Ende September, mitten im schönen Altweibersommer, rauschte es im deutschen Blätterwald, und eine sensationelle Nachricht machte die Runde: In der Bundesrepublik Deutschland gab es ein entwickeltes, staatlich gefördertes und finanziertes Dopingsystem.
Detailliert belegt wird das in einem von Historikern aus Münster und Berlin erstatteten ersten Zwischenbericht über ein Forschungsprojekt, das sich mit der Aufarbeitung von »Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation« beschäftigt. Fazit des Berichtes, der den Sport in der DDR ausklammert: Im bundesrepublikanischen Rechtsstaat wurde gedopt, geheim und auf Teufel komm raus. Eingesetzt wurden vor allem Anabolika und Testosteron, aber auch recht kuriose Methoden wurden ausprobiert. Zu letzteren gehörte die »Aktion Luft-Klistier«: Westdeutschen Schwimmern wurde zur Leistungssteigerung Luft in den Darm gepumpt. Das Bundesministerium des Innern bewilligte dafür 1976 eine Viertelmillion D-Mark.
Eine Sensation im eigentlichen Sinne des Wortes, also eine überraschende, aufsehenerregende Nachricht, ist das jetzt mitgeteilte Ergebnis der vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) in Auftrag gegebenen Studie jedoch nur insofern, als die staatlich finanzierte Doping-Forschung nun von renommierten unabhängigen Wissenschaftlern nachgewiesen wird. Es war seit langem bekannt, daß im bundesdeutschen Leistungssport Dopingmittel eingesetzt wurden. Gut erinnerlich ist das Eingeständnis des Präsidenten des Deutschen Sportbundes (DSB), Manfred von Richthofen, von Oktober 1997, »selbstverständlich« sei »auch im Westen gedopt« worden. Wie denn auch nicht, hatte doch bereits 20 Jahre zuvor der damalige Innenminister und Vorsitzende des Bundesfachausschusses Sport der CDU, Wolfgang Schäuble, auf einem Hearing im Sportausschuß des Deutschen Bundestages gefordert, unter ärztlicher Kontrolle auch anabole Substanzen zu verwenden, wenn es denn für das Prestige der Bundesrepublik nötig sei.
Nötig war diese Forderung nicht, denn gedopt wurde schon lange. Das wußte auch der Stern-Reporter Martin Hägele, der Anfang Dezember 1990 feststellte: »Auch hierzulande wird seit zwanzig Jahren gespritzt und geschluckt für Sieg und sozialen Aufstieg, für Ruhm und Geld. Während die Doping-Programme im Osten vom Regime getragen und geheimgehalten wurden, lief es im Westen eher nach den ungeschriebenen Gesetzen der Mafia. Mach mit, schweig, oder du bekommst Schwierigkeiten.« Im gleichen Jahr stellte Professor Wildor Hollmann, Präsident des Weltverbandes für Sportmedizin (FIMS) und des Deutschen Sportärzte-Bundes, fest: »Wir wissen seit den Olympischen Spielen 1960 in Rom, daß im bundesdeutschen Spitzensport Doping eine Rolle spielt.«
Besonders gut wußte das derjenige, der in den 1970er Jahren offen für Doping in der Bundesrepublik eingetreten war: der schon erwähnte Wolfgang Schäuble. Als Minister des Inneren der schwarz-rosa Großen Koalition gestand er im April 2009 unumwunden ein, daß es Doping in beiden Teilen Deutschlands gegeben hatte, um fortzufahren: »Wir sollten uns daher hüten, mit dem Finger auf den jeweilig anderen Teil zu zeigen. Es ist vielmehr an der Zeit, daß Deutschland auch im Sport zusammenwächst und deshalb die Fehlleistungen als eigene verstanden werden. Dazu gehört im Leistungssport auch die gemeinsame Aufarbeitung der Dopingfälle in Ost und West. Unterschiede darf es hier nicht geben.«
Die Forschungsstudie »Doping in Deutschland« hat mittlerweile so viel Staub aufgewirbelt, daß sich in Kürze auch der Sportausschuß des Bundestages sowie das Präsidium des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) mit ihr befassen sollen. Und der Präsident des sächsischen Landessportbundes, Eberhard Werner, nimmt offenbar Schäuble beim unbedachten Wort und fordert eine Gleichbehandlung von Ost und West bei der Aufarbeitung der gesamtdeutschen Doping-Vergangenheit: »Ich bin zufrieden, daß nun gewissermaßen Chancengleichheit bei der Aufklärung der Doping-Vergangenheit beider deutscher Staaten herrscht.«
»Chancengleichheit«, »gemeinsame Aufarbeitung der Dopingfälle in Ost und West« – das hört sich gut an, es klingt nach später, wenn auch sehr später Einsicht. Aber wie wird die »Gleichbehandlung« aussehen? Die jahrelange Diffamierungskampagne gegen den überaus erfolgreichen Breiten- und Leistungssport östlich von Elbe und Werra ist nicht vergessen. Sie war ein wesentlicher Bestandteil der Politik zur »Delegitimierung« der DDR, wie sie der damalige Justizminister Klaus Kinkel (FDP) auf dem Deutschen Richtertag 1991 gefordert hatte. Und die Strafverfolgungsbehörden, ein ganzer Stab von Justiz- und Ermittlungsbeamten, Staatsanwälten und Richtern, erfüllten ihren Auftrag: mit überfallartigen Hausdurchsuchungen, allein am 7. Mai 1996 bei 50 Trainern, Sportwissenschaftlern, -ärzten und -funktionären, mit der Versendung von 9.000 Fragebögen an DDR-Leistungssportler zur Denunziation ihrer Sportkameraden, mit hochnotpeinlichen Befragungen von Athletinnen und mit inszenierten Gerichtsverfahren.
Begleitet wurde diese politische Strafaktion von tagtäglichen schändlichen Verleumdungen beispielsweise gegen Kristin Otto, sechsfache Goldmedaillengewinnerin von Seoul, und die damalige weltbeste Sprinterin Katrin Krabbe, der man nicht verzieh, daß sie 1990 kurz vor der Einverleibung der DDR in die BRD als dreifache Siegerin der Europa-Leichtathletikmeisterschaften in Split eine Ehrenrunde mit der schwarz-rot-goldenen Flagge mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz gelaufen war.
Welches Ausmaß allein die Strafverfolgung in Sachen »Doping in der DDR« erreichte, kann man in der äußerst informativen Schrift des ehemaligen Staatssekretärs für Körperkultur und Sport, Professor Günter Erbach, »Der DDR-Sport lebt – trotz fortgesetzter Verleumdungen« nachlesen. Er konstatiert, »daß im Ergebnis der fast zehnjährigen polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen und Verfolgungen – nach bisheriger Übersicht – gegen circa 900 bis 1000 Personen Beschuldigungen erhoben, in neun Prozessen gegen 21 Angeklagte Urteile gesprochen und durch Strafbefehle weitere 34 Personen zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt wurden. »Die Zeit wird kommen ... dann wird der politische Charakter dieser Strafverfolgung noch deutlicher zutage treten.«
Diese Zeit ist dank des Forschungsprojektes »Doping in Deutschland« schneller als von den einen erhofft und von den anderen befürchtet gekommen. Allerdings wäre es eine Illusion, auch nur einen Moment anzunehmen, daß die des Dopings Beschuldigten im Westen gleichermaßen verfolgt und drangsaliert würden wie die im Osten oder daß letztere gar, weil es laut Schäuble »Unterschiede hier nicht geben darf«, rehabilitiert werden. Noch immer gilt der Spruch des römischen Komödiendichters Terentius: »Duo cum faciunt, non est idem – wenn zwei das gleiche tun, ists nicht das gleiche.« Es ist eben ein Unterschied, ob Doping in einem freiheitlich-demokratischen Rechts- oder in einem Unrechtsstaat betrieben wurde.