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Titel2114

Mutiges und Bedenkliches  (Winfried Wolk)

Am 18. September las ich bei heise online etwas fast Unglaubliches: Der ARD-Programmbeirat hatte auf seiner Sitzung im Juni 2014 die Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt in der größten öffentlichen Medienanstalt kritisiert. Die ausgestrahlten Inhalte würden teilweise den »Eindruck der Voreingenommenheit erwecken« und wären »tendenziell gegen Rußland und die russischen Positionen« gerichtet. Die Mitglieder des beratenden Gremiums hatten zuvor zahlreiche Beiträge über die Krise in der Ukraine analysiert und die dazu eingehenden Meinungen der Zuschauer, die eine so massive Kritik an der Ukraine-Berichterstattung zum Ausdruck brachten, daß der Beirat dies als »ungewöhnlich« einschätzte. Die Zuschauer hatten vor allem »Einseitigkeit zu Lasten Rußlands, mangelnde Differenziertheit sowie Lückenhaftigkeit« beklagt.

Auch mich hatte die erstaunliche Übereinstimmung von journalistischer Berichterstattung und offensichtlicher Zielstellung westlicher Politik geärgert und fatal an die Zensur- und Deutungspraktiken der Presseabteilung des ZK der SED erinnert. Und ich freute mich nun, daß ich mit meiner Empörung über diese Gleichschaltung nicht allein war. Immerhin verabschiedete der Programmbeirat seine kritische Einschätzung einstimmig.

Allerdings berichtete kaum eine Mainstream-Zeitung über dieses Ereignis, kein Spiegel, keine FAZ, keine SZ, noch nicht mal die ARD selber, lediglich der Tagesspiegel und das Handelsblatt erwähnten es. In der Zeitung Die Welt allerdings fand der Vorfall am 24. September Widerhall. Der Politredakteur Ulrich Clauß schrieb dort unter dem Titel: »Putins Arm reicht bis in die Gremien der ARD«, daß »der ARD-Programmbeirat ›antirussische Tendenzen‹ im Programm kritisiert. Das Verfahren erinnert an stalinistische Geheimprozesse. Protokolle sind nicht-öffentlich und die Programmrichter schweigen.« Das ist scharfer Tobak, obwohl Clauß weiß, daß ein »Gebot der Vertraulichkeit herrscht, bis die Beiratsmitglieder in ihren jeweiligen Rundfunkräten – dann allerdings öffentlich – Bericht erstatten«. Weil das etwas dauern könne, befürchtet Clauß, daß »bis dahin Putins Propagandakolonnen und ihre Hilfstruppen von links bis rechts hierzulande Beutemunition erster Klasse für ihre PR-Schlachten haben« und daß durch diese Kritik »das letzte bislang bestens beleumdete Heiligtum der Öffentlich-Rechtlichen, der Nachrichtenjournalismus« durch die eigenen Gremien in Mißkredit gebracht werde.

Der ARD-Programmbeirat definiert diejenigen, die Kritik an der Voreingenommenheit bei der Berichterstattung über die Krise in der Ukraine übten, »als bunte Mischung von Menschen, die ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen vertreten und so die gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln«. Ulrich Clauß bescheinigt diesen Menschen nun eine Neigung »zu ganz erstaunlicher Einfalt«, denn »wie inzwischen vielfach dokumentiert wurde, arbeiten zum Beispiel vom Kreml finanzierte Heerscharen von Facebook-Aktivisten an der Beeinflussung der deutschen Öffentlichkeit …« Weil die Programmbeiratsmitglieder bisher ihre Medienkritik nicht kommentierten, sah sich Clauß zu der Schlußfolgerung veranlaßt: »Da fühlt man sich doch – ganz passend zu Putins Restalinisierungspolitik – an sowjetische Geheimprozesse einer nur scheinbar überwundenen
Epoche erinnert.«

Ein demokratisch legitimiertes Gremium eines öffentlich-rechtlichen Mediums artikuliert Kritik und Bedenken ihrer zahlenden Nutzer. Das veranlaßt einen Polit-journalisten nicht nur, ein demokratisches Prozedere in die unmittelbare Nähe sowjetischer Geheimprozesse zu rücken, sondern darüber hinaus die kritischen Bürger als von »erstaunlicher Einfalt« abzuqualifizieren.

Welches Signal geht von solch einem Artikel aus? Führt er nicht mit seinen Unterstellungen und Behauptungen alle Prinzipien eines sogenannten demokratisch-freiheitlichen Journalismus ad absurdum? Doch der Artikel von Ulrich Clauß und die einseitige Art der ARD-Berichterstattung über die Ukraine-Krise sind keine Einzelfälle in unserer Medienlandschaft.

Da titelte Bild am 21. Juli, vier Tage nach dem Abschuß der Malaysia-Airlines-Maschine MH 17 über der Ukraine: »Wann stoppt die Welt endlich Putin?« Und weiter: »Die Todesrakete kam aus Rußland.« An gleicher Stelle ist zu lesen: »Was muß noch geschehen, bis die Welt aufwacht und Putins Terror in der Ostukraine stoppt?« Und Ernst Elitz fordert in der gleichen Ausgabe unerbittliche Zwangsmaßnahmen: »Wehrt Euch endlich gegen Putin, weil Putin die Menschenrechte nicht achtet. Er hilft, ein Verbrechen zu vertuschen, das die Welt erschüttert.«

Bis heute sind die Gründe für den Absturz unklar, ein Schuldiger dafür nicht konkret auszumachen (s. Ossietzky 20/14). Das allerdings stört niemanden, denn auch ohne jeden Beweis ist klar: Putin ist schuld, wer sonst. Selbst der Spiegel fährt diese Linie, indem auf dem Titelbild vom 28. Juli die Forderung »Stoppt Putin jetzt« in fetten Lettern inmitten der Fotos der beim Absturz Umgekommenen gesetzt wird. Bild legt am 1. September verschärfend nach mit ihrem in Riesenlettern auf der Titelseite prangenden Alarmruf: »Putin greift nach Europa!«

Erfreulicherweise gibt es aber auch andere Stimmen. So schreibt Albrecht Müller in den NachDenkenSeiten vom 15. März: »Wir leben seit langem in einer Kultur der Vereinfachung, der double standards ... Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Welt ist einfach: hie gut, da böse. Aber leider ist dieses Bild zu einfach. Tatsache ist nämlich, daß der Westen unter der Führung der USA und der NATO seit den 90er Jahren … verstärkt eine Strategie der Machtausweitung und … eine Politik der Zurückdrängung Rußlands verfolgt. In den letzten Jahren beteiligte sich zunehmend die EU an der Umzeichnung der geopolitischen Landkarte.«

Julian Nida-Rümelin stellt im Stern vom 29. Juli fest, daß sich »im Ukraine-Konflikt der Westen auf Wladimir Putin eingeschossen hat … Die Vorwürfe gegen Putin klingen stark nach Kriegs-Propaganda. Wie im Falle des Irak-Krieges des damaligen US-Präsidenten George W. Bush zeigen auch die deutschen Medien auffallend wenig Resistenz gegen eine Ideologisierung der Außenpolitik des Westens. Daß eine solche Ideologisierung von Rußland aus, offenbar auch mit einigem Erfolg, betrieben wird, überrascht nicht. In einer voll entwickelten Demokratie erwartet man aber etwas anderes, nämlich eine gewisse kritische Distanz gegenüber NATO- und CIA-gesteuerten Informationen.«

Und Gabor Steingart beklagt im Handelsblatt vom 8. August eine »Politik der Eskalation« und stellt fest, daß »der deutsche Journalismus binnen weniger Wochen von besonnen auf erregt umgeschaltet« habe. »Das Meinungsspektrum wurde auf Schießschartengröße verengt. Blätter, von denen wir eben noch dachten, sie befänden sich im Wettbewerb der Gedanken und Ideen, gehen im Gleichschritt mit den Sanktionspolitikern auf Rußlands Präsidenten Putin los.« Steingarts Resümee: »Westliche Politik und deutsche Medien sind eins.«

Wenn die Medien ihre Aufgabe, unabhängig, ausgewogen und sachlich zu informieren, wieder erfüllten, sich nicht von den politischen Strömungen instrumentalisieren ließen und auf jede Angst- und Scharfmacherei verzichteten, würde das den Souverän, nämlich das Volk, in die Lage versetzen, eine realistische Sicht auf die Ereignisse zu entwickeln und sich mündig an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. War das nicht immer genau das, was freie Journalisten stolz als ihre Aufgabe formulierten?

Immerhin, der ARD-Programmbeirat hat ein Zeichen gesetzt. Daß man das nicht als normalen Vorgang, sondern als mutig bezeichnen muß, ist bedenklich.