»Die Erde schafft sich ab«, so der Astrophysiker Harald Lesch jüngst in einer Fernsehtalkrunde. Ob er nicht eher die Menschheit gemeint hat, ihren sträflichen Umgang mit dem ihr anvertrauten Planeten? Die Befürchtungen sind groß, sind es schon länger, zumindest seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das immerwährende Wachstum, permanent propagiert und wirtschaftliche Praxis, hält unsere Erde nicht mehr richtig durch, ihre Natur wird geschändet. Inzwischen hatten das Einzelne wie auch Gruppen bemerkt und aufgemerkt, ihre Stimmen erhoben, gewarnt. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht »Die Grenzen des Wachstums«, der weltweit aufhorchen ließ. Das Wachstum der Erdbevölkerung (inzwischen nach letzter öffentlicher Information 7,3 Milliarden Bewohner) und vor allem die irrsinnige Profitgier der Konzerne und Latifundienbesitzer, im Ganzen des Kapitals, machen Natur und Umwelt zu schaffen. Einsichtige Gruppen, besonders von Naturwissenschaftlern, Schriftstellern, von Kräften der Kirchen begannen aufzumerken, aktive Organisationen wie Greenpeace nahmen die Arbeit auf.
Als die Brodowiner kamen
Auch in der DDR blieben die Umweltschäden, die Industrie und Landwirtschaft verursachten, nicht unbemerkt. Unter dem Dach der Kirche formierten sich Engagierte unter dem Gesichtspunkt »Erhaltung der Schöpfung«, die Praxisziele waren weltlich bestimmten gleich. So machten auch Stadtökologiegruppen innerhalb der Gesellschaft für Natur und Umwelt in den 1980er Jahren mit Protesten auf Umweltschäden aufmerksam. Und da kamen die Brodowiner! Aber wer sind beziehungsweise waren die Brodowiner?
Es gibt ein Dorf in der Uckermark, dem nordöstlichen Teil der Mark Brandenburg. Das heißt Brodowin, wohl einst slawischen Ursprungs. Und da lebte ein Schriftsteller, der meist in grünen Anzügen kam und von Kollegen auch als »Grüner« benannt wurde, so etwa zu der Zeit, als sich in der westlichen deutschen Republik die Partei Die Grünen gründete. Der Schriftsteller hieß Reimar Gilsenbach (1925–2001). Ich begegnete ihm 1980/81 näher, während einer Konferenz des Schriftstellerverbandes der östlichen Republik, und wir sprachen über die wachsenden Probleme, sagen wir ernster: die Krise der Umwelt, der natürlichen Umwelt, später erweitert zu »Um Welt«. Er hatte wohl erfahren, dass einer meiner ersten Berufe Förster war, denn zum Thema hatte ich mich im Verband dazu noch nicht geäußert. Wir kamen ziemlich schnell mit den wichtigsten Themen überein; schließlich darüber, dass vor allem Schriftsteller als Kundige des Wortes sich zu diesem ernsten Thema äußern müssten. Reimar Gilsenbach lud dann erstmals 1981 zum Thema »Literatur und Umwelt« ein. Unter dem Namen »Brodowiner Gespräche« fanden bis 1990 neun Treffen mit Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, Naturschützern und Politikern an verschiedenen Orten der östlichen Republik statt. Erst spät, um 1990/91, wurde die Gruppe in den Schriftstellerverband eingebunden und gefördert – nach anfänglichem Zögern, wohl politisch begründet und auch aus mangelndem Sachverstand. Lia Pirskawetz muss genannt werden, die nicht nur als Mitgründerin intensivst-aufgeregt und anregend gewirkt, sondern mit »Der Stille Grund« 1985 einen überaus sachkundigen wie engagierten Roman vorgelegt hat. Auch andere Schriftsteller – ich füge vorsichtigerweise Poeten hinzu – wandten sich – mit vergleichbaren Fragestellungen – dem Thema zu; Volker Brauns Zeilen »Natürlich bleibt / Nichts. / Nichts bleibt natürlich.« wurden zum Programm und auf unserer letzten, hier noch zu erörternden Tagung zum Thema erhoben. Vertrackte Dialektik, doch wahr!
Anregungen gab es noch andere, aus verschiedenen Ecken und Quellen. Also der östlichen Republik, auch älteren Datums, man denke nur an Louis Fürnbergs (1909–1957) »Epilog« aus dem Jahr 1950, eines der schönsten Gedichte, die ich kenne: Natur, Leben, Mensch sind untrennbar verbunden. Tiefer, eindringlicher geht es kaum. Fürnberg schrieb es aus seiner eigenen Liebe zur Natur, eigenem poetischen Antrieb – ohne ökologische Bewegung im Hintergrund: Diese gab es damals noch nicht, doch die Schäden waren zu besichtigen, zu spüren.
Wie die Brodowiner Abschied nahmen
Nicht alle folgten dem Ruf nach Brodowin. Doch eine stattliche Anzahl schon. Nicht alle sind geblieben, neue kamen hinzu, nach 1990 auch Mitstreiter aus der westlichen Republik, die immerhin des Staunens bereit waren, dass solch wichtige Initiative aus dem Osten gekommen war. Die Brodowiner waren wohl so eine Art Zündstoff über reichlich vorhandenem Sprengstoff der ökologischen Krise und ihrer zahllosen Probleme gewesen. Personen hohen und fast höchsten Ranges bis zur Ministerebene kamen, hörten zu, erwiderten. Als Bekanntester fällt mir Matthias Platzeck, damals Umweltminister Brandenburgs und später Ministerpräsident, ein. Vom Land Brandenburg erhielt die Gruppe finanzielle Unterstützung. Sie firmierte inzwischen als Arbeitskreis »Literatur Um Welt« im Förderverein für Öffentlichkeitsarbeit im Natur- und Umweltschutz e. V., vernetzte zeitkritische, zukunftsbesorgte und umweltengagierte Schriftsteller und Publizisten und veranstaltete Lesungen, Exkursionen und jährliche Tagungen.
Vieles ist in den Jahren im Bereich von Umwelt- und Naturschutz passiert, es gibt Behörden und Ministerien sowie zahlreiche Aktive in verschiedensten Organisationen, die sich der Fragen von Natur und Umwelt annehmen.
Der Brodowiner Weg dahin war weit, hat 35 Jahre gedauert, ehe er nun vorläufig im September 2016 in Heiligengrabe in der Prignitz mit einer letzten Tagung endete.
In den vielen Jahren zuvor reisten die Brodowiner, zunächst durch die östliche Republik, und zwar nach bestimmten Gesichtspunkten: zum einen zu besonderen Gefahren- und Schadensorten, zum anderen zu Orten, wo bereits Umwelt-Verantwortung wahrgenommen und Wichtiges getan worden war. So kamen wir an die Ostsee, wo wir die nach schwerer Sturmflut neugebauten Deiche zur Kenntnis nehmen konnten. Wir erschraken in den Braunkohletagebauen vor jenen riesigen offenen Landschaftslöchern – welche Wunden der Natur durch den Menschen! Konnten jedoch schon etwas davon erkennen, wie sie geheilt werden sollen – in Gestalt einer zweiten Brandenburgischen Seenkette. Schöne Aussicht dies, doch gibt es mit und in dem Wasser (Säure et cetera) und den abfallenden Hängen Probleme besonderer Art.
In einem märkischen Dorf hatte die landwirtschaftliche Praxis erhebliche Schäden auf Äckern und in Wäldern angerichtet. Ein noch recht junger Kollektivbauer, offenbar der Vorsitzende, reagierte auf unsere, besonders meine ziemlich harsche Kritik an dortigen Fehlern und Missständen mit beinahe körperlichen Attacken – na, eine Prügelei mit Presse und umweltbesorgten Schriftstellern, was wäre das geworden! Besonnenere Kollegen hielten ihn zurück, nachher entschuldigte er sich; später war seine LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) eine der besten im Lande – also der östlichen Republik. So kann ein Sach- auch zum Erlebnisbericht werden! 1990 waren wir in Dresden – zu einer großen Tagung mit internationalen Gästen, hervorragenden Debatten. Erneut anerkennendes Staunen westeuropäischer und auch sowjetischer Gäste, was da in der kleinen DDR bewegt worden war!
Und da waren wir – bin ich – bei dem historischen Einschnitt, dem Schritt in die Internationalität, dem nunmehr öffentlichen, zum Weltthema gewordenen Natur- und Umweltschutz. Viel Welt im weiteren Sinne war nun in unseren Umwelt-Begriff gekommen: Umso logischer die Neudeutung des Namens UM WELT! Die Brodowiner haben ihre selbst gestellte Aufgabe erfüllt, zu helfen, größeres Erhaltungs-Bewusstsein der Menschheit zu entwickeln, auszubilden, wie bescheiden die Wirksamkeit auch immer gewesen sein mag.
So konnte die Tagung in Heiligengrabe eine würdige Abschiedsfeier werden, wie stets mit Arbeit ausgefüllt im reich bestückten Programm – die 35. (nicht die 25., wie ursprünglich angekündigt) mit guten Autoren, Dichtern wie Wissenschaftlern, Essayisten und Publizisten setzte einen guten Schlusspunkt.
Die Exkursion durch die Auenwaldgebiete am Flüsschen Stepenitz nebst Besichtigung von Schloss Wolfshagen gab den Naturfreunden die kulturelle Freude. Zu diesem Finale gehörten auch einige vorgespielte Tondokumente aus dem Besitz vom ortskundigen Journalisten Harald Hasel, leider eben nur ab 1992. Interessante Kollegenbeiträge lieferten Annegret Herzberg (über Lutz Seiler), Richard Pietraß »Zum Naturgedicht im 20. Jahrhundert« (zum Teil aber unverständlich vorgetragen) und abschließend die zauberhaft-witzige US-Amerikanerin Nell Zink mit »Der Mauerläufer«. Die genannten Tondokumente erinnerten so wehmütig wie auch in heiterem Dur an frühere Gespräche unserer Brodowiner. Eher melancholische Moll-Akkorde des Finales setzte die langjährige Vorsitzende Jutta Schlott. Sie erklärte dabei noch einmal Gründe und Ursachen der Auflösung der »Brodowiner Gespräche«. Zum einen sei im Wesentlichen die Aufgabe erfüllt, Umweltbewusstsein (Nachdenken »Um Welt«) zu erwecken, zu fördern. Zum andern sei die Gründergeneration zum Teil nicht mehr am Leben, die erste Generation nach dieser ist in die Jahre gekommen, und aus den jüngeren Reihen komme kein Nachwuchs (wie in so manchen anderen sinnvollen Vereinen), und daher sei eine Gruppe mit solchen selbst gestellten Aufgaben auch nicht mehr leit- und organisierbar, in letzter Instanz dann auch nicht mehr so nötig.
Ich denke, nahezu alle Teilnehmenden haben über Wort und auch Bild Gutes über das Wirken der Brodowiner im Gedächtnis; für manche – freilich wenige – waren es 35 Jahre ihres Seins, in denen sie zum Erhalt des Lebens auf der Erde beigetragen haben.