Die versuchte Aufklärung der Rolle der Sicherheitskräfte bei der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) gestaltet sich als eine Kette von fortgesetzten Vertuschungsversuchen durch eben jene Behörden.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz schredderte bekanntlich kurz nach Auffliegen der Nazizelle wichtige Akten über den Einsatz von V-Leuten in der Thüringer Naziszene, aus der das NSU-Trio stammte. Doch auch andere Bundes- und Landesbehörden üben sich in einer gelinde gesagt restriktiven Informationspolitik gegenüber dem Bundestagsuntersuchungsausschuß.
Vermutlich den ersten geheimdienstlichen Kontakt mit einem späteren NSU-Terroristen hatte der als Geheimdienst der Bundeswehr fungierende Militärische Abschirmdienst (MAD). Im März 1995 versuchte der Dienst, Uwe Mundlos, der seinen Grundwehrdienst in einer Thüringer Kaserne ableistete, als Informanten zu gewinnen. Dies hatte der Neonazi allerdings abgelehnt. Während die Spitze des Bundesministeriums der Verteidigung bereits seit März 2012 über den Vorgang informiert war, wurde dem Untersuchungsausschuß eine diesbezügliche Akte des MAD vorenthalten. Mitgliedern des Untersuchungsausschusses, die während der Sommerpause bei der Außenstelle des Verfassungsschutzes in Berlin-Treptow nach Informationen des MAD über Mundlos suchten, wurde vielmehr wider besseren Wissens beschieden, es existiere keine solche Akte. Als dann schließlich das Dossier doch herausgerückt wurde, entpuppte es sich als lückenhaft. Es fehlt beispielsweise Material über die Durchsuchung von Mundlos’ Spind in der Kaserne wegen rechtsextremistischer Tätigkeiten im Jahr 1994. Mit der Rolle des MAD soll sich nun eine Sondersitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses befassen.
Nicht nur der MAD hat dem Bundestag Erkenntnisse vorenthalten. Wie der Untersuchungsausschuß am 13. September erfuhr, hatte der vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2011 als V-Mann des Berliner Staatsschutzes eingesetzte Neonazi Thomas S. bereits 2002 gegenüber der Behörde Hinweise zum Aufenthaltsort der untergetauchten Neonazis gegeben. Der Produzent der Neonazi-Band Landser wisse, wo sich das Trio aufhalte, so S., der damals selber mit dem Vertrieb von Nazimusik-CDs beschäftigt war und später als Zeuge im Prozeß gegen die 2003 als »kriminelle Vereinigung« verbotene Gruppe Landser auftrat. Auch weitere Hinweise zu den Gesuchten soll S. der Polizei gegeben haben.
Unter anderem um Beate Zschäpe, mit der er 1996 eine Affäre hatte, zu imponieren, hatte S. dem Nazitrio 1998 1,1 Kilogramm TNT-Sprengstoff geliefert. Als die Gruppe in den Untergrund ging, blieb Thomas S. einige Monate lang ihr Kontaktmann in der Legalität. Seit Januar ist deswegen ein Ermittlungsverfahren gegen den mutmaßlichen Helfer des NSU eingeleitet worden. Obwohl die Berliner Behörden dazu verpflichtet sind, den Bundestagsuntersuchungsausschuß mit ihrem Wissen zu beliefern, hat Innensenator Frank Henkel (CDU), der am 9. März über den früheren V-Mann seiner Polizeibehörde in Kenntnis gesetzt worden war, die brisanten Informationen gegenüber dem Untersuchungsausschuß des Bundestages verschwiegen. Berlins Polizeichefin Margarete Koppers informierte zwar die ermittelnde Generalbundesanwaltschaft, lehnte es aber aus Gründen des Quellenschutzes ab, die komplette Akte über S. an die Justizbehörde zu schicken. Eine »Einsicht durch den Untersuchungsausschuß« könne nicht ausgeschlossen werden, begründete die Polizeichefin das Zurückhalten des Dossiers gegenüber dem Gericht mit der Sorge um Einblicknahme durch die Abgeordneten. Während Senator Henkel für seine Verdrängungspolitik in der öffentlichen Kritik steht, bleibt die wichtigste Frage in diesem Komplex unbeantwortet: Warum wurden den Hinweisen von S. auf den Aufenthaltsort der zur Fahndung ausgeschriebenen Nazis im Jahr 2002 nicht nachgegangen?
Bereits während der Mordserie handelten Verfassungsschutzämter nach dem Motto: Quellenschutz geht vor Mordaufklärung. Mit dieser Begründung behinderte der damalige hessische Verfassungsschutzchef Lutz Irrgang im Jahr 2006 die polizeilichen Ermittlungen gegen den Verfassungsschutzagenten Andreas T., der angeblich zufällig beim Mord am türkischen Besitzer eines Internetcafes, Halit Yozgat, 2006 in Kassel zugegen gewesen war. Vorübergehend galt der aufgrund seiner zumindest früheren rechten Gesinnung in seinem Heimatort als Klein-Adolf bekannte Verfassungsschützer, der als V-Mann-Führer von Neonazis fungierte und zuhause eine Waffensammlung hatte, als Hauptverdächtiger an dem Mord. Irrgang wurde bei der Abschirmung seines Agenten und dessen »Quellen« in der Naziszene vor polizeilichen Ermittlungen offenbar vom damaligen hessischen Innenminister und jetzigen Ministerpräsidenten des Landes Volker Bouffier gestützt. Nun muß sich auch Bouffier vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuß rechtfertigen.
Mit dem Ende der Wahlperiode erlischt 2013 der Auftrag des Bundestagsuntersuchungsausschusses. Doch schon jetzt gerät der Ausschuß in Zeitnot. Denn nicht mehr nur der eigentliche NSU-Komplex – auch die fortgesetzte Vertuschungspolitik der Sicherheitsbehörden – wird zwangsläufig zum Thema der Untersuchung. Ob das Versagen der Sicherheitsdienste und die Verstrickung der Geheimdienste in die NSU-Mordserie jemals völlig aufgeklärt werden können, ist damit mehr als zweifelhaft. Eine Erkenntnis kann allerdings schon zum jetzigen Zeitpunkt getroffen werden: Die unkontrollierbaren Verfassungsschutzämter mit ihren V-Leuten in der Naziszene haben weder die Morde des NSU verhindern können, noch tragen sie heute zur Aufklärung bei. Es wird höchste Zeit, diese unkontrollierbaren Dienste abzuschalten.