Im Magazin Cicero las ich im März: »Der NATO-Oberbefehlshaber in Europa, General Breedlove, sagte vor Kurzem im US-Kongress, die NATO befände sich mitten in einem hybriden Krieg mit Russland. Neben einer Abschreckungstaktik im Baltikum setzt er notfalls auch auf einen Angriff auf Kaliningrad.« Am 30. Juni berichtete Associated Press, dass das Pentagon den Einsatz von Atomraketen gegen militärische Ziele in Russland als Reaktion auf angebliche Verstöße gegen den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) erwägt. Anfang Juli forderte auf dem NATO-Gipfel der dänische NATO-Offizier Jakob Larsen, der mit einem Kommandoposten beim NATO-Kontingent für Litauen betraut ist: »Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen.« Am 6. August informierte Spiegel online darüber, dass ein US-Präsident ohne Weiteres einen US-Atomangriff in Gang setzen könne. »Sobald der Präsident einen Angriff befohlen hat, gibt es kein Veto mehr«, sagte der Nuklearexperte Franklin Miller, und am 16. September konnte ich bei den NachDenkSeiten über einen Report des Washingtoner Center for Strategic and International Studies lesen, dass begrenzte taktische Atomschläge möglich seien, ohne die amerikanische Heimat zu gefährden.
»2017: War with Russia« heißt ein Buch, über das der Independent informierte. General Sir Richard Shirreff, zwischen 2011 und 2014 Deputy Supreme Allied Commander Europe, also stellvertretender NATO-Oberkommandeur in Europa, hat es geschrieben. Er meint, dass Russland einen Atomkrieg anstrebe. Putin würde ganz sicher die baltischen Staaten attackieren, wie er »Georgien überfallen, die Krim überfallen« habe »und in die Ukraine einmarschiert« sei. Den Beginn des vorhergesagten Krieges terminiert er auf den Mai 2017.
Parallel fordert die Bundesregierung in ihrem neuen Zivilschutzkonzept die Bevölkerung auf, sich mit Hamsterkäufen gegen einen »Angriff auf das Territorium Deutschlands« zu wappnen. Gegenwärtig sei der zwar unwahrscheinlich, dennoch sei es jetzt wichtig, »notwendige Anpassungen an ein sich wandelndes Sicherheitsumfeld« vorzunehmen, heißt es in der Konzeption. Und der Korrespondent für Politik und Gesellschaft, Richard Herzinger, malte das mögliche Szenario in seinem Artikel vom 11. August bei Welt online »Der Westen muss Putin endlich stoppen« schon einmal drohend an die Wand: »Seit Längerem schon sind russische Truppenmassierungen und -bewegungen an der ukrainischen Grenze im Gange … Es ist allerhöchste Zeit, dass der Westen endlich aus seinem Wahn erwacht, Putin könne durch gutes Zureden auf den Pfad friedfertiger Vernunft und Rechtschaffenheit zurückgeführt werden …«
Sind sie jetzt alle irre? Bedeutet das nicht, dass in absehbarer Zeit wieder ab 5 Uhr 45 zurückgeschossen wird? Ich frage mich, ob alle Verantwortlichen der westlichen Welt und die ihnen hörigen Medien von einem Virus befallen sind, der ihnen Klarsicht und die Vorstellung möglicher Konsequenzen ihrer Statements und Handlungen geraubt hat, und bin entsetzt und empört über das aggressive und kritiklos verbreitete Kriegsgetrommle.
Nicht das Vorrücken der NATO bis an die Grenzen Russlands, nicht der von den USA arrangierte regime change in der Ukraine, nicht die zunehmende, öffentlich betriebene Kriegshetze des Westens bedeuten ein Verlassen des Pfads friedfertiger Vernunft und Rechtschaffenheit, es sind nach der in den Leitmedien veröffentlichten Meinung die Reaktionen Putins. Die einst getroffene Vereinbarung, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnen würde, wenn Russland sein Einverständnis zur Deutschen Einheit gäbe, scheint nur ein Hirngespinst zu sein. Sind Genschers Aktenvermerk vom 10. Februar 1990 und die Erklärung des ehemaligen Außenministers der USA, James Baker, vom 9. Februar 1990 verdrängt (s. Ossietzky 19/2016)? Die NATO und die USA lassen keinen Zweifel daran, dass ihr Ziel die Schwächung Russlands ist, um letztendlich Zugriff auf dessen reiche Ressourcen zu bekommen, wie Zbigniew Brzeziński schon 1997 beschrieb.
In einem Interview für die amerikanische Nachrichten-Website vox.com konkretisierte US-Präsident Obama im letzten Jahr, auf welche Weise man in einem solchen Fall vorgeht: »Wir müssen gelegentlich den Arm von Ländern umdrehen, die nicht das tun, was wir von ihnen wollen. Wenn es nicht die verschiedenen wirtschaftlichen oder diplomatischen oder, in einigen Fällen, militärische Druckmittel[,] die wir haben, gäbe…, würden wir auch nichts erledigt bekommen.« (https://deutsch.rt.com) Werden die USA in absehbarer Zeit tatsächlich alle Mittel einsetzen, um den Russen »den Arm umzudrehen«? Bisher hat sich Russland trotz des Bruchs gegebener Zusagen, trotz aller Provokationen und bösartiger Unterstellungen zu keiner den Frieden tatsächlich gefährdenden Reaktion verführen lassen. Das »Arm umdrehen«, um beim Obama´schen Wortbild zu bleiben, allerdings wird nicht reaktionslos hingenommen werden, wie die aktuelle Stationierung von russischen Iskander-Raketen auf Kaliningrader Gebiet zeigt. Die Folgen einer durch weiteres Eskalieren der Spannungen immer wahrscheinlicher werdenden militärischen Konfrontation werden unvorstellbar sein. Ein gütiges Schicksal wird nicht reichen, um uns davor zu bewahren.