Seit dem 10. Oktober weiß ich es definitiv: Ich habe den falschen Beruf. Reporter hätte ich werden müssen, am besten Reporter im Spiegel-Hauptstadtbüro wie Alexander Neubacher. Dann wüsste ich auch ganz genau, wie die Welt tickt, müsste mir nicht alles mühsam zusammenreimen und am Ende nicht schamhaft bekennen, dass ich in Wirklichkeit doch nichts verstanden habe. Anders ein solcher Reporter, der eine halbe Stunde, bevor die Demonstration gegen TTIP am Berliner Hauptbahnhof überhaupt begann, bereits alles wusste. Da hatte er schon seine Kolumne im Spiegel online veröffentlicht, in der er die Hintergründe und auch die Drahtzieher der Demonstration schonungslos entlarvt. Ich, in meiner unglaublichen Naivität, wusste das alles selbstverständlich nicht und bin dort einfach mitgelaufen. Sogar meine unschuldigen Enkelinnen habe ich mit hineingezogen in dieses »Schauermärchen vom rechten Rand«. Dass die Kampagne gegen den Freihandel »wie auf dem braunen Mist gewachsen« ist, hatte Herr Neubacher, im Gegensatz zu mir, längst erkannt.
»Die dümmsten Parolen auf den Anti-TTIP-Plakaten bedienen dabei genau jene Ressentiments, mit denen in rechten Kreisen schon immer gegen »die Hochfinanz«, »die Konzerne« und »das Kapital« gehetzt wurde«, schreibt Neubacher. Ich bewundere seine Sehergabe. Wenn der Artikel, wie zu ersehen, 11:32 Uhr ins Netz gestellt wurde, die Demonstration aber erst um 12 Uhr startete, kann er, auch wenn er ein Wahnsinnsschnellschreiber wäre, eigentlich kaum eines dieser Transparente gesehen haben. Auch hat er mich und viele andere Demonstrationsteilnehmer analysiert, ohne uns zu sehen oder ein Wort mit uns zu wechseln, und festgestellt, dass »die Geisteshaltung im Kern dumpf nationalistisch ist«. Der von einigen Politikern in solchen Zusammenhängen gelegentlich gern gebrauchte Begriff »Pack« wurde von ihm allerdings nicht benutzt. Ich selbst konnte weder dumme Parolen noch Hetze entdecken, stattdessen erschien mir die gesamte Veranstaltung fröhlich, überaus friedlich, ja sogar mit ausgesprochen phantasievollen Ideen angereichert. Selbst am Rande, dort, wo die Demonstranten vorbeizogen, erlebte ich höchst anspruchsvolle Aktionen. Dass langfristig gültige Verträge solcher Tragweite, die im Geheimen verhandelt werden und wo der eine Partner Vorstellungen entwickelt, die mit demokratischen Grundsätzen überhaupt nichts gemein haben, aufmerksame Bürger so sehr beunruhigen, dass sie ihre Bedenken auf die Straße tragen, spricht doch eigentlich für geistige Lebendigkeit. Immerhin heißt es im Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausginge. Und da das Volk, also der Souverän, gerade beim Freihandelsabkommen TTIP absolut im Ungewissen gehalten wird, was die Informationen über die Details angeht, scheinen mir derartige Demonstrationen absolut berechtigt. Aber was weiß ich schon, in der Provinz lebend, von diesen Dingen. Es mag ja sein, dass sich geistige Dumpfheit häufig mit ungewöhnlichen Ideen und großer Phantastik tarnt und tatsächlich freche Lügen als die reine Wahrheit verkauft werden.
Allerdings kann es natürlich sein, dass bei diesem der Vorstellung des Spiegel-Reporters entsprungenem Konstrukt irgend eine Synapse falsch verknüpft war, denn im Gegensatz zu dessen Erkenntnissen verortet Herr Lindner, immerhin Vorsitzender der FDP, zwar jetzt eine kleine, unbedeutende Splitterpartei, früher aber einmal mitregierend, das Protestpotential ganz anders, wie auf der Website der Partei zu lesen ist. Dort steht, dass die Kritik an TTIP nur vorgeschoben wäre, um in Wahrheit plumpen Antiamerikanismus und altlinke Vorurteile gegen die Marktwirtschaft zu tarnen.
Nun bin ich aber wirklich verunsichert und frage mich, wo sie denn nun hingehören, die Demonstranten gegen TTIP, in die linke oder die rechte Ecke? Eigentlich sind das Richtungen, die unvereinbar sind. Wenn aber die Erde eine Scheibe ist und man dann lange genug am Rande entlang nach links läuft, könnte es sein, dass man irgendwann doch auf der rechten Seite ankommt. Wenn ich mich richtig erinnere, ist die Erde aber keine Scheibe.