Der Malersaal des Hamburger Schauspielhauses ist zum Museum geworden. »Pfeffersäcke im Zuckerland« wird gezeigt. Gedämpftes Licht, damit die Ausstellungsstücke nicht leiden. Die werden präsentiert in Glaskojen: Menschen. Nicht wie bei Hagenbeck um die Jahrhundertwende die Fremden, Wilden, nein, das hier scheinen zivilisierte Europäer zu sein – auch wenn sie aus Brasilien kommen. Karin Beier, die Intendantin und Regisseurin hatte die Idee. Sie konfrontiert Hamburg – das im 19. Jahrhundert viele Einwohner verließen, um in Südamerika ihr Glück zu finden – mit diesen Deutschen oder Deutsch-Brasilianern und ihren Nachkommen. Echt sind die nicht, Schauspieler müssen sich in den engen Glaskäfigen drängen. In jeder numerierten Koje ein Exponat. Die Besucher erhalten Kopfhörer und die Möglichkeit, frei zu wählen, zu welchen der 13 Käfige sie Kontakt aufnehmen wollen. Denn: Die Exponate sprechen, erzählen ihre Geschichte. Das Programmheft hilft weiter, und ein paar Requisiten verweisen auf ihre Herkunft: Bücher deutscher Klassiker, Fotos, Musikinstrumente, Geige bevorzugt. Drei der Ausstellungsstücke sind Frauen. In Nr. 13 singen Kinder in Puffärmelblusen, Leibchen, Zöpfe um den Kopf gesteckt. Wie aus dem Märchenbuch. Vitrine 3: Ottilie Kurz, heute 93 Jahre alt – nicht ihre Darstellerin. Der Kampf mit dem Urwald, mit einer Riesenschlange. Ottilie preist selbst ihren Mut. Nr. 8, eine Professorin für Gesang, begeistert von Wagner. Die dritte der Frauen, in Kabine 6, Anna von Hülsten, heute nennt sie sich Olayinka, ist Voodoo-Priesterin geworden. Die einzige, die alles, was deutsch war, abgelegt hat. 1946 ist sie in Hamburg-Altona zur Welt gekommen. Ihren Stiefvater brachte ein Direktorenposten bei Volkswagen nach São Paulo. Nur sie spricht von den deutsch-brasilianischen Nazis und den »echten«, die nach dem Krieg dorthin flohen. Voodoo-Erfahrung? Sie hat Ethnologie studiert.
Dazu in Nr. 4: Robert Kranz, mit einer bewegten Vita. Er sitzt eingepfercht in einem Holzbottich. Weil er jetzt, ganz harmlos, auf einem Bauernhof bei Blumenau sich der Landwirtschaft widmet? Seine Geschichte zog mich an, ich hörte das Wort »Euthanasia«. Warum? Er hat Clausewitz übersetzt. Er hat die brasilianischen Generäle beraten, vor und nach der Diktatur. Er war beim Geheimdienst und an der brasilianischen Militärakademie. Und mehrere Jahre in Deutschland (wo er nicht geboren ist) – die Nazis lernte er dort schätzen. Er lobt seine Überlegenheit, die er der deutschen Tüchtigkeit verdankt. Stolz ist er auf sein Deutschtum. In Vitrine 5 sitzt einer, der ständig vom Essen schwärmt. Die Deutschen, die haben die Wurst hierhergebracht und Kochkäse und Grünkohl. Aber die »Caboclos« verstehen es nicht zuzubereiten, die lernen das nicht. Ein Schäferhund-Foto an der Glaswand. Der Kabineninsasse ist Chef der Polizeidienststelle in Santa Catarina, berät auch mal deutsche Firmen.
Meik Oliveira in Nr. 7 ist 1983 geboren. Sein Vater – einer der reichsten Menschen Brasiliens. Der Sohn sieht das Land als Schlaraffenland – für Deutsche. Er zählt die Rohstoffe auf: »Es ist alles einfach da und wartet auf dich.« Aber auf das Können kommt es an. »Du mußt es richtig aufziehen. Präzise, diszipliniert. Deutsch.« Das Imperium seines Vaters: Minen, Ölbohrplattformen, Fabriken, Hotels, Krankenhäuser, ein eigener Hafen. Sohn Meik tritt in die väterlichen Fußstapfen. Seine Kinder nannte er Odin und Thor. In Kabine 9, ein Musiker, er spielt in kleinen Orchestern in der Provinz. Sein Kabuff teilt er mit einer alten Schreibmaschine und vielen Fliegen (echt). Über die Einheimischen: »Ehre ist hier kein Wert … Ich verteidige die Ehre und Transparenz. Das ist mein deutsches Blut.« Er ist Vorsitzender eines Alpenvereins.
Zweiter Teil: »Strahlende Verfolger« von Elfriede Jelinek. Die Zuschauer sind auf Stühle an den Rand gedrängt. Drei Aufseherinnen erscheinen in adretten weißen Blusen, mit Mütze. Keine Deutschen – brasilianische Eingeborene. Eine mit schwarzer Haut. Flüstern: »Der Deutsche ist zwar einzigartig, es ist überall einer, er ist nicht einer allein, sonst gäbe es ihn längst nicht mehr.« Jelineksche Assoziationsketten. Wie ein Kommentar zu den lebenden Bildern, die Aussagen auslotend. »Der Deutsche mißt sich dort aus, damit er weiß, wieviel Platz er woanders benötigt. Er mißt, zählt, wägt ab, mit Vernunft, die ist sein Maßstab und dann mißt er seine Vernunft aus und verschwindet sofort darin, weil …« Keine Bewunderung, sondern nüchterne Feststellung oder Nachhall der Monologe. »Meine Aufgabe ist, das Dunkel zu beseitigen, damit man alles gut sieht« sagt die Aufseherin mit der Taschenlampe, »damit man sieht, daß alles der Deutsche ist und alles andere auch der Deutsche. Der Rest ist Deutschland, wo auch immer.« Von irgendwoher tönt der Gauck-Satz: »Dies ist ein gutes Deutschland.«
Nr. 5 rebelliert in seiner Kabine, bricht aus. Die andern versuchen, ihn zu beruhigen. Ein inszenierter Protest. Jeder ist doch zufrieden in seinem Glashaus. Oder doch nicht? »Alles ist zu, nur der Deutsche ist offen … Kein Problem mehr für ihn, das Offensein. Nachdem er sich halb Europa geöffnet hat, ist Europa jetzt endlich eröffnet, leider tausend Jahre zu spät, aber immerhin«, stellt die Aufseherin resigniert fest. Eingestreut, Sprachfetzen von Politikern, so vertraut: »Multi-Kulti ist tot« und »… wenn sie es bis zu uns schaffen …«
Beinahe alle drängen sich nun in Vitrine 3 zusammen, die ist etwas länger, dennoch herrscht Enge. Ottilie Kurz, die mutige Schlangenbezwingerin, hat ein Gewehr. Fühlen sie sich verfolgt? Bei der Wärterin ist der »Verfolger, der Deutsche, immer noch er, der schon wieder, der verfolgt mich …« Hundebellen im Raum. Ein Lichtstrahl ins Publikum. Kinder auf der Bühne, immer mehr. Sie betrachten die seltsamen Exponate hinter Glas. Dann liegen sie alle plötzlich am Boden. Nun wagen sich die Kabinen-Bewohner hervor, prüfen die regungslos Daliegenden. Tot? Schleppen sie weg. Die Kinder, einheimisch Eingeborene – in Rezensionen hieß es; »mit Migrationshintergrund«. Was bedeutet das hier – wo ist das? Ein Gauck-Satz zum Schluß: »Nicht weil wir die deutsche Nation sind, dürfen wir vertrauen, sondern weil wir diese Nation sind.«