Der SS-Hauptsturmführer spricht zu uns allen. Von der Bühne herab: »Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht.« Die hat er erreicht, er, ein entfernter Verwandter des Firmengründers, er, Wolf von Aschenbach (Lukas Holzhausen) tritt nun in Zivil auf – die Katastrophe, das Kriegsende, ist vorbei. Was ihn aufsteigen ließ im Stahlkonzern von Essenbeck: »Die niedrigste Form des Überlebens ist das Töten.« Er hat überlebt. Kein Wort von den mißhandelten Zwangsarbeitern, die das Überleben des Konzerns ermöglichten. Auch vom Nürnberger Krupp-Prozeß kein Wort im »Fall der Götter« am Hamburger Thalia-Theater. Dort hat Stephan Kimmig den berühmten Visconti-Film »Die Verdammten« in der Bühnenfassung von Tom Blokdijk inszeniert.
Die Schlußszene – nicht im Visconti-Film – führt ins Jetzt. Das Jahr 1952 ist zwar lange vorbei, aber die Reden der Enkel des Essener Kanonenkönigs auf der Firmen-Weihnachtsfeier sind prägend bis heute. Nach dem Grußwort an Adenauer und dem Kinderflötenchor ein Lob auf den Adel: »Das Land, das man besaß, die Kriege, die man führte«, alles habe den Adeligen zu »Würde und Noblesse verholfen, allem Niedrigen abgeneigt.« Dann die Hinwendung zur »höheren Humanität«, die den Konzern absichert. Baron Martin von Essenbeck (Markus John), der zukünftige Alleinerbe: »Die soziale Verantwortung besteht darin, den Ertrag zu steigern.« Und weiter, in einer ahnungsvollen Vorausschau: »Welches Maß an niederen Beweggründen ist nötig und erlaubt, um eine solche höhere Humanität zu erlangen?« Welcher Schluß drängt sich da auf? Daß die »großen Unternehmer und Geschäftsleute beim nächsten Wendepunkt der Geschichte wahrscheinlich dazu auserkoren sein werden, die Leitung der Welt auf sich zu nehmen.«
Bis man nach zweieinhalb Stunden zu dieser Erkenntnis kommt, müssen die Zuschauer sich durch ein Dickicht an Personen und verwandtschaftlichen Beziehungen kämpfen. Es empfiehlt sich, vor der Aufführung ein Blatt mit Fotos der Schauspieler, wie eine Ahnentafel aufgemacht, mit äußerster Sorgfalt zu studieren. Denn Markus John verkörpert nicht nur den Firmengründer Baron Joachim von Essenbeck, sondern gleichzeitig auch dessen Enkel Baron Martin und einen Direktor der Stahlwerke, Friedrich Bruckmann, den seine Schwiegertochter, Sophie Freifrau von Essenbeck (Ute Hannig), später in zweiter Ehe heiratet. Sie ist auch die Elisabeth Thalmann Freifrau von Essenbeck, verheiratet mit Herbert Thalmann (Samuel Weiss), stellvertretender Generaldirektor – aber nicht lange. Er neigt der Linken zu, muß emigrieren. Seine Frau und Tochter Thilde kommen nach Dachau.
Warum muß Herbert, als Kommunist verdächtigt, gleichzeitig den Baron Konstantin von Essenbeck, einen SA-Mann, spielen? Merkwürdig. Oder als totalitarismustheorethischer Taschenspielertrick zu verstehen? Eine Jacke übers SA-Hemd mit Hakenkreuz-Armbinde gezogen, schon ist der Wechsel perfekt. Und der alte Baron Joachim von Essenbeck wird zum eigenen Enkel, indem er die Haare wild in die Stirn zieht, sich ungebärdet gibt, sexgeleitet, die kleine Lisa verführt, andeutungsweise. Wenn er als sodann Dritter, als Friedrich Bruckmann, Baron Joachim erschießt, sich selbst also, wirkt das nur komisch. An den Schauspielern liegt es nicht, sie bewältigen diese Aufgabe glänzend. Zwei Mädchen (Katja Danowski und Julia Nachtmann) als Erzähler, Stichwortgeber, Nicht-Essenbecksche Nebenpersonen oder einfach Personal, wie sie im Programmheft genannt werden, sind Mädchen für alles, musizierend, singend und tanzend, Clowns, auch traurige – ohne die der Zuschauer im komplizierten Familien-Chaos völlig verloren wäre.
Was mit der Meldung vom Reichstagsbrand beginnt – »Ein Angriff auf die neue Regierung«, so der SS-Hauptsturmführer aufgebracht, »nun der richtige Zeitpunkt, um sich Oppositioneller zu entledigen« – mündet in Anpassung, ins Mitmachen. »Um Krieg zu führen, braucht ihr Waffen«, lockt Sophie ihren SS-Verwandten von Aschenbach. Der wiederum schafft es, den Sohn des Direktors Konstantin von Essenbeck, Baron Günther (Sören Wunderlich), in die SS zu holen. Der umfassend Gebildete zitiert einmal Jacob van Hoddis‘ Gedicht »Weltende« mit dem neuen Schluß: »Die Eisenbahnen – die wir herstellen – fallen von den Brücken – die wir herstellen.« Durch die Waffen – die wir herstellen. Aber das ergänzt er nicht. Nach dem Krieg wird er Konzernchef. Kein Weltende. Ein blütenreiner neuer Anfang.