»Jeder von euch weiß, worum es in diesen Sturmestagen unseres Volkes geht, und jeder sieht bei diesem Einsatz vor sich das leuchtende Vorbild eines wahrhaften Kämpfers, unseres Führers und Obersten Befehlshabers, des ersten und tapfersten Soldaten des Großdeutschen Reiches, der sich nunmehr bei euch an der Kampffront befindet.« Der Satz entstammt dem Anfang September 1939 an die deutschen Wehrmachtssoldaten gerichteten Aufruf des katholischen Feldbischofs Franz Justus Rarkowski, den der apostolische Nuntius unter Assistenz der Bischöfe von Münster und Berlin, Clemens August Graf von Galen und Konrad Graf von Preysing, am 20. Februar 1939 in der Berliner Sankt-Hedwigs-Kathedrale zum Bischof geweiht hatte.
Vor wenigen Wochen, am 1. September, war es auf den Tag genau siebzig Jahre her, daß der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann. Die zeitliche Entfernung besagt, daß das Ereignis aus der Zeitgeschichte herausrückt. In wenigen Jahren wird niemand mehr am Leben sein, der sich des Tages, der zu den folgenschwersten des 20. Jahrhunderts gehört, aus Eigenem noch zu erinnern vermag. Die Tage des mehr als fünfjährigen Krieges sind gezählt, die Zahl der Millionen Toten annähernd ermittelt. Geschichtsforscher vieler Sprachen und mehrerer Generationen haben seinen Fährten nachgespürt, Geschichte und Vorgeschichte des Krieges untersucht. Die daraus hervorgegangene Literatur füllt Bibliotheken. Seit langem schon reicht ein Menschenleben nicht aus, auch nur die Resultate dieser Arbeit im Ganzen zur Kenntnis zu nehmen. Niemand vermag diesem Geschehen in allen seinen Verästelungen und Verzweigungen zu folgen, selbst wenn er alt würde wie Methusalem. Doch jedem Denkbegabten ist es gegeben, daraus Antworten auf die Kernfragen zu gewinnen, die noch an jeden Krieg zu stellen waren: Welchen Widersprüchen und daraus erwachsenen Konflikten ist er entsprungen? Wessen Interessen und Kräfte haben ihn hervorgebracht? Mit welchen Zielen wurde er geführt, und wie verhalten sich dazu seine Ergebnisse? Wie alle Beschäftigung mit der Geschichte, will sie nicht vernebeln oder bloß unterhalten, mündet auch diese in die Frage »Warum«.
Daran gemessen, könnte dieser 70. Jahrestag als Beweis dafür angesehen werden, daß Geschichtsforschung in Deutschland entweder nicht stattfindet oder, wenn doch, ihre Resultate nicht in jene (nicht nur Fernseh-)Kanäle gelangen, durch die sie hindurch müssen, um beträchtliche Teile der Bevölkerung zu erreichen.
Was den Deutschen am 1. September 2009 wieder angeboten wurde, verdient die Bezeichnung Schonkost, freilich in einem besonderen Sinne, denn es sollten nicht diejenigen geschont werden, denen sie verabreicht wurde, sondern jene gesellschaftlichen Zustände, aus denen der Krieg hervorgegangen war und denen wir bei aller Veränderung doch nicht entronnen sind. Im Angebot ist: Der Ursprung des Krieges lag in Hitlers (oder auch: im nationalsozialistischen) Wahn; von ihm gepackt, haben die Deutschen die Welt überfallen. Das gibt und präsentiert sich als nationale Selbstkritik: »Wir Deutsche« lassen uns von niemanden in unserer von Generation zu Generation als Erbe weitergegebenen Betroffenheit übertreffen.
In diesem Jahr hat der 1. September freilich nicht so richtig in unser Erinnerungsprogramm hineinpassen wollen. Wir sind mit der Vorbereitung auf einen anderen Tag vollbeschäftigt. Da traf es sich gut, daß unsere neuen polnischen Freunde sich der Sache annahmen und das einstige Danzig zum zentralen Gedenkort erklärten. Und es traf sich doppelt gut, weil von ihnen und ihren Gästen schmerzende Analysen und Bezüge nicht zu erwarten waren. Die Annahme erwies sich als berechtigt: Wenn von Deutschland und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs geredet wurde, dann geschah das durch jedermann in einer gleichsam volksgemeinschaftlichen Perspektive, an der auch der Führer seine Freude gehabt hätte – wie auch an der dort erhobenen Forderung nach einer Geschichtsbetrachtung, »die gegen niemanden verwendet« werden könne.
Veranstaltet wurde im Hinblick auf die Rolle des Naziregimes so etwas wie ein historischer Eintopfsonntag. Diese Geschichtsbetrachtung kennt, so sehr sich deren berufsmäßige Jünger darauf etwas zu gute halten, keine Differenzierung. Das gipfelte in dem Stereotyp, das der Spiegel für seine Aufmachung wählte: »Der Krieg der Deutschen – 1939: Als ein Volk die Welt überfiel«. Einzig die Vorsitzenden der beiden katholischen Bischofskonferenzen in Deutschland und Polen bestanden auf einer Unterscheidung – zu ihren Gunsten. Sie erwähnten ihre Märtyrer. Und sie verschwiegen ihre strammen Parteigänger der deutschen Eroberer wie den katholischen Feldbischof Franz Justus Rarkowski, der die nach Osten einfallenden Heere segnete. So verfuhren sie in einer Erklärung, welche zudem »die geschichtliche Wahrheit in allen ihren Aspekten« einfordert«, und das unter Berufung auf das in Johannes 8, 32 den Juden gegebene Versprechen »... und die Wahrheit wird euch frei machen«. Indessen blieb es dabei: Kein Wort über das Schweigen des deutschen Episkopats zur Ausrottungspolitik gegenüber den nationalpolnisch gesinnten katholischen Geistlichen, Teil der Intelligenz des Landes.
Und ansonsten? Reden vieler von dunkler Zeit und dem tragischen Kapitel, von Greueln und Leiden, vom Gedenken, Nichtvergessen und Verneigen, von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, von Aufrichtigkeit und Versöhnung, vom nach vorn und in die Zukunft Schauen – Worte, über die sich, jedes für sich genommen, lange nachdenken läßt und die in ihrer Wiederholung und inflationären Häufung doch nur Speiübelkeit erzeugen können. Forderungen, die nicht eingelöst werden, Beteuerungen statt Erkenntnissen.
»Deutschlands Verantwortung« stand »am Anfang von allem«, falls sich darunter jemand etwas Konkretes vorstellen kann. Dieses Bekenntnis stammt aus der Danziger Rede der Bundeskanzlerin.
Doch es wurde nicht nur geschwafelt und gesalbadert. Zwei Tendenzen treten aus der diesjährigen Geschichtskampagne zum 1. September 1939 hervor und sollten in Details nicht untergehen. Die eine äußerte sich in den konzentrierten Anstrengungen, der Sowjetunion die Hälfte der Kriegsschuld zuzuschreiben, ein Vorhaben, das durch die Verweigerung der russischen Politik und Historiographie erleichtert wird, sich von einer bloß moralischen Verurteilung von Stalins Außenpolitik, die obendrein mit Rechtfertigungen untermischt wird, zu einer uneingeschränkten historischen Kritik durchzuarbeiten. Daraus ziehen alle ihren Nutzen, die hierzulande bis auf den heutigen Tag leugnen, daß es im Jahre 1939 nur einen Kriegsinteressenten in Europa gab: den faschistischen deutschen Imperialismus.
Die andere Tendenz, und die sich in ihr ausdrückende Absicht reicht weit, betrifft eine neue Verortung des Endes der Zweiten Weltkriegs, des 8. Mai 1945, in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Tag wird zu einem Teilschritt in das Reich der Freiheit herabgestuft. Die Sprache der Bischöfe vom 25. August 2009 sagt das so: Das »Glück«, auch das der Deutschen, sei bei Kriegsende sehr unterschiedlich verteilt gewesen. Ganz sei es allen Europäern erst 1989 zu teil geworden. Sein Hereinbrechen wird auf den Moment datiert, da die DDR die Kontrolle ihrer Grenzen aufgab. Es fällt nicht schwer, diesen Ansatz weiterzudenken und jenes kontinentale Geschichtsbild sich vorzustellen, in dessen Zentrum Germania den Europäern nicht das Schwert zeigt, sondern ihnen die Freiheitsfahne voranträgt, Glücksbringerin mit Führungsanspruch. Das wird der Rest der nichtdeutschen Europäer so nicht akzeptieren? Gewiß nicht. Aber darauf kommt es auch nicht an. Gezielt wird auf den Bundesbürger und sein Selbstverständnis. »Und es mag am deutschen Wesen ...« und so weiter (Emanuel Geibel).