Der erste schwere Herbststurm ist über uns hinweggezogen und hat einen Teil seiner reichen Beute in unsere Kleingartenanlage geworfen: einen Birnbaum, viele abgerissene Äste und Unmengen frisches Laub, dazwischen Fetzen von Dachpappe. Das ganze Quartier hat geholfen, aufzuräumen und die Schäden zu beseitigen. Nun sitzen wir beim Nachbarn im Büdchen, trinken Kaffee aus der Thermoskanne. Und wie kaum anders zu erwarten, kommt das Gespräch unter Laubenpiepern nach der Diskussion der Gemeinschaftsarbeit wieder auf die Politik, diesmal auf die Bundestagswahl. »Jetzt werden wir soziale Kälte erleben«, sagt mein Parzellennachbar Bernd, der Sozialdemokrat, und zählt die wahrscheinlichen Froster auf: Steuererhöhungen, noch mehr Sozialabbau, Inflation. Berechtigte Befürchtungen, begründete Sorgen.
Mir aber geht beim Thema »soziale Kälte« etwas anderes durch den Sinn: »Ich mach euch einen Vorschlag. Lehnt euch mal zurück und schließt die Augen. Laßt euch von unserm Herbststurm gedanklich nach Afghanistan tragen, in eine Position einige hundert Meter über einem sandigen Flußbett bei Kundus. Unter euch – seht ihr ´s? – stecken zwei der NATO geraubte Tanklastzüge bis tief über die Achsen fest. Sie wären nur mit schwerem Bergegerät wieder flott zu nachen. Die Räuber haben Dörfler aus der Nachbarschaft gerufen: ›Nehmt euch, was ihr tragen könnt, bald kommen die Deutschen und holen sich ihre Laster zurück!‹ Männer, Frauen und Kinder wuseln um die Fahrzeuge und zapfen Treibstoff ab, willkommenes Heizmaterial. Was ihr, Nachbarn, euch jetzt in Gedanken ausmalt, das sah auch der Bundeswehroberst Klein, aber auf gestochen scharfen Bildern, in Echtzeit übermittelt von den deutschen Spähsatelliten über dem Kriegsgebiet. Laßt eure Augen zu! Der Oberst schickt nun keine Soldaten mit einem Bergepanzer, er schickt überhaupt keine Bodentruppen, weil er seine Mannschaft zum Schutz ihres Lagers zu benötigen meint. Er fordert vielmehr US-Jagdbomber an, und trotz wiederholter Warnhinweise der Piloten, da unten seien viele Zivilisten zu sehen (die sieht der Oberst auf den Satellitenfilmen ja selbst), befiehlt er, die Tanklaster zu bombardieren. Eine Detonation. Ein riesiger Feuerball, eine heftige Druckwelle. Und von einer Sekunde zur nächsten bleiben von mehr als hundert Menschen nur noch verkohlte Leichenteile, hunderte weitere Dörfler sind verstümmelt.«
Schweigen, keiner weiß so recht, was er sagen soll. »Schlimm, furchtbar, freilich,« sagt einer dann bedrückt. »Aber was hat das mit dem Thema Soziale Kälte zu tun?«
Das erklärt mein Freund Armin besser, als ich es könnte: »Mehrere Wochen ist das Bombardement jetzt her. Habt ihr seither auch nur ein einziges aufrichtig klingendes Wort der Bestürzung von Kriegsministers Jung und von Kanzlerin Merkel zu dem Massaker gehört? Ein einziges Wort über ein umfassendes Sofortprogramm, um wenigstens die allerbeste medizinische Versorgung der Verwundeten und Verstümmelten zu garantieren? Ein einziges Wort über Hilfe für die Hinterbliebenen der Toten und die Angehörigen der Verstümmelten? Ein einziges Wort über ein Programm zur Unterstützung und Entwicklung der schwer getroffenen Dorfgemeinschaft, aus der die Opfer stammten? Habt ihr irgend ein ernsthaftes, nachdrücklich reuiges Bemühen um Ausgleich bemerkt, um sogenannte ›Wiedergutmachung‹? Nein? Ich auch nicht! Was haben wir stattdessen vernommen? Nur die an Dreistigkeit nicht zu überbietenden, verlogenen Darstellungen unseres Kriegsministers, sogar dann noch, als das Massaker an der Zivilbevölkerung längst offenkundig war. Die Kanzlerin vermied das Thema ohnehin gänzlich und angestrengt, zugunsten ihrer Wahlkampfziele. Die meisten Medien verzichteten auf Folgeberichterstattung. Das nenne ich soziale Kälte!«
Keiner der Nachbarn mag dem widersprechen. Gegen den Krieg in Afghanistan sind alle, am Eingang unserer Schrebergartenanlage weht nicht von ungefähr die Friedensfahne.
Armin aber weist auf ökonomische Zusammenhänge hin:
»Euch muß ich nicht mehr erklären, daß unsere Mittäterschaft im Afghanistan-Krieg grundgesetz- und völkerrechtswidrig ist, verbrecherisch, mörderisch! Daß Afghanistan Schlachtopfer geopolitischer Interessen ist. Doch die werden in der Öffentlichkeit selten benannt. Und nie wird erwähnt, welchen Nutzen unsere Rüstungsindustrie aus dem Krieg zieht. Darüber lesen wir in unserem regionalen Monopolblatt, den Lübecker Nachrichten, so wenig wie in der Bild-Zeitung, und auch ARD-Tagesschau und ZDF-heute schweigen darüber. Die deutschen Rüstungsgeschäfte und ihre öffentliche Nichtbeachtung, dieses Desinteresse, diese Teilnahmslosigkeit, diese Gleichgültigkeit offenbaren eine ›Soziale Kälte‹, die über Hartz IV und fortgesetzten Sozialabbau im Inland weit hinausreicht.«
Ich habe einige Daten parat, die ich den Nachbarn gern noch mitgeben will, solange sie die Geduld aufbringen, Armin und mir zuzuhören: »Wie das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) in seinem Jahrbuch 2009 mitteilt, sind die Militärausgaben weltweit auf die unvorstellbare Summe von 1.464 Billionen US-Dollar geklettert, Finanzkrise hin, Finanzkrise her. Am internationalen Waffenexportgeschäft sind die USA mit einem Drittel beteiligt, Rußland mit einem Viertel, und dann folgt schon Deutschland mit zehn Prozent Anteil am Weltmarkt. Es wären noch höhere Anteile anzugeben, wenn nicht viele Waffen des Produzentenverbundes Deutschland-Frankreich-Italien-Spanien-Großbritannien zwar hierzulande hergestellt, jedoch über Rom, London oder Paris ausgeliefert würden. Deutschland darf Panzer, Kanonen, Jagdbomber und Fregatten nicht in Spannungsgebiete verkaufen, das deutsche Recht verbietet es. Durch seinen verlogenen Umgang mit den eigenen gesetzlichen Verboten (›verbündete‹ Nationen, zum Beispiel Israel oder auch die Saudis, werden vom Lieferverbot ausgenommen) dürfte Deutschland nicht nur unangefochten drittgrößter Waffenexporteur der Welt sein, sondern noch wesentlich größeren Profit beim Verkauf seines Mordwerkzeugs gemacht haben als die von SIPRI errechneten 8,7 Milliarden Euro. Das, liebe Nachbarn, demonstriert unsere Soziale Kälte!«
Aber nun wollen die Nachbarn nicht mehr »politisieren«, sondern lieber restliche Spuren des Herbststurmes in ihren Parzellen beseitigen. Ich hätte sonst gern nachgeschoben, daß die deutschen Militärausgaben (jetzt 47 Milliarden Euro) in den vergangenen Jahren immer noch weiter gewachsen sind – pervers, da wir doch von befreundeten Nationen umgeben sind und unsern Frieden viel billiger sichern könnten. Undiskutiert blieb auch, welches Mordwerkzeug uns auf Platz drei der Waffenhändler katapultiert hatte: Flugzeuge, Panzer, Kanonen und Gewehre, vor allem aber Tarnkappen-Fregatten und U-Boote. Einer der wichtigsten Kunden ist Israel.
Tags darauf sitzen wir wieder in meiner Laubenveranda zusammen, ich serviere ein Nachmittagsbierchen und kann den Gesprächsfaden leicht aufnehmen. Denn Israel will, wie die Nachrichtenagentur reuters eben meldete, bei HDW in Kiel ein weiteres atomwaffenfähiges U-Boot der »Dolphin«-Klasse bestellen, verlangt aber, daß auch diesmal wieder der deutsche Staat mitzahlt.
»Ja, liebe Nachbarn: Israel will sich seine Aufträge an deutsche Firmen teilweise aus der deutschen Staatskasse bezahlen lassen – ein Land, das über mehr als 200 Atomsprengköpfe verfügt und sich beharrlich weigert, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Am 19. September hat es die x-te entsprechende Aufforderung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) erneut zurückgewiesen. Seit Jahrzehnten widersetzt es sich auch allen Resolutionen der UNO, geraubtes Land an die palästinensischen Eigentümer zurückzugeben, statt dessen stiehlt es immer noch mehr Land. Anfang dieses Jahres hat es ein Blutbad im Gaza-Streifen angerichtet, und jetzt wehrt sich die Regierung in Jerusalem mit Händen und Füßen gegen die Veröffentlichung des Berichts, den die UNO in Gaza von einer unabhängigen Juristenkommission unter Leitung des südafrikanischen Richters Goldstone hat einholen lassen. Aber kein Journalist, erst recht kein Politiker hierzulande kam je auf die Idee, ein Waffen- und Wirtschaftsembargo gegen Israel zu fordern. Keiner hat je gedroht, man behalte sich militärische Schritte vor, wenn Israel sich nicht endlich den Kontrollen der IAEO unterwerfe. Im Gegenteil: Ein inniges Verhältnis zwischen Aggressoren haben wir zu bewundern. Derart innig, daß die Regierung in Jerusalem abermals wagt, von Deutschland Kostenbeteiligung für ein Atom-U-Boot zu fordern! Und kein Aufschrei geht durch unser Land.«
Bernd will es genauer wissen. Ich hole den Laptop aus dem Haus und suche im Internet: U 212 ist der modernste U-Boot-Typ der Welt: Wasserstoff-Brennzellen-Antrieb, tauglich für wochenlange Tauchfahrten. Tarnkappengleich geschützt gegen Ortung durch Unterwasser-Radar und -Sonar. Laut des internationalen Waffen-Fachblatts Jane´s Defence Weekly kann das getauchte U 212 aus bis zu zehn Rohren Torpedos mit einem Durchmesser von mehr als 56 Zentimeter abfeuern und aus vier 68-Zentimeter-Rohren sogar Marschflugkörper mit Atomsprengköpfen. Reichweite des Bootes: 4.500 Kilometer. 35 Besatzungsmitglieder, zusätzliche zehn Kampfschwimmer. Wahlweise kann das Boot unter Wasser auch Minen legen. »Dolphine« kosten bis zu einer halben Milliarde Euro. U 212 ist eine schwer bestückte reine Angriffswaffe. Und die braucht Israel?
Unser Senior Armin erinnert sich: Nach dem ersten Golfkrieg, 1991, überließ die Kohl-Regierung Israel kostenlos zwei Diesel-U-Boote und bezahlte die Hälfte für ein drittes, ein »Dolphin«. 2006 schloß Kanzlerin Merkel (»Freundschaft mit Israel ist deutsche Staatsräson«) einen Vertrag über zwei weitere, ebenfalls atomwaffentaugliche »Dolphin«-U-Boote. Ein Drittel der Kosten, rund 320 Millionen Euro, ging diesmal zu Lasten der deutschen Staatskasse; der Profit floß in die Taschen der Aktionäre von HDW, Thyssen, Siemens.
Ich kann das aktualisieren – im Internet findet man viel, wenn man sucht: »Kürzlich, am 28. September, hieß es in Jerusalem, Israel habe diese beiden Schiffe jetzt, fast ein Jahr früher als geplant, übernommen. Einen Tag später wurde das zwar dementiert, zugleich aber bestätigt, daß ein israelischer ›Dolphin‹ den Suezkanal durchfahren habe und nun zum Persischen Golf unterwegs sei. Ein Wink an die Iraner. In diesen Propagandaspielchen verwursteten die Israelis Kanzlerin Merkel ohne das leiseste Dementi aus Berlin. Und ohne ein Wort darüber in Tagesschau & Co. Stattdessen beplätscherten uns unsere staatsfrommen Medien mit Döntjes über Westerwelles Englisch-Defizite. Krieg und Waffenhandel gehen derweil unvermindert weiter. Das ist soziale Kälte, liebe Nachbarn. Die Kanzlerin und ihre Spießgesellen erwägen Truppenverstärkung in Afghanistan. Von 4.500 auf 7.000 Mann, so Deutschlandradio und der Internetdienst German Foreign Policy. Der neue Schützenpanzer ›Boxer‹ soll Anfang 2010 in Afghanistan ebenfalls unser Ansehen als mörderische Besatzer mehren – wie auch den Profit der Aktionäre von Krauss-Maffei und Rheinmetall Defence. Das ›Boxer‹-Projekt kostet 743,5 Millionen Euro. Peanuts, zu begleichen aus unserer Staatschulden-Schatulle. Hauptsache, das Morden in deutschem Namen und fernen Landen geht weiter, zu Nutz und Frommen unserer Rüstungsindustrie.«
Habe ich mich in Rage geredet? Genug für heute. Bloß nicht zu viel auf einmal. Sonst leidet die gute Nachbarschaft, und am Ende dürfte ich nur noch mich selber agitieren.