Gelinde gesagt klingt alles ungereimt und verbiestert, was der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, Anfang Oktober im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung von sich gegeben hat. Seine Äußerungen dürfen gleichwohl nicht unkommentiert bleiben. Einerseits findet es Jahn ganz toll, daß Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes nach dem Willen der schwarz-gelben Bundestagsmehrheit noch bis zum Jahr 2019 daraufhin überprüft werden, ob sie Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR hatten, andererseits geht es ihm, wie er sagte, um ein »Klima der Versöhnung«. Wie das in einer Atmosphäre des von ihm selbst geschürten Mißtrauens entstehen kann, bleibt sein Geheimnis.
Ebenso widersprüchlich ist seine Haltung gegenüber den 45 ehemaligen Stasileuten in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Einerseits sollen sie auf seinen Wunsch hin aus der Behörde entfernt werden, andererseits möchte er sie aber auch nicht diskreditiert sehen. Die Betroffenen arbeiten als Angestellte im Wachdienst oder im Archiv und haben sich während ihrer Stasizugehörigkeit offensichtlich nichts zu Schulden kommen lassen. Wäre es anders, hätte man sie längst gefeuert. Mit Besuchern, die sich durch ihre Anwesenheit provoziert fühlen könnten, kommen sie nicht in Berührung. Joachim Gauck und Marianne Birthler, in Sachen Stasi alles andere als Weicheier, haben nie ein Drama aus der Sache gemacht. Das änderte sich erst, als Roland Jahn kam. In seiner Antrittsrede im März 2011 verkündete er: »Jeder ehemalige Stasi-Mitarbeiter, der in der Behörde angestellt ist, ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer.«
Als Jahn im Verlauf des Interviews danach gefragt wurde, ob die Stasi-Unterlagen-Behörde ewig weiter bestehen solle, giftete er zurück, die Notwendigkeit von Aufklärung und Aufarbeitung werde es »ewig geben«. Den Einwand, daß es mit Aufklärung wenig zu tun habe, wenn einzelne Personen zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer diskreditiert würden, obwohl ihr einziges Vergehen darin bestanden habe, bei der Stasi als Kraftfahrer oder Archivar unter Vertrag gestanden zu haben, ließ Jahn nicht gelten. »Die haben alle einen Eid geschworen auf eine Organisation, die zur Unterdrückung der Bevölkerung da war, zum Machterhalt einer Diktatur.« Auf die ergänzende Frage, ob er eine Rehabilitierung ausschließe, erwiderte er sichtlich genervt: »Ich weiß gar nicht, warum Sie und andere Medien so viel über die 45 Mitarbeiter reden, die ja nicht entlassen, sondern lediglich in eine andere Behörde versetzt werden sollen.«
Den historischen Hintergrund der Frage nach den Aussichten einer Rehabilitierung ehemaliger Stasimitarbeiter hat Jahn anscheinend gar nicht begriffen. Auch alle Mitglieder der NSDAP hatten einen Eid auf eine Organisation geleistet, die zur Unterdrückung der Bevölkerung und zum Machterhalt einer Diktatur da war; dennoch bekleideten viele von ihnen schon bald nach Kriegsende höchste Positionen in Staat und Gesellschaft, angefangen von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und den Bundesministern Gerhard Schröder und Theodor Oberländer bis hin zum Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Erwin Schüle, und dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichtes, Fritz Werner.
Jahns unversöhnliche Haltung deckt sich – ebenso wie seine Doppelmoral – mit der Haltung des harten Kerns der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag. »Wir wollen keinen Schlußstrich«, erklärte die CDU-Abgeordnete Beatrix Philipp am 30. September bei der Verabschiedung der 8. Novelle zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, weshalb ihre Partei, angeführt von Konrad Adenauer, sich gegenüber ehemaligen Nazis ganz anders verhalten hat. Als der CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler 1952 im Parlament wegen der vielen Nazidiplomaten im Auswärtigen Amt Rede und Antwort stehen mußte, hielt er laut Bundestagsprotokoll vom 22. Oktober 1952 seinen Kritikern entgegen: »Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluß machen.« Da waren seit dem Ende der Nazityrannei gerade mal sieben Jahre vergangen, und nicht nur im Auswärtigen Amt, sondern auch sonst überall saßen ungezählte Helfer Hitlers wieder fest im Sattel. 20 Prozent der Planstellen im öffentlichen Dienst mußten aufgrund des sogenannten 131er-Gesetzes ab 1951 für ehemalige Nazibeamte frei gehalten werden, und niemand fragte danach, wie sich die Naziopfer fühlten, wenn sie bei Behördengängen oder vor Gericht ihren ehemaligen Peinigern begegneten.
Der Schlußstrichappell des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland wurde später als Beitrag zur inneren Aussöhnung gedeutet und von Historikern entsprechend gewürdigt. Was hat Helmut Kohl eigentlich daran gehindert, als »Kanzler der deutschen Einheit« sieben Jahre nach dem Ende der DDR einen ähnlichen Beitrag zur inneren Aussöhnung zu leisten und zu erklären: »Wir sollten jetzt mit der Stasiriecherei Schluß machen«?
Dem Vernehmen nach hat Candide, der naive Romanheld Voltaires, den braven Soldaten Schwejk im Himmel gefragt, weshalb auf der besten aller Welten die einen so und die anderen so behandelt würden. Schwejk soll geantwortet haben: »No, die was die Nazis waren, die haben den Kapitalisten alles gelassen, und die, was die Kommunisten sind, haben da, her' ich, andere Ideen.« Candide wunderte sich, daß ihm das noch nicht aufgefallen sei. Darauf Schwejk: »Da bist du nicht der Einzige.«