Winfried Kretschmann hat Klartext gesprochen. Verteilungsgerechtigkeit sei wichtig, sagte er auf dem Kleinen Parteitag der Grünen am 28. September, aber sie sei von Jürgen Trittin zu sehr in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt worden. Er, Kretschmann, sei zwar Anhänger des Mindestlohns, aber Wahlkampf habe er damit nicht gemacht. Nachhaltigkeit und Ökologie seien für die Grünen zentral – dabei bräuchten sie die Wirtschaft aber als Partner.
Schon knapp eine Woche davor, nachdem ihm die baden-württembergischen Wähler signalisiert hatten, was sie von seiner Politik halten, antwortete er auf die Frage der Stuttgarter Zeitung, ob die Grünen eher links auf der falschen Position seien: »Regierungsmehrheiten gewinnt man, wenn man in die Mitte geht. Wir haben den Eindruck erweckt, wir seien eine Verbotspartei, wir haben bei den Steuern Maß und Mitte verlassen. Da entstand heftiges Mißtrauen uns gegenüber. Unser Gewinnerthema, die Energiewende, ist in den Hintergrund geraten. Wir haben offensichtlich unsere potentielle Wählerschaft nicht mobilisieren können.«
»Wirtschaft, Horatio! Wirtschaft!« sagt Hamlet in der Übersetzung von Schlegel und Tieck, und er meint damit die Sparsamkeit, die an den Tag gelegt wird, wenn das Gebackne vom Leichenschmaus zur kurz darauf angesetzten Hochzeit erneut serviert wird. Wenn jemand von der Wirtschaft nicht als Abstraktum, sondern als Person spricht, wie Kretschmann, sollte man stets nachfragen, an wen genau er denkt. Wenn es darum geht, daß das Lehrdeputat an Schulen erhöht werden soll, adressiert auch Kretschmann die Lehrer, nicht die Pädagogik. Wenn Heilkosten eingespart werden sollen, wendet er sich an die Ärzte, nicht an die Medizin. Nur im Fall der Wirtschaft lösen sich die »Akteure«, um ein Lieblingswort Kretschmanns zu benutzen, in einem nebulösen Abstraktum auf. Der grüne Ministerpräsident meint wohl nicht die Gewerkschaften, die ohne Zweifel ein wichtiger Faktor der Wirtschaft sind. Er meint nicht die Lohnabhängigen, die mit ihrer Arbeit die Wirtschaftsgüter überhaupt erst produzieren, wenn er von der Wirtschaft als zu umwerbendem Partner spricht. Er meint die Unternehmer. Und deren Interessen stehen im Gegensatz zu den Interessen der von ihnen Abhängigen, deren Arbeitskraft sie ausbeuten. Das mag altmodisch klingen, aber es ist darum nicht weniger wahr. Und wenn Winfried Kretschmann, damals Mitglied des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands (KBW), nicht nur ein Radaubruder war, der als gläubiger Anhänger Maos die Häretiker an die Wand stellen wollte, während er sich heute als gläubiger Anhänger der katholischen Kirche damit begnügt, Kommunisten nicht in den Staatsdienst aufzunehmen, dann hat er das auch schon einmal begriffen. Man muß Jürgen Trittin, gegen den sich Kretschmann mit seiner Performance auf dem grünen Parteitag in erster Linie gewandt hat, nicht lieben, aber immerhin hat er die Ideale seiner Jugend, anders als sein Kontrahent, nicht ganz vergessen. Verglichen mit dem süddeutschen Wendehals übt er den aufrechten Gang. Anders als jener übernimmt er auch Verantwortung für das Wahldebakel.
Dieser Kretschmann hat nicht viel von Verteilungsgerechtigkeit verstanden, wenn er mit einem Hinweis auf den Mindestlohn darauf reagiert. Wenn es nur das ist, schlagen wir ihm vor, sein Ministerpräsidentengehalt in der Höhe des von ihm in den Blick genommenen Mindestlohns anzusetzen. Wenn auch andere das Thema »Verteilungsgerechtigkeit« »schon gepachtet« haben, wie Kretschmann versichert, dann ist das noch lange kein Grund, darauf zu verzichten. Es ist das entscheidende soziale Thema unserer Gesellschaft überhaupt, und keine Partei kann sich darum drücken – sie kann es ebenso wenig, wie sie darauf verzichten kann, zur Steuergesetzgebung, zur Beschäftigungspolitik oder zur Bildungspolitik Stellung zu beziehen.
Man muß die beiden Aussagen zusammen lesen: Die Wirtschaft – also die Unternehmer – als Partner aufsuchen und Verteilungsgerechtigkeit den anderen überlassen, die das Thema angeblich gepachtet haben. Dann hat man schon das Programm von Kretschmanns Grünen und begreift, warum sie sich der CDU als FDP-Ersatz anbieten.
Kretschmann hat sich entschieden: für die Bosse, die er Wirtschaft nennt, und gegen jene, die von Verteilungsgerechtigkeit profitieren würden. Seine Werte sind die Werte der CDU, mit der er und sein Parteifreund Fritz Kuhn sich so blendend verstehen. Es geht ihnen nicht um anderer Werte, sondern nur darum, gewählt zu werden – notfalls in eine Koalition mit der CDU. Man will nicht eine Regierungsmehrheit, um etwas umzusetzen, was man für richtig und notwendig
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Farbenblind?
»Rot-Rot-Grün« – noch geistert das Bild von einer regierungsfähigen »linken Mehrheit« durch die veröffentlichten politischen Meinungen. Ausgemalt wurde es im Wahlkampf vor allem von Gegnern der SPD und der grünen Partei, zum Zwecke der Abschreckung, um vor einer »Machtübernahme der Sozialisten« zu warnen. Das war propagandistischer Blödsinn. Aber auf die Möglichkeit eines Bündnisses der drei »linken« Parteien in der Bundespolitik hofften auch manche Mitglieder an der Basis der SPD und der Grünen, mehr noch bestand eine solche Erwartung – und hier nicht nur am Rande und unten – in der Linkspartei. Die sozialdemokratische und die grüne Führungsgruppe freilich hatte klargestellt, solch eine Liaison komme nicht in Frage, nicht einmal die Duldung einer sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung durch die PDL wolle man dulden. Und weiten Teilen der sozialdemokratischen und grünen Anhängerschaft lag (und liegt) in bundespolitischen Fragen eine Verständigung mit der CDU/CSU sehr viel näher als ein Versuch, mit der PDL zurechtzukommen. Ein »linkes Lager« also, von dem aus gemeinsame Operationen hätten unternommen werden können, gab es nicht.
Inzwischen sprechen sowohl SPD als auch Grüne mit der CDU/CSU über die Bedingungen einer künftigen Bundesregierungskoalition, im Grundsätzlichen gibt es da keine Probleme.
Zur Zeit bemühen sich Repräsentanten der Linkspartei noch, das Bild von »Rot-Rot-Grün« nicht in der Versenkung verschwinden zu lassen. Das kann seinen Sinn darin haben, im Terrain der Sozialdemokratie und der Grünen an linke programmatische Aussagen vor der Wahl zu erinnern, wahlwerbende Auftritte dieser Parteien mit ihrer machtpolitischen Realität zu kontrastieren. Zum Trugbild würde diese linksparteiliche Vorgehensweise, wenn damit die Vorstellung unter die Leute gebracht würde, eigentlich existiere es doch – das »rot-rot-grüne Lager«. Rot, gleich zweimal, und ein Grün mit der Neigung zum Roten? In der parteipolitischen Wirklichkeit ist diese Farbkomposition nicht existent.
Arno Klönne
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hält, sondern man gibt vor, etwas für richtig und notwendig zu halten, von dem man glaubt, daß man damit eine Regierungsmehrheit bekommt. Deshalb empfiehlt Kretschmann wie eine Gebetsmühle die Mitte. Dort aber sitzt schon die CDU. Warum sollte man die Kopie wählen, wenn man das Original haben kann? Gemessen an Kretschmann scheinen manche CDU-Politiker, Angela Merkel eingeschlossen, eine empfindlichere soziale Ader zu haben.
Mit der Regierungsmehrheit ist das übrigens so eine Sache. Gerade Kretschmann hat bewiesen, daß er bereit ist, selbst die vorgetäuschten Ziele preiszugeben, wenn er über die Mehrheit erst einmal verfügt. Er hat sie gegen Stuttgart 21 erhalten, das jetzt mit ihm realisiert wird. Die Rechnung wird ihm bei den nächsten Wahlen ausgestellt werden wie schon jetzt bei der Bundestagswahl. So schnell können Mehrheiten zerfließen, die auf Kalkül und Lüge beruhen.
Wer genau hinschaute, konnte von Anfang an erkennen, was die eigentliche politische Funktion der Grünen sein sollte. Zu Beginn spielten Personen mit linken Wurzeln noch eine entscheidende Rolle, obwohl, was in Vergessenheit geraten ist, auch völkische und rechtsradikale Tendenzen in der Partei auf Gegenliebe stießen. Inzwischen aber dienen die Grünen als Stabilisatoren für den (kapitalistischen) Status quo. Reformbestrebungen stoßen nur so lange auf grimmigen Widerstand, wie ihnen zugetraut wird, daß sie die entscheidende Grundlage des bestehenden Systems, die Eigentumsverhältnisse bedrohen könnten. Die allgemeine Schulpflicht etwa oder das Frauenwahlrecht wurden zunächst bekämpft, weil die Herrschenden fürchteten, Bauern würden, wenn sie lesen und schreiben könnten, Revolutionen anzetteln, Frauen würden, wenn sie wählen dürften, das Parteiensystem umwälzen. Beides ist nicht eingetreten, und niemand bezweifelt mehr den Sinn von Schulpflicht oder Frauenwahlrecht. Sie sind ja auch, ebenso wie die beiden großen sozialen Bewegungen unserer Gegenwart, die Ökologiebewegung und die Frauenbewegung, ein Fortschritt. Aber die objektive Funktion sowohl der Ökologisten als auch der Feministinnen war es von Anfang an, den antagonistischen Gegensatz zwischen jenen, die über die Produktionsmittel verfügen, und jenen, die von ihnen abhängig sind, also zwischen Kapital und Arbeit (auch dies eine Formel, die nicht deshalb weniger richtig, weil schon recht alt ist), aus der öffentlichen Debatte zu entsorgen. Deshalb und nur deshalb konnten Ökologismus und Feminismus in die Programme aller Parteien Eingang finden. Sie und ihre maßgeblichen Klienten haben erkannt, daß ökologische Projekte und Technologien dem Umsatz nicht im Wege stehen müssen, das sich mit ihnen ebenso Profite machen lassen wie mit umweltzerstörenden, daß es Frauen als zusätzliche Konkurrenz erleichtern, Löhne zu drücken, und daß selbst eine Frau als Bundeskanzlerin die Herrschaftsverhältnisse nicht im Geringsten gefährdet.
Um die Spuren seiner politischen Herkunft zu verwischen, hat sich Kretschmann auf die Herkunft eines Teils der Grünen besonnen, auf die Anfänge mit Baldur Springmann und Herbert Gruhl. Und die vor dem KBW für die ideologische Sozialisation zuständig waren, begrüßen ihn mit einem Bibelwort in der Mitte, in ihrer Mitte: »Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.«
Der Moment der Wahrheit tritt spätestens an jenem Punkt ein, an dem Ökologie und Ökonomie zusammentreffen, nämlich bei der privaten Verfügung über die Ressourcen. Die Erkenntnis, daß die natürlichen Ressourcen endlich sind und daß mit ihnen verantwortungsvoll umgegangen werden müsse, spielte den Paten bei der Geburtsstunde des Ökologismus. Die private Verfügung über die Ressourcen stand einer ökologisch bewußten Politik und steht ihr bis heute im Wege. Wer Vergesellschaftung und Verstaatlichung ausschließt, wer sich stattdessen lieber zum Partner der »Wirtschaft« macht, hat die Ökologie schon zugunsten des Kapitals verraten und aufgegeben. Auch Kretschmann wird sich entscheiden müssen.
Kein vernünftiger Mensch wird Ökologismus oder Feminismus ernsthaft in Frage stellen. Aber man sollte aufhorchen, wenn andere Ziele und Werte, zum Beispiel Verteilungsgerechtigkeit, in deren Namen beiseite geschoben werden und zugleich gar noch »die Wirtschaft« als Partner herbeigesehnt wird. Winfried Kretschmann redet Klartext. Für ihn ist der Mindestlohn kein Wahlkampfthema. Zentral ist für ihn allein die Energiewende. Er will die Wählerschaft mobilisieren. Zu welchem Zweck? Damit er, als Partner der Wirtschaft, die bestehenden Verhältnisse zementieren kann. Ohne Verteilungsgerechtigkeit. Was spricht eigentlich gegen die CDU?