Im ersten Stock drängeln sich noch immer die Besucher, im zweiten Stock: nur ein paar Menschen. Zwei Ausstellungen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Begehrt, die Bilder des Magnum-Fotografen Steve McCurry. Der Titel: »Überwältigt vom Leben« (verlängert bis 10. November). Etwa 120 Fotos, zwischen 1980 und 2012 entstanden, farbglühend und komponiert wie Gemälde, aus Ländern, meist östlich von Europa, auch aus Afghanistan und Kuwait. McCurry nennt sich selbst »Kriegsrandfotograf«. Und seine »Ränder« sind so schrecklich schön, daß es fast weh tut. Berühmt, das Portrait eines afghanischen, zwölfjährigen Mädchens mit ziegelrotem Tuch, das uns ernst und fragend aus aufgerissenen hellen Augen ansieht. In der Presseinformation heißt es, daß es zu den »meistpublizierten Kriegsmotiven« gehöre als »Sinnbild für den Krieg und seine Folgen«. 1984 – da war der Feind von heute noch Verbündeter – wurde das Bild zuerst veröffentlicht. Aus Kabul ein Foto von 1992: fünf mit Burka verschleierte Frauen, von hinten aufgenommen, vor einem Stand mit baumelnden Turnschuhen. Was reizte McCurry an dem Motiv? Der Gegensatz und der Farbrausch der Gewänder. Kein Kriegsmotiv. Malerisch, die Kamele vor brennenden Ölfeldern aus Kuwait. Und wie drohend, die Hand eines Toten aus dem Ölschlamm herausragend. McCurry gehe es vor allem darum, »eine Geschichte zu erzählen«, gesteht er selbst. Wunderbare Fotos, aber die Geschichten dahinter muß sich der Betrachter im Kopf zusammensetzen.
Hinauf in den zweiten Stock zu einer völlig anderen Ausstellung: »Kairo. Neue Bilder einer andauernden Revolution« (bis 17. November). Sie wurde für das Museum für Photographie Braunschweig und das Museum Folkwang Essen erstellt, in Hamburg aktualisiert. Was hier gezeigt wird, ändert sich jeden Tag. Wer die Räume betritt, fühlt sich sofort wie mitten zwischen den Aufständischen – akustisch. Die Protestgeräusche erzeugen Herzklopfen. Die O-Töne kommen von den Videos, die oft direkt auf den Tahrir-Platz in Kairo führen. Ein großes Foto macht unübersehbar klar, wie die vielen Aktivisten, Teilnehmer an den Demonstrationen, mit ihren hochgehaltenen Handys und Kameras alles dokumentieren. Auch schreckliche Szenen. Wie jene vom 17. Dezember 2011. Das Foto (und Video) zeigt, wie Soldaten auf dem Tahrir-Platz eine junge Frau schlagen und entblößen, es ist heller Tag, jeder kann es sehen – und aufnehmen. Das Video zeigt auch einen Soldaten, der mit seinen Stiefeln auf einem Mann herumspringt, wie auf einem Trampolin. Die Szene mit der entblößten Frau – in vielen Medien veröffentlicht als die »Frau mit dem blauen BH« – wird zum Auslöser für die größte Frauendemonstration in Ägypten. Etwas, das sofort auffällt, sind die vielen Frauen als Teilnehmerinnen und als Journalistinnen und Künstlerinnen. Alte Fotos (nach 1948) dokumentieren Studentenproteste, auch da schon viele Frauen.
Begleitinformationen zur Ausstellung geben kurz die politischen Proteste der Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien wieder und versuchen, Hintergründe deutlich zu machen. Die ägyptische Revolution wird auf den 25. Januar 2011 datiert, den »Tag des Zorns«. Wie wichtig das Internet als Info-Quelle ist, zeigt sich hier. Schon zwei Tage später wird das Internet vom Regime blockiert und eine Ausgangssperre verhängt. Der Protest gegen Korruption, Notstandsgesetze und die herrschende Armut war zu groß geworden. Einer, der aufrief, die Revolution ohne Gewalt zu vollziehen, war der Künstler Ahmed Basiony. Er war auf dem Tahrir-Platz dabei und machte Aufnahmen. Schnitt noch ein Video am 26. Januar. Am 28. brachten ihn Heckenschützen um. Seine Aufnahmen wurden auf der Biennale in Venedig 2011 gezeigt und 2012 auf der Documenta in Kassel. Seine letzten, bei Facebook veröffentlichten Beiträge: in der Ausstellung. Aus seinem Appell an die Aufständischen: »… Ihr wißt, daß dies eure letzte Chance auf Würde ist, eure letzte Chance, die Regierung zu wechseln, die die letzten dreißig Jahre überdauert hat. Geht auf die Straße und lehnt euch auf, bringt euch Essen mit, Kleidung, Wasser, Maskierungen und Verbandszeug und eine Flasche Essig (gegen Tränengas) und glaubt mir, es ist nur noch ein kleiner Schritt. Wenn sie Krieg wollen, wollen wir Frieden, und ich werde mich bis zuletzt beherrschen, um die Würde meiner Nation wiederzugewinnen.«
Was mit zu den Protesten führte, machen zwei Videos von Philip Rizk deutlich. Sie zeigen den Widerstand der Arbeiter der Textilfabrik Ahmonseto, ihre Sitzstreiks vor dem Parlamentsgebäude. Eine stillgelegte Fabrik. Und ein Bericht über Wasserknappheit im Fayyum-Becken. Die Felder vertrockneten. Ursache: Korruption von Parlamentsmitgliedern. Und die Agrarindustrie, die Unmengen an Wasser braucht. Ich sah im Video einen alten Mann, der verschämt lächelte und murmelte: »we died«. Das alles war vor der Revolution – und ihr Auslöser. Die ägyptisch-libanesische Künstlerin Lara Baladi erinnert sich in ihrer Videopräsentation, Recherche: »Alone, Together … In Medias Res« an eine Rede von Jean-Paul Sartre, die er vierzig Jahre zuvor an streikende Arbeiter der französischen Automobilindustrie gerichtet hatte. Die Fotos und Videos vom überfüllten Tahrir-Platz, vergleichbar mit Bildern von anderen Aufständen in Nahost und Nordafrika. Sie fand, »es war, als ob Sartre mit uns auf dem Tahrir-Platz protestierte«.
Ein Video im Internet brachte viele Empörte auf die Straße, ein Aufschrei. Ein junger Mann, Toussi, war im November 2011 von Uniformierten zusammengeschlagen und wie eine alte Matratze über die Straße gezogen worden, dahin, wo der Müll lag. Jasmina Metwalys Video drückt den Schmerz der Angehörigen aus.
Mosireen, ein Medienkollektiv aus Kairo, das nicht profitorientiert arbeitet, »Bürgerjournalisten«, gibt Tips und führt Schulungen durch, wie man sich wehren und schützen kann, auch Crashkurse über »revolutionäre Filmbearbeitung«. Ende Dezember 2011 wurden nahe des Tahrir-Platzes sogar Mauern errichtet, um das Parlamentsgebäude, das Innenministerium vor Protestierenden abzuschirmen. Die jedoch trugen die Mauer ab, Stein für Stein. Andere wurden bemalt, ganz illusionistisch, so als gehe die Straße weiter.
In der Ausstellung liegt ein Heft von Alex Nunns: »Die Revolution erzählt in Twitternachrichten« – vom Januar 2011 bis Juli 2013 (wird ergänzt bis heute), in deutsch und englisch. Unentbehrlich für jeden, der sich intensiver informieren will. Der Schriftsteller und politische Aktivist Nunns spricht von vier Phasen: die achtzehn Tage bis zum Sturz Husni Mubaraks, die Herrschaft des Obersten Militärrats (SCAF), die einjährige Präsidentschaft von Mohammed Mursi und die erneute Machtübernahme durch das Militär. Nunns fragt sich, »wer überhaupt eine objektive Darstellung davon geben kann, was in der Revolution geschehen ist«.