Der US Public Interest Research Group Education Fund und die Citizens for Tax Justice, eine 1979 ursprünglich von den Gewerkschaften gegründete Non-Profit-Organisation und Forschungsgruppe, deren Ergebnisse sowohl von demokratischen als auch republikanischen Administrationen herangezogen worden sind, haben in einer neuen Studie (»Offshore Shell Games 2015«, nachfolgend kurz CTJ-Studie) untersucht, welche Steuereinnahmen dem US-Staat in einem Jahr (2014) durch Steuerhinterziehung seitens der 500 größten, US-basierten, transnationalen Konzerne entgehen. Zugrunde liegen der Studie offizielle Konzernangaben bei der US-Börsenaufsicht. Nach Angaben der Autoren nutzen wenigstens 72 Prozent aller Konzerne, die es auf die »Fortune 500«-Liste der größten Wirtschaftsunternehmen der USA geschafft haben, Scheinfirmen in Steueroasen, um mit ihrer Hilfe der Versteuerung ihrer Profite, das heißt des von ihnen privat angeeigneten Mehrwerts, zu entgehen. Zusammen versteckten diese 358 Großkonzerne allein im untersuchten Jahr 2,1 Billionen US-Dollar in notorischen Steueroasen wie den Bermudas und den Cayman Islands, wo ein einziges fünfstöckige Haus, das Ugland House, die Adresse für sage und schreibe 18.857 Briefkastenfirmen ist. Dies ist möglich, weil das US-Recht es für die Konzerne nicht einmal verpflichtend macht, mehr als bloß ein Postfach auf den Cayman Islands zu unterhalten.
Aber nicht nur die paradiesischen Inseln, sondern auch sonnenärmere EU-Staaten wie Irland, Luxemburg und die Niederlande und dazu der europäische Nicht-EU-Staat Schweiz sind mittlerweile beliebte Steuerhinterziehungsparadiese für die Fortune-500-Konzerne. So fand 2008 etwa der Forschungsdienst des US-Kongresses heraus, dass die US-basierten, transnationalen Konzerne den Steuerbehörden gegenüber angaben, zusammen 43 Prozent all ihrer ausländischen Umsätze in nur fünf Steueroasen (Bermuda, Irland, Luxemburg, Niederlande, Schweiz) gemacht zu haben, während zugleich aber nur vier Prozent ihrer Beschäftigten und sieben Prozent ihrer Auslandsinvestitionen mit denselben fünf Ländern verbunden waren. Dabei gehen von den 2014 insgesamt hinterzogenen 2,1 Billionen US-Dollar nach Angaben der Studienautoren 65 Prozent, das heißt knapp zwei Drittel – buchstäblich – auf das Konto von nur dreißig der allergrößten Konzerne, darunter Apple, General Electric, Microsoft, American Express, Nike, die Bank Morgan Stanley und der US-Pharmagigant Pfizer. Allein das Unternehmen Apple, das im Juli dieses Jahres die 200 Milliarden US-Dollar-Marke nichtinvestierter Cash-Reserven überschritt, weil es im zeitgenössischen Geringwachstumskapitalismus unter Austeritätsbedingungen an profitablen Anlagemöglichkeiten mangelt (weshalb auch die globale Zentralbanken-Konjunkturpolitik des billigen Geldes im Grunde wirkungslos verpufft), hat im letzten Jahr 181,1 Milliarden US-Dollar dem US-Fiskus vorenthalten.
Eine Untersuchung des US-Senats fand im Frühjahr 2013 heraus, dass der Apple-Konzern mithilfe eines perfiden Staatsbürgerschaft-Steuerhinterziehungs-Arrangements auf den größten Teil seiner Auslandsprofite keinem Staat der Welt auch nur einen einzigen Cent an Steuern zahlt. Der CTJ-Studie zufolge entgingen dem US-Staat jedenfalls im Untersuchungsjahr 2014 allein durch den Apple-Konzern auf diese Weise 59,2 Milliarden US-Dollar an Steuern. Insgesamt, so das Fazit der Studie, entzögen die Fortune-500-Konzerne dem US-Staat jährlich Steuern im Gesamtumfang von 620 Milliarden US-Dollar!
Dies ist eine gigantische Summe, für die man Vergleiche heranziehen muss, um ihre Bedeutung für das Leben der einfachen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner zu verdeutlichen: Die Summe von 620 Milliarden US-Dollar entspricht im Staatshaushalt 2015 der US-Regierung fast den Gesamtausgaben des Staates für die Rentenversicherung (»Social Security«), die sich auf 861 Milliarden US-Dollar belaufen. Sie entspricht auch mehr als dem Sechsfachen der Gesamtausgaben der US-Bundesregierung für »Bildung, Weiterbildung, Beschäftigung und Sozialdienste«, die 96 Milliarden US-Dollar betragen. Sie entspricht außerdem annähernd den Gesamtausgaben der USA des im Management der globalen Krise und im Kampf gegen die finanzielle Kernschmelze, als für das historische US-Krisenkonjunkturprogramm von 2009 787 Milliarden US-Dollar aufgewendet werden mussten.
Indes sind sich republikanische Präsidentschaftskandidaten wie die drei Rechtsaußen Ted Cruz, die jüngst aus dem Rennen ausgeschiedene Tea-Party-Ikone Scott Walker und der unvermeidliche Donald Trump selbst für die Sorte Zynismus nicht zu schade, die (einstweiligen) Kosten von Obamas Plan zu geißeln, 10.000 Menschen aus Syrien aufzunehmen, die ja immerhin vor den Auswirkungen der verheerenden Kriegspolitik mehrerer US-Regierungen in der Region fliehen mussten. So oder so: Schlaue Leserinnen und Leser ahnen jetzt schon, wie viele Male das gesamte Budget der US-Flüchtlingshilfe von den hinterzogenen Steuern bezahlt werden könnte. Zieht man die letzten Zahlen des US Refugee Admissions Program (USRAP) heran, das 2013 über einen Haushalt von 310 Millionen US-Dollar verfügte, dann entspricht die Summe der Steuerhinterziehung der Fortune-500-Konzerne sage und schreibe dem 2000fachen der US-Ausgaben für Flüchtlinge!
Man könnte die Problematik mit einem berühmten Satz des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler zusammenfassen: »Es gibt auf der Welt Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.« Die Rechtspopulisten aller kernkapitalistischen Länder des »Westens« geißeln zwar gern das, was sie (böse) »Wirtschaftsflüchtlinge« nennen und den »Kriegsflüchtlingen« gegenüberstellen, die sie zumeist zwar auch nicht mögen, aber denen man – gemäß dem geltenden Verfassungsrecht – dann doch wohl oder übel Asyl gewähren müsse. Die CTJ-Studie belegt aber – ähnlich wie das 2014 erschienene wichtige Buch »Steuer-oasen: Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird« des Piketty-Schülers Gabriel Zucman – eindrucksvoll, dass die eigentlichen Wirtschaftsflüchtlinge das Großkapital und die großen Vermögensbesitzer sind.
Was ist aber vor dem Hintergrund dieses Tatsachenbestands mit denjenigen, die trotzdem in den USA genauso wie hier in Deutschland die verschiedenen Gruppen der Schwachen (aber im kollektiven – gewerkschaftlichen und politischen – Zusammenschluss potentiell doch so Starken) gegeneinander ausspielen: Niedriglöhner gegen Flüchtlinge, Arbeitslosengeld-Empfänger gegen Flüchtlinge, Rentner gegen Flüchtlinge? Die jene rassistischen Stimmungen schüren, die etwa in Deutschland dazu geführt haben, dass nach Angaben der Antonio-Amadeu-Stiftung von Jahresbeginn bis Ende August 272 Brandanschläge und andere Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte stattgefunden haben (Zeit online, 26.8.2015)? Die zu diesem Klima des (Etabliertenvorrechte-)Hasses beitragen, indem sie wie der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble jüngst die Bereitstellung von Mitteln zur Gewährleistung des immerhin verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Asyl an Kürzungen im nächsten Bundeshaushalt im Umfang von 2,5 Milliarden Euro koppeln? Oder indem sie wie der Chef des ifo-Wirtschaftsinstituts Hans-Werner Sinn behaupten: Das »Rentenalter muss steigen, um Flüchtlinge zu ernähren« (Die Welt, 7.10.2015) – und das, obwohl selbst die konservative FAZ regelmäßig jubelt, die Flüchtlingskrise wirke aufgrund der neugeschaffenen öffentlichen Stellen wie ein kleines Konjunkturprogramm (vgl. FAZ, 14.9.2015 und 8.10.2015). Selbst bürgerliche Ökonomen mit Buchhaltermentalität von der Bertelsmann-Stiftung fanden in einer Untersuchung (»Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt«) heraus, dass zwei Drittel der Deutschen davon ausgehen, »Zuwanderung [belastet] die Sozialsysteme«, während gegenteilig die (jungen) Neuankömmlinge letztlich im Durchschnitt pro Jahr 3.300 Euro mehr in die Sozialkassen einzahlen würden, als sie durch die Anfangsausgaben für ihre Integration »kosteten«.
Der exemplarisch anhand der USA aufgezeigte Tatsachenbestand, dass selbst in den engen Grenzen des Kapitalismus – eine systematische Schließung der Steuerschlupflöcher und die Besteuerung der global aufgehäuften Geld- und Kapitalvermögen immer vorausgesetzt – theoretisch immer genügend Geld vorhanden ist, weshalb die »Willkommenskultur eine Klassenfrage« ist, wie Anne Steckner jüngst im neuen deutschland (12.10.2015) treffend schrieb, wirft eine zentrale Frage auf, die man mit anderen Studien mit ganz ähnlichen Befunden auch in Deutschland aufwerfen möchte: Werden die Konservativen und Rechten, die grundsätzlich dazu neigen, Großkonzerne zu deren privat angeeignetem Vorteil juristisch als Quasiindividuen anzusehen, während sie gleichzeitig reale Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut fliehen, wie Dinge und Kostenfaktoren behandeln, eigentlich dafür bezahlt, dass sie den Interessen des transnationalisierten Großkapitals dienen? Etwa, indem sie die Tatsachen über das Ausmaß der kapitalen Steuerhinterziehung verschweigen oder nicht bekämpfen und indem sie stattdessen lieber den Zorn der Bevölkerung über Verarmung, Prekarisierung und zerfallende Infrastruktur gegen schwächere Menschen und das Menschenrecht auf Asyl richten. Oder erkennen sie nicht, wer ihr wirklicher Feind ist, der ihren Lebensstandard und ihre Lebensweise bedroht?
Bei Akteuren aus den ökonomischen und politischen Eliten, die wie Wolfgang Schäuble oder Hans-Werner Sinn eine klare neoliberale Agenda verfolgen, liegt die Antwort auf der Hand: Sie wollen betrügen und nutzen wie Sinn die Flüchtlingskrise als Mittel, um die jüngeren Einschränkungen des »freien Marktes« (Mindestlohn, Rente mit 63 et cetera) wieder rückgängig zu machen, oder – wie im Falle von Schäuble – die Austeritätspolitik der »Schwarzen Null« auch auf Kosten von Brandanschlägen auf Asylbewerberheime zu verteidigen. Bei der breiten Bevölkerung im Allgemeinen und der Lohnabhängigen-Mehrheit im Besonderen aber liegen die Dinge anders: Die Besteuerung der Großkonzerne (und Großvermögenden) zur Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge ist in ihrem objektiven Interesse. Und darum ist es für die Linke ein ideologischer Kampf um die »Köpfe« und die Herzen der Menschen, damit sie sich nicht weiter von Feindbildern blenden und gegeneinander ausspielen lassen und erkennen, dass es immer für alle reicht, wenn man sich organisiert und dafür kämpft.
So oder so kann es aber beim Status Quo nicht bleiben, weil dem bestehenden System ein tiefes Legitimationsproblem innewohnt. Auch kluge Konservative wie der frühere Herausgeber des Daily Telegraph und Autor der autorisierten Margaret-Thatcher-Biografie, Charles Moore, haben das erkannt und warnen deshalb davor, welche Gefahren der kapitalistischen Eigentumsordnung drohen, wenn die strukturelle Macht des Kapitals, das heißt seine Mobilität, nicht gebrochen wird. So schrieb Moore zuletzt in der wichtigsten Zeitschrift des US-Finanzkapitals, dem Wall Street Journal (25.9.2015) einen vielbeachteten Aufsatz mit dem Titel »The Middle-Class Squeeze«, in dem er argumentierte, dass besagtes Legitimationsproblem des globalen Kapitalismus daraus resultiere, dass er die lohnabhängigen Mittelklassen erodiere. Und an die Adresse der Klasse, für die er sein ganzes Leben geschrieben hat, richtete Moore die Botschaft: »Wenn die Dinge sich in Ländern, die Mittelklasse-Stabilität gewohnt sind, verschlechtern, dann fangen die Leute an, Fragen zu stellen. Wie sinnvoll ist der Kapitalismus, wenn seine Belohnungen an einige Wenige gehen und die Risiken den Vielen aufgebürdet werden?« Die »großen internationalen Banken und andere Konzerne – mitsamt ihren Top-Managern« könnten, so Moore, »ein Leben erfinden, dass sich der normalen Steuergesetzgebung entzieht. Ihre Erfolge werden globalisiert und fließen hauptsächlich in ihre eigenen Taschen; ihr Versagen kriecht zum Sterben wieder nach Hause – auf Kosten des Rests der Gesellschaft …« Er selber sei »kein Alarmist« und niemand müsse »sich Sorgen machen«, dass er »ein verspäteter Konvertit zum Marxismus geworden« sei. Aber der bedeutendste Theoretiker des Sozialismus und Kommunismus, Karl Marx, habe »eine Einsicht im Hinblick auf die disproportionale Macht gehabt, über die das Kapitaleigentum verfügt. Der Kapitaleigentümer entscheidet, wo das Geld hinfließt, wohingegen die Menschen, die nur ihre Arbeit[skraft; I.S.] zu verkaufen haben, diese Macht entbehren müssen. Dieser Umstand ist es, der es ein schweres Unterfangen sein lässt, die Gesellschaft nach deren Interessen zu gestalten.« Und in den letzten Jahren habe dieses strukturelle »Ungleichgewicht ein zerstörerisches Level erreicht.«
Moore wird damit Teil der Reihe jener klugen Konservativen in der Geschichte wie Benjamin Disraeli und Kardinal Manning in Großbritannien, Lorenz von Stein, Hermann Wagener und Rudolf Meyer in (Preußen-)Deutschland, Karl von Vogelsang in Österreich oder Albert de Mun und der Graf La Tour du Pin in Frankreich, die aus Angst vor dem Verlust eigener Klassenprivilegien die soziale Reform predigten, um den Kapitalismus vor sich selbst und seiner selbstzerstörerischen Kraft zu retten. Auch Moore schließt mit der Warnung: »Wenn wir keine marxistische Gesellschaft wollen, müssen wir das Problem beheben.«
Aber was ist mit den (Kapital-)Eigentumslosen, für die auch viele Ossietzky-Autorinnen und -Autoren schreiben? Marx selbst betonte, dass die Lohnabhängigen, die er die Proletarier nannte, »nichts zu verlieren« hätten »als ihre Ketten« und »eine Welt zu gewinnen«. Und im Anschluss an Marx formulierte Bertolt Brecht einst in seinem Gedicht »Resolution der Kommunarden« eine Losung, die aktuell bleibt, solange das Kapital sich nicht nur durch das Recht des Privateigentümers privat den gesellschaftlich geschaffenen Mehrwert aneignet, sondern darüber hinaus auf dem Weg der Steuerflucht noch die Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, die es selbst reproduziert, verweigert. In diesem Gedicht heißt es an einer Stelle: »In Erwägung, es will Euch nicht glücken,/ Uns zu schaffen einen guten Lohn,/ Übernehmen wir jetzt selber die Fabriken,/ In Erwägung, ohne Euch reicht’s für uns schon.« Und tatsächlich schaffen die großen Konzerne mit ihrer zunehmenden Zentralisierung und Kapitalkonzentration ja, wie auch schon Marx betonte, selber die Voraussetzungen dafür, dass ihre Leistungskraft irgendwann allen gehört und allen dient, dann, wenn man sie vergesellschaftet.