In Portugal, Spanien und Griechenland schließen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens auf Geheiß der Troika die Tore, und für die Normalbevölkerung betreiben wieder freiwillige Barfußärzt_innen und barmherzige Pflegende Notversorgung, in ärmlichen Räumen mit dem, was vorhanden ist oder gespendet wird. Wer noch Restersparnisse hat, kratzt diese zusammen, um seinen erkrankten Verwandten die Behandlung im Ausland zu finanzieren, wenn im Inland die entsprechenden Privatkliniken nicht »helfen« können oder aus Budgetgründen nicht wollen.
Bei uns ist die Zwei- oder Drei-Klassen-Medizin komplexer. Die Gegenwart und Zukunft des Gesundheitswesens, das dem Profitprinzip unterworfen wurde und zur Gesundheitswirtschaft beziehungsweise zum Gesundheitsmarkt mutierte, stellt sich als Paradox von »Über- und Unterversorgung« zugleich dar.
Die interessierten Branchen haben in der ersten Phase der »Modernisierung und Industrialisierung« der Medizin seit den 1970er Jahren in Kooperation mit den Trägern der Sozialversicherung, besonders den gesetzlichen Krankenkassen, Standards gesetzt, Erwartungshaltungen produziert und Versorgungsstrukturen geschaffen (Parallelität von Großkliniken und mittelständischen Privatpraxen bei Verbot von öffentlichen Polikliniken). Dann, nachdem die Aufbauphase abgeschlossen war, geriet das Gesundheitswesen als zu teuer in die Kritik.
Die sogenannte Kostenexplosion, von der seither die Rede war und ist, hätte jede_r weitsichtige Planer_in vorausberechnen können. Es gab genügend Nachbarstaaten, die andere Wege gingen und gleichwohl ein modernes öffentliches Gesundheitswesen hatten. Doch verließen sich damals alle Akteure – auch die Repräsentanten der Lohnabhängigen – auf eine scheinbar für immer gesicherte Vollbeschäftigung – und damit auf volle Sozialkassen. Sie folgten der Argumentation des Gemeinsamen Bundesausschusses der Kassenärzte und Krankenkassen kritiklos bei jeder Entscheidung über die Kostenübernahme für immer teurere gerätegesteuerte Diagnostik und immer neue Produkte der Pharmaindustrie. Die Lohnabhängigen und Rentner_innen wollten und sollten schließlich als Kassenpatient_innen nicht schlechter behandelt werden als die privat Versicherten. Auf die Idee, die Qualität und den konkreten Nutzen der immer neuen Produkte und Verfahren unter die Lupe zu nehmen, kam man erst, als der point of no return längst überschritten war.
Angefixt wie wir nun einmal sind, wenn wir zu denen gehören, die regelmäßig unsere Arztbesuche absolvieren, den Vorsorgeempfehlungen folgen und unserem Alterungsprozeß kühn die Stirn bieten, in dem wir den Ratschlägen der Apostel der Verhaltensprävention folgen, haben nicht nur wir Patient_innen längst den Überblick verloren: Was ist sinnvoll, was überflüssig, was läuft auf Geldschneiderei heraus und was – wie die Verhältnisprävention, die Bekämpfung krankmachender gesellschaftlich verursachter Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen – ist ganz auf der Strecke geblieben?
Inzwischen muß auch nicht mehr viel privatisiert werden. »Die Märkte« haben längst gesiegt, und wer ökonomisch überleben will als Rädchen in der Gesundheitswirtschaft, muß das Spiel mitspielen. Als Kassenpatient_innen erfahren wir nun immer häufiger die Kehrseite jeder Abhängigkeit: Es droht Entzug, wenn wir nicht bereit sind, selbst in die Tasche zu greifen, für das begehrte Medikament, die Heilung oder Linderung versprechende Therapie, die erhoffte hilfreiche Rehabilitationsbehandlung.
Noch ist es nicht so, daß man uns, wie in den Ländern der Peripherie, die Behandlung komplett verweigert – wenn wir denn keine »sans papiers«, Wohnungslose oder aus anderen Gründen nicht mehr Krankenversicherte sind. Man braucht uns, die wir noch zur Spezies der Kassenpatient_innen gehören, als Kund_innen. Bis zum letzten Atemzug sollen wir als Absatzmarkt, als willige Konsument_innen dem System dienen, das uns eine immer längere Lebensdauer verheißt und das mit unseren Ängsten vor dem Tod und den nicht medikamentös zu behandelnden Gebrechen sein Geschäft zu machen weiß. Und das fatale ist: Wir haben letztlich keine Wahl.