Am 14. Oktober 1993 starb der erste Soldat der Bundeswehr im Auslandseinsatz. Feldwebel Alexander Arndt wurde in Phnom Penh, Kambodscha, auf offener Straße erschossen. Er wurde 26 Jahre alt. Seitdem starben weitere 102 Bundeswehrsoldaten bei ihren Auslandseinsätzen, ob bei Verkehrsunfällen, Sprengstoffanschlägen oder im Gefecht. Bei einer erheblichen Anzahl von 26 Toten sind die Todesursachen mit einem Fragezeichen versehen, acht Tote werden als Suizid gemeldet. In Südosteuropa, von Albanien bis Georgien, und in Asien, vorwiegend Afghanistan, liegen ihre Einsatzgebiete, und nach wie vor ist die Antwort auf die Frage strittig: Wofür sind sie gefallen, warum? Die Regierung antwortet stereotyp mit den Interessen und der Sicherheit Deutschlands, ihrer Verpflichtung für Humanität und Demokratie. Doch dieser Unsinn wird mit jedem Kriegsschauplatz, auf den die Regierung Soldaten der Bundeswehr schickt, weniger von der skeptischen Bevölkerung geglaubt. Die Regierenden haben ein echtes Problem mit der mangelnden Kriegslust der Deutschen. Sie können sich nur auf ihre »Qualitätspresse« von FAZ und SZ bis Zeit und Welt verlassen, die unermüdliche Kriegsrhetorik verbreitet und an der kriegsmoralischen Aufrüstung ihrer Leserschaft arbeitet. Der Spiegel steht ihr nicht nach. Unerschütterlich glaubt er an das Gute im Krieg und titelt: »Die Deutschen müssen töten lernen« (Nov. 2007), »Wann dürfen Deutsche töten? Die Bundeswehr, Afghanistan und der Krieg im 21. Jahrhundert« (Nov. 2009), »Im Krieg. Deutsche Soldaten über das Töten und Sterben in Afghanistan« (April 2010).
Einer der zuverlässigsten und meistberufenen Kriegsapologeten, der Berliner Politologe Herfried Münkler, gibt eine eindeutige und in ihrem wissenschaftlichen Jargon besonders überzeugende Antwort. Bei den militärischen Interventionen in jenen Regionen, in denen die Staaten ihre zentralen ökonomischen und politischen Interessen gefährdet sehen, handele es sich, so Münkler, um die »Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern« (Münkler, H./Senghaas, D.: »Alte Hegemonie und Neue Kriege« in: Blätter 5/04). Entsprechend der militärischen Prägung jeder imperialen Ordnung müsse der Krieg als unvermeidbares Mittel der Absicherung eingeplant werden: »Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, daß an diesen neuen ›imperialen Barbarengrenzen‹ der Krieg endemisch wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in die Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum.« Als Proben dieses »Pazifizierungskrieges« dürfen wir die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak begreifen, die nur notdürftig mit der Anrufung der Menschenrechte und dem Kampf gegen Terror und Massenvernichtungsmitteln »legitimiert« werden konnten. Der »Verwüstungskrieg aus der Peripherie« meint die verschiedenen Terroranschläge seit dem 11.9.2001, wobei der Begriff absichtsvoll über das jeweilige Ausmaß der Verwüstungen beider Kriegsarten hinwegtäuscht. Ja, wir werden aufgefordert, »die Kategorie des Imperiums in Zukunft [...] als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates« zu akzeptieren. Das derart installierte imperiale Gewaltverhältnis muß deshalb als »Friedensgarant«, als »Aufseher über politische, kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen« gepriesen werden, wobei dem Autor offensichtlich sein Rückfall in wilhelminische Vorstellungen verborgen bleibt. Schon im Juni 1999 hatte Münkler die Deutschen aufgefordert, »den Krieg wieder [zu] denken«, und gewarnt, daß in der BRD »Gesinnungspazifisten« und »Rechtspazifisten« die Diskussion beherrschen (Blätter 6/99).
Die ungeschminkte Propagierung imperialistischer Ordnungsvorstellungen und die selbstverständliche Integration des Krieges in das politische Konzept weltweiter Herrschaftssicherung schließen ohne Bruch an die in den letzten Jahren in Europa entwickelten Handlungsmaximen für die Weiterentwicklung der EU an (Pflüger, T., Wagner, J.: »Europas Kriege der Zukunft«, in: Blätter 6/05). Die beiden Hauptkomponenten der Strategie, die Zustimmung der Bevölkerung zu erlangen, sind der Hinweis auf die Zwangsläufigkeit und Unvermeidbarkeit der Entwicklung sowie die humanistisch-humanitäre Ummantelung des explosiven Kerns. Die Behauptung von der zwangsläufigen Notwendigkeit militärischer Interventionen bedient sich der allmählich akzeptierten Überzeugung von der Unentrinnbarkeit aus der Globalisierung – ein Ergebnis, welches man vorwiegend durch die Betonung ihrer Erfolge und Vorteile sowie der Steuerbarkeit zum Segen der Gesellschaften erreicht hat. Die kriegsauslösende Bedingung wird dem Gegner zugeschoben, eine sich immer aufwendiger gestaltende politische Anstrengung. Die Ursprungs- und Schuldzuweisung ist nicht nur durch Fakten und Daten vom Gegner zu erbringen, sondern muß auch die eigene Zwangssituation überzeugend vermitteln. Dementsprechend arbeitet die Kriegsrhetorik mit einem Beipack positiver Konnotationen, die humanitäre, friedensstiftende, Unheil vorbeugende und demokratisierende Absichten vorgeben, wenn sie nicht überhaupt den Begriff des Krieges vermeidet.
Eine zentrale Rolle bei der Legitimierung des Krieges spielen die für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen zur Militär- und Sicherheitsstrategie, aus denen sich die jeweiligen »Doktrinen« ableiten. Sie sind das Ergebnis langjähriger zwischen Politik und Militär abgestimmter Planungen, die schließlich der Öffentlichkeit zu ihrer Einstimmung und Orientierung übergeben werden. So hatte die feierliche Unterzeichnung der neuen NATO-Strategie im April 1999 in Washington durch die Staats- und Regierungschefs aller aktuellen und zukünftigen Mitgliedstaaten nicht etwa das Ziel, den Konsens zwischen den politischen Führungen herzustellen, sondern diente allein dazu, die militärische Neuorientierung »urbi et orbi« zu verkünden. Eine derartige strategische Neuausrichtung der NATO von einer ursprünglichen Verteidigungsgemeinschaft in ein offensives weltweit operierendes Krisenregulierungsinstrument hätte eine ausdrückliche Veränderung des NATO-Vertrages erfordert. Die Tatsache, daß man sich mit einem einfachen Papier und einer feierlichen Zeremonie begnügte, zeigt zum einen die Stärke der Kohärenz unter den transatlantischen politischen und militärischen Führungsschichten. Zum anderen ist sie aber auch ein Indiz für die legitimatorischen Gefahren, die in einer formellen juristischen Absicherung durch die Änderung des Vertragstextes lagen. Ein solcher Prozeß hätte die Ratifizierung in jedem Mitgliedsstaat verlangt, der – wie jetzt im Ratifizierungsverfahren der EU-Verfassung demonstriert – eine Reihe von Unabwägbarkeiten mit sich gebracht hätte. Da sich die politischen Führungen auf die Verbindlichkeit der neuen Strategie für alle unterzeichnenden Regierungen verlassen konnten, verzichteten sie auf die unsichere demokratische Legitimierung durch Parlament und Volk. Diese wurde der NATO auf einem ganz anderen Schauplatz und unter vollkommen unvorhergesehenen Umständen am 11. September 2001 in New York nachgeliefert und durch die National Security Strategy der USA ein Jahr später noch einmal bestätigt. Der Schock des Terroranschlages erlaubte es der US-Regierung, nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern den ganzen Globus in einen permanenten Ausnahmezustand unter Beschwörung der weltweiten Gefahr des internationalen Terrorismus zu versetzen: Legitimation durch Drohung, die die NATO sofort nutzte, um sich in den zeitlich wie territorial unbegrenzten Krieg einzureihen.
Wie hinderlich die Kriegsverdrossenheit der deutschen Bevölkerung ist, zeigt die zögerliche Politik der Bundesregierung im Libyenkrieg und im Fall der Interventionspläne in Syrien – von den Medien heftig kritisiert. Doch man arbeitet daran. In die Schulen werden Offiziere entsandt. Und die um sich greifenden Initiativen an den Universtäten, die Forschung von Aufträgen und Finanzen aus dem Militär und der Rüstungsindustrie durch sogenannte Zivilklauseln frei zu halten, werden aktiv bekämpft. In der Zeitschrift für internationale Beziehungen werden Überlegungen diskutiert, ob sich die antimilitaristische Grundhaltung der Bevölkerung »mithilfe von Kommunikationsstrategien verschieben« läßt. Die Autoren sind davon überzeugt, entwickeln jedoch wenig Phantasie, und verfallen wieder auf die bereits weidlich ausgespielten Karten »humanitärer Aspekt« und »Bündnispflicht« (Mader, M., Schoen, H.: »Alles eine Frage des Blickwinkels? Framing-Effekte und Bevölkerungsurteile über einen möglichen Bundeswehreinsatz in Libyen« in: ZfiB 1/13).
Hundert tote Soldaten in 20 Jahren sind offensichtlich kein Anlaß, die Kriegspolitik in Frage zu stellen. Die Toten und Verwundeten der neuen Kriege seit 1999 – Hunderttausende Opfer –, die zerstörten und zerbrochenen Gesellschaften haben ebenso kein Umdenken hervorgerufen. Man errichtet lieber ein Denkmal für die gefallenen Kameraden – deutlich auf Zuwachs ausgelegt. Auch eine Rückbesinnung auf den ausschließlichen Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes findet nicht statt, denn, wie es die FAZ am 9. März 2003, kurz vor dem Überfall auf den Irak verkündete: »Wir brauchen das Imperium Americanum […] Irak ist nur der erste Schritt auf einem langen verantwortungsvollen und vielleicht auch blutigen Weg […] Das Imperium Americanum ist unsere Chance. Eine andere haben wir nicht.« Ein Weg verantwortungsloser Dummheit, wie wir an der Schwelle neuer Kriege feststellen müssen.