Politik mit Redensarten
Landesparteitag der SPD in Münster: Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wird wieder zur Landesparteivorsitzenden gewählt, Peer Steinbrück absolviert seinen ersten Besuch als Kanzlerkandidat beim stärksten Landesverband der Sozialdemokraten. Überraschendes fand nicht statt, aber die Presse braucht Schlagzeilen, also griffen die meisten Redaktionen zwei Aussprüche auf:
Peer Steinbrück forderte für sich von der Parteibasis »Beinfreiheit«; Hannelore Kraft warf der Bundeskanzlerin vor, sie komme »nicht zu Potte«, und fordert deshalb, sie müsse abtreten, Steinbrück Platz machen. Der Gebrauch von Redensarten, so glauben PolitikerInnen, macht populär. Aber was haben Frau Kraft und Herr Steinbrück da sagen wollen?
»Nicht zu Potte kommen« ist ein Wortbild, das aus der Zeit des Nachttopfes stammt. Da müht sich jemand ab, sein Geschäft zu verrichten, es wird jedoch nichts draus. Die arme Frau Merkel. Um einen Begriff ihres Parteifreundes und Altkanzlers heranzuziehen: Bei der Politik soll »hinten etwas rauskommen«, Helmut Kohl meinte sogar, entscheidend sei, »was hinten rauskommt«. Hat die Redensart, die Hannelore Kraft benutzte, in dem angesprochenen Fall nun allerdings einen Sinn? Es ist gewiß nicht so, daß die politischen Mühen der Bundeskanzlerin ohne Ergebnisse wären, ganz und gar nicht. »Zu Potte« kommt Angela Merkel durchaus, die Frage ist nur, wem das Resultat nutzt und wem es schadet.
»Ich brauche Beinfreiheit« sagt der Fluggast, wenn er Economy Class nicht buchen möchte; er will es bei seiner Unternehmung bequem haben. Wie übertragen wir diesen Wunsch in die Situation des Kanzlerkandidaten? Er möchte nicht, so nehmen wir an, daß ihm beim Wahlkampf Parteigenossen, zum Beispiel von den Jusos oder der Arbeitnehmer-AG, und gar sozialdemokratische Feministinnen zu nah auf die Pelle rücken. Er ist ja Mitglied der »Troika« und dann Anwärter für den Chefposten in der deutschen Politik ohne Beteiligung all dieser Kleinfunktionäre und Basissozis geworden – und so soll es bleiben. Ein Mann seiner Qualität muß sich nicht von diesem und jenem die Ohren vollquasseln lassen. Ihm steht – um das Wort Business in diesem politischen Zusammenhang zu vermeiden – ein erstklassiger Platz zu.
Aufeinander abgestimmt waren die beiden Redensarten offenbar nicht. Denn Peer Steinbrück will doch sicherlich Angela Merkel nicht an einem Nachttopf ablösen, auch wenn diese ihn unverrichteter Dinge verlassen hätte. Der Kanzlerkandidat hat ein Wortbild aus einer ganz anderen, einer höheren Sphäre gewählt, man sieht, der Mann hat Format.
P. S.
Nicht- oder Wenigflieger, auch sie soll es geben, haben bei Peer Steinbrücks trefflicher Wortwahl statt der »Economy Class« vermutlich ein ganz anderes Bild vor Augen: Ihnen dürfte sich die Frage stellen, ob der »Kanzlerkandidat« in den angesprochenen eigenen Parteimitgliedern womöglich lästige potentielle Wadenbeißer und Ans-Bein-Pinkler sieht und er deshalb statt Handlungs- lieber »Beinfreiheit« für sich fordert.
Red.
Georgien – kein Traum
Es ist geschafft: Bei der georgischen Wahl hat die Opposition gesiegt, der reichste Mann des Landes übernimmt die politische Führung. Bidsina Iwanischwili hat im postsowjetischen Rußland viel Geld gemacht, aber er ist alles andere als ein »Vasall Moskaus«, was ihm angedichtet wurde. Er weiß, was er seinen fleißigen US-amerikanischen Wahlhelfern zu verdanken hat und weshalb er westliche Förderung fand (s. »NATO expandiert« in
Ossietzky 20/12). »Georgischer Traum« war sein Wahlbündnis benannt. Gar nicht träumerisch soll das Land nun seine Schritte in Richtung Nordatlantik beschleunigen, hin zur Aufnahme in die EU und zur endgültigen Integration in die NATO. Der bisherige Machthaber in Georgien hatte sich als Tolpatsch erwiesen, er mußte ausgewechselt werden. So mancher Schaum aus Wahlkampfzeiten wird demnächst verfliegen, ein Militärbündnis ist schließlich kein karitatives Unternehmen.
A. K.
Unfair?
Die Kampagne »Umfairteilen« hat – für deutsche Verhältnisse – viele Menschen auf die Demonstrationsbeine gebracht, mit der Forderung, Reichtum zu versteuern, um gegen Armut anzugehen. Unfair sei das, halten prominente Publizisten dagegen, denn die »Leistungsträger« mit den hohen Einkünften seien es doch schon jetzt, die bei der Finanzierung des Sozialstaates die Hauptlast zu tragen hätten. In einer Formulierung von Josef Joffe: »Laßt die Reichen in Ruhe. Die oberen zehn Prozent bezahlen schon die Hälfte der Steuern.« Kann es sein, daß ein Mitherausgeber der Wochenzeitung
Die Zeit von den Herkünften der steuerlichen Einnahmen der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik keine Ahnung hat? Wahrscheinlicher ist, daß Josef Joffe sein Publikum hinters Licht führen wollte. Seine Mehr-als-50-Prozent-Rechnung bezieht sich, ohne daß er es vermerkt, lediglich auf eine Steuerart, die Einkommensteuer. Die aber macht nur circa fünf Prozent des gesamten Steueraufkommens aus, circa 50 Prozent desselben entstammen der Lohn- und der Umsatzsteuer, Quellen also, die sich aus Zahlungen der Masse von »minderbemittelten« Bürgerinnen und Bürgern speisen, bis hin zu den Geringverdienern und Kleinrentnern. Die läßt der Steuerstaat nicht in Ruhe.
M. W.
Tee a Tee
Laut
BILD online hat Jakob Augstein in einer Diskussion zum Europäischen Rettungsschirm gesagt: »Die Deutschen müssen endlich erkennen, daß sich ihr Nationalstaat samt Bundesbank und Verfassungsgericht wie ein Stück Zucker im Tee auflöst.« Die Erkenntnis ist längst da. Was stört, ist die Sorge, daß es sich um Abführtee handeln könnte, der dem Zucker ein fäkalisches Ende bereitet.
Günter Krone
Wer den Schaden hat ...
Der Präsident des Statistischen Bundesamtes hat mitgeteilt, daß bereits jeder fünfte Beschäftigte in der Bundesrepublik für weniger als 10,36 Euro pro Stunde arbeiten muß. Er hat hinzugefügt: »Niedriglohn heute bedeutet niedrige Rente morgen.« Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder nahm vor dem Verein für Socialpolitik zum selben Thema Stellung, er feierte sich und seine einstige Regierungskoalition: Durch die Reform des Arbeitsmarktes sei »Deutschland stark geworden«. Lohnarmut muß sein, wenn deutsches Kapital reicher werden soll. Politiker und Kommentatoren geben sich erstaunt: Wer nur Niedriglohn bekomme und Altersarmut befürchte, könne sich doch privat dagegen versichern. Aber Niedriglöhner seien »Vorsorgemuffel«, heißt es auf W
elt online. Wer den Lohnschaden hat, braucht für den Spott der Großverdiener nicht zu sorgen.
M. W.
Dämmert’s?
»Geheimdienstliche Akten allein erlauben stets nur einen Tunnelblick auf die einstigen, auch in der DDR sehr komplexen Realitäten.« Und: Nur wenn Historiker die gesamte archivalische Hinterlassenschaft eines Staates oder einer Gesellschaft durchmustern, »können die einstigen politischen, menschlichen und kulturellen Verhältnisse im Zusammenhang begriffen werden«. So oder so ähnlich sind Generationen von Historikern in Proseminaren darüber unterrichtet worden, was sie zu tun haben, wenn sie sich auf die Spuren vergangener Zeiten begeben. Die Sätze wären keines Zitats wert, stünden sie in einem Leitfaden für Geschichtsstudenten. Indessen fanden sie sich in einer Kolumne der
Frankfurter Rundschau am 25. September dieses Jahres – und das in der Fortsetzung einer Polemik gegen die hartnäckige Verweigerung der Zusammenführung der papiernen staatlichen Hinterlassenschaft der DDR im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. So begründet die Forderung, so abwegig die Anklage gegen einen gewissen Herrn Jahn, er allein blockiere die rechte Beschäftigung mit der Geschichte des ostdeutschen Staates. Daran sind und bleiben noch ein paar andere Personen und Interessenten beteiligt. Immerhin: Es lassen sich die Sätze als Ausdruck einer Dämmerung lesen. Nur sollte nicht damit gerechnet werden, daß sie kurz ausfallen wird.
K. P.
Zuschriften an die Lokalpresse
Das Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung hat den Kitas von Paretz und Umgebung das »Gütesiegel kommunales Netzwerk für Qualitätsmanagement in der Kinderbetreuung« als »Alleinstellungsmerkmal« verliehen, berichtete die Wochenzeitung
BRAWO am 7. Oktober. Nun lernen alle Kids begeistert den Titel auswendig, damit sie ihn ihren Verwandten korrekt mitteilen können. Gut auch, daß das gerade an diesem Tage mitgeteilt wurde, der von Unverbesserlichen immer noch als »Jahrestag der DDR« begangen wird. Die sogenannte DDR war es doch, die wehrlose Kinder auch gegen den Willen der Eltern in die Gemeinschaftserziehung zwang! – Paul Winkelmann (73), Großvater und Erzieher i. R., 07589 Lederhose
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Zum »Tag der Einheit« gab unser Innenminister, Herr Friedrich, der
Super-Illu ein Interview. Er forderte für den Osten »gezielte Zuwanderung« und betonte, daß »die Erfahrungen der neuen Länder eine Blaupause für ganz Deutschland« sind. Ehrlich gesagt, geht mir der Sinn dieser Aussage nicht so recht auf. Als in der DDR aufgewachsener und im wiedervereinigten Deutschland ergrauter Bürger frage ich an, ob der Minister damit vielleicht auf die Arbeit der Treuhand oder vielleicht auf die Rentenangleichung oder auf das geringe Wirtschaftswachstum oder auf die relativ hohe Arbeitslosigkeit anspielt. – Leberecht Schultze (78), Rentner und Ehrenamtsinhaber, 07957 Neuärgernis
Wolfgang Helfritsch
Bertelsmann globalisiert
Von Gütersloh aus in alle Welt – Deutschlands führendes Medienunternehmen will international expandieren, vor allem in China, Indien und Brasilien. Dekorative Zeichen dafür wurden auf einem Firmenfest in Berlin gesetzt, mit mehr als 600 Gästen, der Bundesfinanzminister war darunter, auch Bestsellerist Thilo Sarrazin fehlte nicht. Beim Konzern ging es eine Weile finanziell etwas holprig zu, und die Bertelsmann-Stiftung ist als »gemeinnützige« Nebenregierung in der Bundesrepublik nicht mehr unangefochten. Jetzt ist eine komplizierte neue unternehmensrechtliche Form gefunden, die es möglich macht, frisches Kapital ins Geschäft zu holen, ohne daß die Familie Mohn die Kontrolle verliert. Und die Stiftung hat mit dem Niederländer Jan De Geus einen neuen Chef, der früher bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) tätig war; er kennt sich aus im Umgang mit der Politik in anderen Ländern. Beim stärkeren Auslandsengagement »werden Konzern und Stiftung gleichermaßen marschieren – aber getrennt«, sagen die Bertelsmänner. Zu ergänzen ist: Und dann gemeinsam schlagen, ganz zivilgesellschaftlich, das versteht sich. Die Stiftung forscht, berät und stellt Bedarf her; der Konzern hat seine Angebote, die dazu passen. Große Chancen sieht Bertelsmann in der »Education«-Branche. Da lasse sich noch unendlich viel privatisieren, je mehr ein Staat »sparen« müsse oder wolle; Millionen von jungen Menschen seien aufstiegswillig und bildungshungrig. Und so kann wenigstens Bertelsmann satt werden.
A. K.
Begegnung mit Lingner
Es sind stille, empfindsame Handzeichnungen, die den Betrachter in der Ausstellung »Max Lingner – Zeichnungen aus der Banlieue« in der Galerie der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) erwarten. Vorwiegend Stadt-, Industrie- und Hafenlandschaften aus den unschönen Pariser Vororten, dem »Roten Gürtel«, lassen – mit knappen, sparsamen Strichen gezeichnet – Raum für Phantasie, für Nachdenklichkeit. Das graphische Handwerk hat Lingner von seinem Vater, einem Holzschneider, akribisch gelernt. Dabei ist Lingner uns doch mehr bekannt durch seine Darstellungen der Pariser Arbeiter, der selbstbewußten, schönen Pariser Frauen und Mädchen, zum Beispiel in seinen Gemälden »Die Weintraubenverkäuferinnen« (1949) oder »Yvonne« (1939). Lingner studierte in Leipzig und Dresden. Studienreisen führten ihn nach Frankreich, Holland und Belgien. Am Ersten Weltkrieg nahm er an fast allen Fronten teil, zuletzt am Kieler Matrosenaufstand. Die große Sympathie, die er für arbeitende Menschen empfand, spiegelt sich in seinem Werk wieder. Als Pressezeichner für die Zeitungen
Monde (bei Henri Barbusse),
L’Avant-Garde und
L’Humanite setzte er sich mit Tagesproblemen auseinander. In der Zeit von 1928 bis 1949 entstanden etwa 8.000 Arbeiten, darunter Zeichnungen wie »Halt dem Krieg!« (1934), »Demonstration« (1934) oder »Flucht aus Paris« (1940). Diese Tätigkeit führte ihn zur Kommunistischen Partei Frankreichs, brachte ihm Schwierigkeiten mit der Polizei und schließlich Gefangenschaft in drei Internierungslagern. Aus dem Lager Gurs gelang ihm 1943 die Flucht. Im Jahr 1949 kam er in die DDR. Der DDR-Kunstwissenschaftler Hermann Raum lobte noch 1988 an Lingners Werk »die Frische und wahrhaftige Heiterkeit, die treffsichere formale Verknappung, die Zeichenhaftigkeit der Form«. Daß er ihn im Jahr 2000 in seinem Band »Bildende Kunst in der DDR« einfach »vergaß«, ist beschämend. Von 1951 bis 1955 arbeitete Lingner an seinem Gemälde »Der große Deutsche Bauernkrieg«. Das zwei mal vier Meter große Temperabild befindet sich heute im Deutschen Historischen Museum. Brecht schrieb 1955 an Lingner: »Gratuliere zu Deinem Bauernkrieg – ein künstlerisches Ereignis ersten Ranges.« In der DDR war Lingner hoch geehrt; er erhielt 1952 und 1955 den Nationalpreis und 1954 den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold. Bekannt ist das große, auf Meißner Kacheln gemalte Wandbild am ehemaligen Haus der Ministerien in der Berliner Leipziger Straße, das den Aufbau der DDR zum Inhalt hat. Lingner, der in Zeiten großer gesellschaftlicher Widersprüche arbeitete, fiel es nicht leicht, eine überzeugende, geschlossene Darstellung für ein neues gesellschaftliches Umfeld zu finden. Es bleibt bei einer Aneinanderreihung von Aussagen.
Mit großer Freude konnte zur Eröffnung der Ausstellung die letzte noch lebende Meisterschülerin Max Lingners, die Malerin und Graphikerin Vera Singer, begrüßt werden. Es ist ein Gewinn, die Lingner-Ausstellung zu sehen.
Maria Michel
Geöffnet ist die Ausstellung vom 14.9. bis 16.11.12 in der GBM-Galerie in der Weitlingstraße 89 in Berlin-Lichtenberg, Montag bis Freitag 10 bis 16 Uhr.
Grass und Rosenberg
In seinem neuen Gedichtband »Eintagsfliegen« bezeichnet Günter Grass den wegen Spionage zu 18 Jahren Haft verurteilten israelischen Nukleartechniker Mordechai Vanunu als Vorbild und Helden. Zwischen den Zeilen ruft er – wie zu lesen war – überall in der Welt zum Verrat militärischer Geheimnisse auf, wo Vernichtungswaffen hergestellt werden. Über eine solche Fürsprache aus der Bundesrepublik Deutschland hätten sich Ethel und Julius Rosenberg sicher gefreut, als sie 1951 in den USA wegen vermeintlicher Atomspionage zugunsten der Sowjetunion zum Tode verurteilt wurden. Aber das jüdische Ehepaar hatte eine unpassende politische Gesinnung – beide waren Kommunisten. Für solche Leute machte man sich während des Kalten Krieges nicht gern stark. Ethel und Julius Rosenberg starben am 19. Juni 1953 ungeachtet weltweiter Proteste auf dem elektrischen Stuhl. Wer wird ihnen ein Gedicht zum 60. Todestag schreiben?
Conrad Taler
Walter Kaufmanns Lektüre
Als die Tochter des Mehmet Kubasik, der in Dortmund im April 2006 hinter der Theke seines Kiosks durch mehrere Kopfschüsse kaltblütig ermordet worden war, gegenüber der Polizei beteuerte, ihr Vater hätte weder in der Türkei noch je in Deutschland Feinde gehabt, und sie sich überzeugt zeigte, daß Neonazis ihn ermordet hätten, taten die Beamten das ab. »Die haben nicht auf mich gehört«, sagte sie Christian Fuchs und John Goetz und nahm damit den Kern des Buches der beiden Journalisten vorweg, das den Verbrechen der Zwickauer Terrorzelle Mundlos-Böhnhardt-Zschäpe nachgeht und schonungslos aufgeklärt, was ein Heer von Ermittlern lange nicht aufzuklären imstande war. Oder nie wirklich aufklären wollte.
Zehn kaltblütige Morde in zehn Jahren, acht an Türken, einer an einem Griechen und der zehnte an einer jungen Polizistin, dazu Banküberfälle en masse mit Abertausenden Euros Beute, ohne daß ein Zusammenhang zwischen den Morden und den Überfällen erwogen oder gar die Thüringer Terrorzelle dingfest gemacht wurde, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte und ihre Fremdenfeindlichkeit offen kundtat. Bis in die Spitzen des Innenministeriums hinein wurden sie nicht in Betracht gezogen, nicht von Otto Schily oder gar Helmut Roewer, dem einstigen Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes, der Unsummen von Steuergeldern an V-Männer verschleuderte, ohne auch nur den Hauch eines Hinweises auf das Mördertrio zu erfahren.
Über lange Zeit vermuteten die Behörden (ja, man bestand geradezu darauf), daß die Ermordeten Opfer innertürkischer Fehden waren, im Drogenkrieg einer türkischen Mafia verwickelte Kleinunternehmer. Kurzum, eine türkische Mafia ließ Landsleute töten, die sich dem Drogenhandel verweigert hatten oder nur für sich selbst daran verdienen wollten. Und als allmählich ruchbar wurde, daß es sich auch um neonazistische Verbrechen handeln könnte, preßte eine Sonderkommission »Bosporus« dem Verfassungsschutz Bayern 682 Personalien von Rechtsextremen ab, sie startete Rasterfahndungen, überprüfte 112.000 Personen, Millionen Kreditkartendaten und Zehntausende Hotelbuchungen, wertete 32 Millionen Datensätze aus und ging 3.500 Ermittlungsspuren nach. Eine heiße Spur wurde nicht gefunden.
Das gut recherchierte, gut gegliederte, gekonnt geschriebene Buch verfolgt nicht bloß die Spur der zehn Morde, klärt nicht bloß die Serie bewaffneter Banküberfälle auf, sondern beschreibt auch akribisch, wie zwei junge Männer und eine junge Frau der Mittelschicht rechtsextreme Terroristen wurden: »Die Zelle« wird zu einer außergewöhnlichen Fallstudie, die darlegt, wie eine von den Nachbarinnen wohl gelittene, zu Geselligkeiten neigende und Katzen liebende Beate Zschäpe die kaltblütigsten Verbrechen zu planen imstande war. Ein Uwe Mundlos wird gezeigt, der seinem Vater gerecht zu werden versuchte, indem er eifrig einem Mathematikstudium nachging, gleichzeitig aber – von Haß besessen – für ein erhebliches Aufgeld Monopoly-Spiele in sogenannte Pogromly-Spiele umfunktionierte, bei denen für das Schänden jüdischer Gräber und das Töten von Linken Prämien ausgesetzt werden. Man erfährt von einem Uwe Böhnhardt, der sich in einem Ferienlager beliebt zu machen verstand und dort echte Freundschaften schloß, dabei hatte er nur Tage zuvor einen Mord begangen. Hier bewährt sich das Buch durchaus auch literarisch – es könnte die Vorlage für ein vielschichtiges, das gesellschaftliche Klima im gegenwärtigen Deutschland durchleuchtendes Romanwerk abgeben, das aufdeckt, wie zehn Jahre lang die Ahndung rechtsextremer Verbrechen verhindert werden konnte.
W. K.
Christian Fuchs/John Goetz: »Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland«, Rowohlt Verlag, 284 Seiten, 14,95 €
Lewin in der Geschichte
Das Buch ist schwer zu rezensieren, weil der Verfasser, viele Jahre für das (west-)deutsche Institut für Entwicklungspolitik in Bonn tätig, später Professor an der Fachhochschule Brandenburg, eine Vorbemerkung zu seinem Buch geschrieben hat, die dessen Inhalt ganz wunderbar zusammenfaßt, so daß ich nicht umhin komme, aus ihr zu zitieren. Er meint, das Buch sei »nicht nur, nicht einmal primär eine Biographie. Betrachtet wird die Person in ihrer Vita von 1905 bis 1945; sie führt den Leser durch Perioden der Zeitgeschichte, vom revolutionären Rußland zur Roosevelt-Ära, von der deutschen Inflation zur Bankenkrise, von der professionellen Falschmünzerei in Grauzonen der Wirtschaft zum Verfälschen politischer Dokumente in Geheimdienstmilieus ..., als Leser durchstreift man inhaltsreiche Abschnitte der neueren und neuesten Geschichte, mit dem besonderen Reiz, daß deren Auswahl einzigartig, weil biographisch bestimmt ist. Der Sinn, dieses Buch zu lesen, liegt somit nicht darin, die innere Entwicklung und das Schicksal eines Isaac Lewin unter den Bedingungen seiner Zeit zu erleben; vielmehr geht es darum, ihn als einen Führer durch Zeitgeschichte zu sehen und zu nehmen.«
Der Hauptakteur des Buches wurde 1887 in Kiew geboren und starb 1945 in New York, studierte in Rußland und Deutschland Ökonomie und schrieb bis 1917 zahlreiche, noch heute zitierte Arbeiten über das russische Bankwesen, emigrierte 1918 nach Deutschland, wo er zwar nicht als Wissenschaftler reüssierte, wohl aber als Bankier, vor allem jedoch als Wechselfälscher, weshalb er sich 1929 nach Brasilien absetzte, dort den Namen Normano annahm und wenig später als angeblich brasilianischer Ökonom an der berühmten Harvard University zu lehren begann, bis ihm die deutsche Polizei auch dort auf die Spur kam, ein Auslieferungsersuchen stellte, das aber nach einigem Hin und Her – wir schreiben das Jahr 1933 und Lewin ist Jude – abgelehnt wird, worauf dieser weiter als Wirtschaftswissenschaftler und Politikberater tätig sein kann, zwar nicht bei Harvard, aber doch bei einigen Forschungsorganisationen in New York, vor allem über Lateinamerika arbeitet und schließlich noch zwei Bücher über den Geist ökonomischen Denkens in den USA und Rußland verfaßt, die auch bei der antijüdischen Kosmopolitismusdebatte in der Sowjetunion der Nachkriegszeit eine Rolle spielen.
Der Verfasser hat ausgiebig recherchiert, Zeitungen und Literatur aus vielen Ländern und in vielen Sprachen ausgewertet, unbekümmert um den politischen Standort der Verfasser, natürlich auch unter Benutzung deutscher Archive und ins Internet gestellter Dokumente, und in den damit gesetzten Grenzen wohl weitgehend vollständig (ein darüber Hinausgehen hätte sicher unbezahlbare Vorortrecherchen auch in den Archiven der beiden Amerikas und Rußlands erfordert). Ein spannend und unterhaltsam geschriebenes Buch mit sorgfältigen Quellenangaben für jene, die es noch genauer wissen wollen.
Thomas Kuczynski
Hans H. Lembke: »Bankier, Fälscher, Historiker. Der Weg des Isaac Lewin durch die Geschichte seiner Zeit«, Centaurus Verlag, 371 Seiten, 23,80 €
Was für ein Leben!
Wer sich für das Exil von Künstlern in den USA interessiert, dem begegnet der Name Salka Viertel. Die Ehefrau des bekannten Regisseurs – eine Erklärung, mit der sich manche begnügen.
Die Andere Bibliothek, im eigenen Verlag unter dem Dach des Aufbau-Hauses, hat Salka Viertels Autobiographie, die bereits 1969 in den USA und seit 1970 mehrfach auf Deutsch erschienen ist, neu aufgelegt. Salka Viertel war nie ein Anhängsel des berühmten Ehemanns – immer selbständig und bewundernswert. 1889 geboren, stammt Salomea Sarah Steuermann aus der österreich-ungarischen Garnisonsstadt Sambor (heute Sambir, Ukraine) aus gutbürgerlichem jüdischem Elternhaus. Sie genoß die Annehmlichkeiten einer Erziehung mit Gouvernante, Dienstboten, vielen Büchern und viel Musik. Gegen den Wunsch der Familie wurde sie Schauspielerin, erfuhr die Nöte dieses Lebens auf einer kleinen Bühne, bis sie in Wien, Berlin, Zürich, München, Hamburg, Dresden und Leipzig große Rollen bekam. 1918 hatte sie Berthold Viertel geheiratet. Selten standen sie in derselben Stadt unter Vertrag, was für sie als Mutter dreier Kinder nicht leicht gewesen sein dürfte. 1928 erhielt Viertel – von Murnau vermittelt – ein Engagement in Hollywood. Sie fuhren ohne die Kinder, denn sie wollten allerhöchstens drei Jahre dort arbeiten und reich werden. Natürlich kam es anders, die Kinder samt Kindermädchen folgten. Salka Viertel sollte erst 1953 (und das unter Schwierigkeiten, denn sie wurde kommunistischen Umgangs bezichtigt) den Kontinent in Richtung Europa verlassen. 1978 starb sie in der Schweiz.
Als Schauspielerin hatte sie in Amerika keinen Erfolg. Sie wurde Ideenfinderin und Drehbuchschreiberin und war so an vielen Hollywoodfilmen beteiligt. Besonders Greta Garbo legte Wert darauf, daß Salka bei ihren Filmen dabei war. Außerdem – und das ist wohl ihr größtes Verdienst – kümmerte sie sich nach 1933 darum, daß viele deutsche Künstler nach Amerika emigrieren konnten, und sie sorgte sich um sie. Ihr Haus in Santa Monica beherbergte und bewirtete alles, was Rang und Namen unter den Emigranten hatte. Die Feier zu Heinrich Manns 70. Geburtstag richtete sie aus. Sie kümmerte sich um Sergej Eisenstein, als er sich mit seinen amerikanischen Produzenten stritt. Sie vermittelte, wenn europäische Auffassungen mit amerikanischen Gepflogenheiten zusammenstießen. Sie blieb der Halt in Berthold Viertels Leben, als der schon lange mit anderen Frauen liiert war.
Salka Viertel erzählt so, als wäre das Erlebte normal gewesen. Manchmal gibt sie Nicht-Gelungenem mehr Gewicht als Erfolgen. Ich habe selten so viel und so genau gelesen, wie in Hollywood Filme gemacht wurden. Das Buch ist eine Fundgrube und ein Beleg dafür, was für großartige Frauen im vergangenen Jahrhundert lebten.
Christel Berger
Salka Viertel: »Das unbelehrbare Herz. Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts«, durch die Autorin überarbeitete Übersetzung von Helmut Degner, Die Andere Bibliothek, 508 Seiten, 22 €
Amerikanisches Wasser-Rezept
Der früher bekannte sächsische Komiker Eberhard Cohrs erzählte einmal von seinen Kochkünsten: Am liebsten, so verriet er, koche er Wasser, und zwar abends; dies sei überaus praktisch, weil er dann am nächsten Morgen das am vergangenen Abend bereits fertiggekochte Wasser nur noch aufzuwärmen brauche.
Er teilte allerdings nichts Näheres darüber mit, wie man denn nun Wasser eigentlich zu kochen habe.
Die Herausgeber eines in New York erschienenen Kochbuches für junge amerikanische Hausfrauen erläutern das Problem wie folgt: »Fülle einen Topf mit kaltem Wasser, stelle ihn auf den Herd, drehe den Schalter auf volle Kraft und lasse das Wasser warm werden, bis es wallt. Das ist kochendes Wasser.«
Felix Mantel