Die 40 Jahre der deutschen Zweiteilung haben auch die deutsche Sprache geteilt. Der Duden für die BRD, der in Mannheim erschien, und der Duden für die DDR, der an seinem Ursprungsort Leipzig herauskam, belegen das mit vielen Beispielen. Wörter, die in beiden Verzeichnissen standen, nahmen unterschiedliche Bedeutungen an. Das Wort »agitieren« bedeutete in Mannheim »aufhetzen« und in Leipzig »aufklären«. In Leipzig gab es Wörter wie »Broiler«, »Subbotnik«, die es in Mannheim nicht gab, und umgekehrt »Gewinnwarnung«, »Schandmauer«. Hier sprach man BRDisch, dort DDRisch. Nach der »Wende« legten nicht wenige DDR-Bürger Vokabelhefte an, um ja nichts falsch zu sagen. Denn auch das alltägliche Gespräch war über Nacht schwieriger geworden. Nun hieß das »Kollektiv« plötzlich »Team«, die »Zielstellung« wurde zur »Zielsetzung«, die »Beratung« zur »Besprechung« und das »Objekt« zum »Gebäude«. Die Neubürger aus der DDR übernahmen das neue Vokabular, machten sich aber ihren eigenen Reim darauf. »Team« wurde schnell zum lächerlichen Akronym: »Toll, ein anderer macht’s! Kein Vergleich zum Zusammenhalt in unseren alten Kollektiven.« Bald wurden Menschen am Vornamen erkannt. Wer sich »Mike« schrieb, war mit Sicherheit ein Westkind, denn im Osten, so die verbreitete Meinung, konnte man kein Englisch und schrieb den Namen gleich lautsprachlich: »Maik«. Westliche Interpreten erkannten in »Maik« wie auch in Peggy, Cindy und anderen Namenswahlen die Sehnsucht der DDR-Eltern nach dem freien Westen. Aber niemand im freien Westen kam auf den Gedanken, die in der BRD viel häufiger als in der DDR anzutreffenden »Boris« und »Natascha«, »Tanja« und »Sascha« mit der ungestillten Sehnsucht westdeutscher Väter und Mütter nach der Sowjetunion in Verbindung zu bringen.
Im Kontext dieser sprachlichen Irrungen und Wirrungen spielt die folgende Geschichte.
Herr Arnold (Jahrgang 1950) aus Treuenbrietzen in Brandenburg, »Geburtsort von Henry Maske«, wie er immer hinzufügt, um nicht umständlich erklären zu müssen, wo genau der Flecken liegt, hatte Glück: Er wurde »übernommen«, während viele seiner Kollegen »abgewickelt« wurden. Kurz nach der später so genannten »friedlichen Revolution« reiste er zum erstenmal in seinem Leben nach Bonn. Sein neuer Beruf im öffentlichen Dienst des neuvereinten Deutschlands führte ihn in die Noch-Hauptstadt am Rhein. Er wußte wohl, daß Bonn nicht groß war, aber so klein hatte er sich das Kaff nicht vorgestellt. Von jedem Punkt aus konnte man die dunklen Wälder der Eifel, des Vorgebirges und der Sieben Berge sehen.
Wie es höfliche Gepflogenheit ist, wurde er von seinem Bonner Amtskollegen mit der Frage »Wie geht’s?« begrüßt. »Ich holte tief Luft«, berichtet Sachbearbeiter Arnold, »um wahrheitsgetreu zu antworten, wie es um mich bestellt war. Aber ich kam gar nicht dazu, den Mund aufzumachen, denn mein Kollege ging, während ich noch nachdachte, bereits zu einem anderen Thema über. Das war komisch und paßte zu meinem diffusen Unbehagen.«
In der Folgezeit mußte der gewissenhafte Herr Arnold wiederholt diese Erfahrung machen. »Die Frage ›Wie geht’s?‹«, so sein hartnäckiger Verdacht, »scheint in Westdeutschland nicht ernst gemeint zu sein.« Vielleicht hätte er kurzen Prozeß machen und einfach mit »Gut!« antworten sollen. »Aber das konnte ich nicht«, bekennt Herr Arnold, »denn es ging mir ja nicht wirklich gut. Und ich bin nun mal kein Lügner!« Herr Arnold aus Treuenbrietzen war also hellhörig geworden oder, wie man unter Wessis mit etwas mehr parfümierter heißer Luft sagt: Er war semantisch sensibilisiert. Ein Wortgläubiger aus dem Osten war unter die Windmacher aus dem Westen geraten.
Bald schon wurde Herr Arnold Ohrenzeuge einer Begrüßung unter waschechten Wessis. »Wie geht’s?«, fragte der eine, und der andere entgegnete zu Arnolds großer Überraschung wie ein echter dialektischer Materialist aus Treuenbrietzen: »Den Umständen entsprechend.« Mit der unangenehmen Folge allerdings, daß sein Gegenüber nun tatsächlich mehr erfahren wollte. Er schien plötzlich regelrecht elektrisiert und auf eine geradezu lüsterne Weise interessiert, vielleicht weil er schlimme Umstände, widerwärtige Schicksalsschläge, todbringende Krankheiten witterte, angesichts derer er sich selbst, verschont von alledem, um so glücklicher fühlen konnte? Mag sein. Wir wissen es nicht. Aber Herr Arnold weiß aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht in der Erweiterten Oberschule, daß Schadenfreude für den spätkapitalistisch deformierten Charakter die schönste Freude ist. Jedenfalls war die in seinen Ohren durchaus vernünftige Antwort »Den Umständen entsprechend« keine, die für ihn in Frage kam, jedenfalls nicht unter den neuen Umständen.
Also hörte er sich weiter um.
Im Frühstücksraum einer Zweisterne-Unterkunft am Fuße der Loreley wurde Herr Arnold endlich fündig. »Wie geht’s?«, sagte der eine, und der andere gab ohne eine Sekunde des Zögerns, geschweige denn des Nachdenkens, die Antwort, die Herrn Arnold auf der Stelle überzeugte. Eine Antwort, oder genauer: eine Retourkutsche, die er sofort in seinen aktiven Wortschatz übernahm und seither mit großem Ansehen für seine rhetorische Schlagfertigkeit praktiziert. Es scheint, zumindest gegenüber Wessis, die einzig richtige, respekteinflößende und erschöpfende Antwort zu sein: »Und selbst?«