: newsletter@kollegennetzwerk-psychotherapie.de
Und zum guten Schluss zwei ganz aktuelle, konkrete Möglichkeiten des Handelns: www.gesundheitsdaten-in-gefahr.de/ sammelt bis Ende Oktober Unterschriften für eine Bundestagspetition, www.umfrage-patientenakte.de/ untersucht den Kenntnisstand zur elektronischen Patientenakte und die Einstellung zur Digitalisierung des Gesundheitswesens.
Am 30. November wird es ein Vernetzungstreffen aller Initiativen der TI-GegnerInnen in Frankfurt am Main geben. Weite Informationen siehe unter: https://ddrm.de/vernetzungstreffen-der-kritikerinnen-der-zwangs-digitalisierung-im-gesundheitswesen-am-30-november-in-frankfurt/. Am 26. Oktober hält Hildegard Huschka einen Vortrag auf dem DDPP-Symposium in Berlin mit dem Titel »Ikaria«. Tagungsthema ist »Manie«. Näheres unter: www.ddpp.eu/.