Anläßlich der Wahl eines Argentiniers zum neuen Papst ließ die Zeitschrift Ossietzky lateinamerikanische Politiker zu Wort kommen (8/13). Sie äußerten ihre Vermutungen zu den künftigen Schwerpunkten des Pontifex. Mögliche Baustellen gibt es im katholischen Haus ja zu genüge: die fehlende Demokratie in der Kurie und im Vatikanstaat, fehlende Rechte der Frauen und der unteren Gliederungen oder das Zölibat. Wirksame Aktionen gegen die Armut sahen die Politiker auf der Agenda des neuen Papstes nicht. Die Lateinamerikaner gehen aber davon aus, daß ein Hauptbetätigungsfeld im 21. Jahrhundert die Verhinderung des Sozialismus beziehungsweise seiner lateinamerikanischen Variante des »Buen Vivir« (Auskömmliches Leben) auf diesem Kontinent sein wird.
Ihre Einschätzungen stützen sich auf die traditionelle Rolle der katholischen Kirche an der Seite des ausbeutenden Kapitals und vor allem auf den Umstand, daß Franziskus I. aus Argentinien eine ähnliche Rolle wie Papst Johannes Paul II. aus Polen gegen die sozialistischen Länder spielen könnte.
Franziskus ist mit der speziellen politischen Materie gut vertraut. Er hat Johannes Paul II. bei dessen Gespräch mit Fidel Castro begleitet. Das dokumentiert sein Buch »Dialoge zwischen Johannes Paul II. und Fidel Castro«. Mehr noch: Nach reichlich fünf Monaten interner Prüfung in Rom durch die achtköpfige Kardinalskommission und der Abstimmung in den Gremien der Kurie hat der Papst im August 2013 Pietro Parolin zum Staatssekretär des Vatikanstaates ernannt. Der 58jährige Diplomat rückte zu einem der wichtigsten Vertrauten des Papstes auf. Bis 2009 hat Parolin über sieben Jahre lang maßgeblich die politische Linie des Vatikanstaates mitbestimmt, kommentierte die Berliner Zeitung vom 2.9.2013. Er leitete die schwierigen Verhandlungen mit Israel, Vietnam, und er bereitete die Reise von Benedikt XVI. 2007 nach China vor. In Rußland hat er die Errichtung katholischer Diözesen in einer Weise verhandelt, die zur Verstärkung der Spannungen zwischen Rußland und dem Vatikan führte. Als stärkstes Indiz gilt für die lateinamerikanischen Politiker indes sein Botschafterposten in Venezuela. In Caracas hatte Parolin ausreichend Gelegenheit zu analysieren, wie der soziale Gedanke in Lateinamerika an Kraft gewinnt. Die Erinnerungen an die historischen Widerstände und Tragödien werden dort wachgehalten. So an Guatemala (1954, 1992), an die Hungermärsche der Landlosen in Brasilien (bis etwa 2000), an Kuba (1959), die Dominikanische Republik (1965), Chile (1973), Nikaragua (1979), El Salvador (1986) oder an Mexikos Aufstand der Zapatisten (1994). Ereignisse, die die Verbesserung des oft miserablen Lebens in der unteren Etage der Gesellschaft verbessern sollten.
Wirtschaftswissenschaftler stufen die Zeit des scharfen Neokolonialismus der USA und der EU bis 1990 als Lateinamerikas zehn verlorene Jahre ein.
Parolin wurde mit den konkreten Umständen, die zur Theologie der Befreiung führten, persönlich vertraut. Nachdem ihre Anhänger von Benedikt XVI. mit Arbeits- und Redeverboten belegt wurden, wird ihre Bewegung nun wohl endgültig »ad acta« gelegt werden.
Eine helle Wolke steht derzeit über Rom: die Ablehnung militärischer Einsätze. Wenn auch andere politische Beweggründe den Papst dazu bewogen haben mögen, es ist ein gutes Signal.