Stell dir vor, es ist Kapitalismus und keiner geht weg! Bei so viel Krise und so wenig Bewegung, bei so viel Wut und so wenig Hoffnung, bei so viel Pragmatismus und so wenig Utopie verelendet auch die Kritik. Die kritische Auseinandersetzung mit Ausbeutung und Armut, Krieg und Hunger, Unterdrückung und Entrechtung war immer Antrieb und Steuerung linker Politik. Den heutigen politischen Antworten auf die globale soziale Krise fehlt es nicht nur an Mut und Phantasie, oft auch an Durchblick, Kriterien, Begriffen. Manchen ist sogar der Begriff der kapitalistischen Produktionsweise abhanden gekommen.
Auch das seit Ende August vom Forum Demokratischer Sozialismus (fds) in der Partei Die Linke verbreitete Reformpapier von André Brie, Ernst Krabatsch, Stefan Liebich, Paul Schäfer und Gerry Woop »Reformen zur Stärkung der UNO sind notwendig und machbar – Vorschläge für eine linke Positionierung zur Weltorganisation« beginnt mit einem Hohelied auf die herrschenden Institutionen und versäumt eine eigenständige Analyse jener gesellschaftlichen Beziehungen, die zur Herausbildung der herrschenden Strukturen geführt haben. Stattdessen plädieren die Autoren für »eine differenzierte Sicht auf die sich in der Weltorganisation vollziehenden Prozesse«. Statt die stetige Militarisierung der UN auf Kosten des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts zu hinterfragen, fabulieren die Autoren eine »massive Verschiebung der Kräfteverhältnisse in dieser Organisation« herbei. Bedeutung hat dies vor allem für ihre unverhohlene Apologie des neu eingeführten Grundsatzes, »daß dem Nichteinmischungsgebot durch entstehende Schutznormen Grenzen gesetzt werden« (gemeint ist das neokoloniale Konzept der Responsibility to protect, Schutzverantwortung). An der Realität des gegenwärtigen Imperialismus, der sich als humanitär ausgibt und wie in der Elfenbeinküste oder Libyen sogar mit UN-Mandat neokoloniale Kriege führt, wollen die Autoren offenbar nichts ändern. Verhindern, so schreiben sie, müsse man lediglich »jeglichen Mißbrauch dieser neu entstehenden Rechtsnorm«, die heute die internationalen Beziehungen dominiert. Als gäbe es keine linke Alternative zur Diktatur des Marktes, wird den Hungernden dieser Welt vorgeschlagen, noch etwas zu warten, bis Die Linke sich im Sinne der Autoren »ernsthaft und glaubwürdig an der Diskussion« über eine Reform der Vereinten Nationen beteiligen könne. Dies soll erfolgversprechender sein, als jene, die »sich verbalradikal« gegen die Instrumentalisierung der UN einsetzen.
Das Reformpapier kann aufgrund seiner affirmativen Weltanschauung nur oberflächliche Korrekturen im Rahmen des gegenwärtigen globalen kapitalistischen Systems vorschlagen (»militärische Einsätze nach Kapitel VII nur bei Einbettung in eine politische Mission«). Einige dieser »Korrekturen«, wie die Forderung, die »Schwelle zur Kriegsführung für eigennützige Zwecke insgesamt deutlich heraufzusetzen«, und besonders die unverhohlene Werbung für die sogenannte Schutzverantwortung, die Verpolizeilichung internationaler Konflikte sowie ein gutgläubiger ethisch-juristischer Normativismus der Menschenrechte, welcher die wirtschaftspolitischen Ursachen und Interessen neoimperialer Machtpolitik ausblendet, laufen auf Festigung bestehender Machtstrukturen und Legitimierung von Gewaltanwendung gegen die Peripherie, die immer noch sogenannte Dritte Welt, hinaus.
Die in der gegenwärtigen Krise sichtbar gewordenen Widersprüche müßten von der parlamentarischen Linken als willkommene Herausforderung verstanden werden, gemeinsam mit den sozialen Bewegungen zu einer Kritik der politischen Ökonomie zurückzufinden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das meistgehütete Geheimnis vieler linker Aktivisten ist wohl heute, daß ihre Programme gar keinen Raum politischer Kritik öffnen wollen, sondern sich in streng budgetierten Projektanträgen erschöpfen. Der Anspruch, Realität zu gestalten, verliert somit jede Ernsthaftigkeit. Auch Teile der Friedensbewegung können Kriege heute offenbar nur noch in juristischen Kategorien als legal oder illegal einstufen, anstatt nach dem, was sie sind: Ausweitung oder Verteidigung gesellschaftlicher Macht- und Eigentumsverhältnisse.