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Titel2112

Die Reservepartei  (Arno Klönne)

Demokratietheoretisch ist die Erhebung Peer Steinbrücks zum sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten ein aufschlußreicher Vorgang, wobei hier der Begriff Postdemokratie treffender ist. Die Mitglieder und die verschiedenen Organe der Partei, bis hin zum Parteivorstand und Bundesparteitag, waren an dem Auswahlverfahren nicht beteiligt. Mitgemischt hat der Parteivorsitzende, aber gewiß nicht als Hauptakteur, eher reagierend. Um eine informelle, sozusagen naturwüchsig aus der Gefühlswelt der SPD hervorgehende Inthronisierung handelt es sich auch nicht; Steinbrück ist kein Herzensmann des sozialdemokratischen Milieus, soweit dieses noch existiert, ganz verschwunden ist es nicht. Den Kanzlerkandidaten selbst versetzt das typisch Sozialdemokratische eher in schlechte Laune, er bevorzugt anderen Umgang. Bei seinem Weg zur Kandidatur war viel Selbstermächtigung (um einen Gauckschen Begriff zu verwenden) im Spiel. Steinbrück versteht etwas von Eigenwerbung. Aber das war nicht entscheidend. Die maßgebliche Urheberschaft für diesen Konkurrenten der Bundeskanzlerin liegt bei den Leitmedien der Bundesrepublik, Spiegel, Springer-Zeitungen et cetera – sie haben ihn hochgehievt. Und in den anderen Redaktionen pflegt man ihren Signalen zu folgen. Aber was versprechen sich die Mediengewaltigen von dieser Kandidatur? Nur einen Zugewinn an spannend erscheinendem Stoff beim Wahlkampf, Absatz und Quote also?

Das allein ist nicht ihr Motiv, sie sind durchaus zu politischem Kalkül fähig. Es kann ja sein, daß die gesellschaftliche Problemlage in der Bundesrepublik es zweckmäßig macht, die CDU/CSU zeitweilig von ihren Regierungsdiensten ganz oder teilweise zu entlasten. Noch ist das nicht zu beurteilen, rasch kann sich jedoch eine Situation ergeben, in der die SPD ihren Job übernehmen muß: Wenn weitere strenge Eingriffe in soziale Errungenschaften anstehen, werden Sozialdemokraten in der Regierung gebraucht. Sie können am ehesten dafür sorgen, daß der Protest gegen eine solche Politik lahm bleibt. Die Gewerkschaften pflegen Rücksicht auf die SPD zu nehmen. Unter der Regierung von Gerhard Schröder ist das durchexerziert worden. Dabei ist es nur nützlich, wenn die SPD vor einer Bundestagswahl ihr soziales Image aufbessert.

Weshalb schien Peer Steinbrück der richtige Mann, um auf eine bundesregierende Sozialdemokratie vorzubereiten – als eventuellen Wechsel in der politischen Führungsetage? Er ist geschickt genug, im Wahlkampf den Eindruck zu vermitteln, gerade er verfüge über ungewöhnlich hohe »Wirtschaftskompetenz«. Und ihm wurde zugetraut, das Gefühl zu erwecken, er werde zugleich für »soziales Gleichgewicht« sorgen. Er kann Treue von seiner Partei einfordern, und gleichzeitig muß die ökonomische Machtelite an seiner Zuverlässigkeit für den »Markt« nicht zweifeln. Ob Steinbrück dann tatsächlich Kanzler wird, ist für die Inanspruchnahme der SPD als Regierungsreserve gleichgültig. Zunächst kommt es darauf an, für deren möglichen Einsatz die hinreichenden Bedingungen zu schaffen. Jakob Augstein schreibt ironisch, mit Steinbrück an der Spitze könne sich die SPD mit der CDU zu einer »Kapitalistischen Einheitspartei« zusammenschließen. Irrtum, denn intelligente Geschäftsleute halten stets mehrere Optionen bereit, sie hüten sich davor, nur auf ein Pferd zu setzen.

Ohne Risiken ist es freilich nicht, wenn ein Politiker massenmedial nach ganz oben befördert wird. Er steht dann in Bühnenbeleuchtung da, sein Glanz kann leicht auch wieder Schaden nehmen, den Darsteller auszuwechseln fällt schwer. Die Personalisierung von Politik hat ihre Tücken auch für diejenigen, die sie betreiben.