Es mag irritieren: Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Real-sozialismus und der Sowjetunion ist das Jahr 1917, das Jahr der russischen Revolutionen, wieder in aller Munde. Vielleicht hat es mit dem Verlust demokratischer, sozialstaatlicher, sozialistischer Perspektiven in Zeiten der Trump, AfDler, Le Pen zu tun. Selbstverständlich dominieren die Verrisse, die Anklage ob der Gewalt und des Alleinvertretungsanspruchs der Bolschewiki, die grausamen Geschichten über den Bürgerkrieg und die spätere Zeit der Stalin‘schen Säuberungen. Der Mainstream weiß, was er an dieser Revolution hat – die eherne Ordnung des Oben und Unten, des Reich und Arm wird erschüttert und zerstört. Aber auch nicht wenige Linke sind immer noch verstört, denn sie wissen um die Folgen eines vielleicht guten Beginns. Sie haben die Opfer sowjetischer Politik vor sich, erinnern sich der Gewaltakte zur Verteidigung des Realsozialismus. Vor allem wissen sie, dass sich 1989/91 in der DDR, in Osteuropa, in der Sowjetunion Mehrheiten von der Verheißung einer sozial gerechten, friedlichen demokratischen Welt abwandten, weil sie die Versprechen nicht einlösen konnte.
1917 begann eine andere Welt
So verständlich und erklärlich solche distanzierenden Sichten sein mögen, so nachvollziehbar Kritiken und Verurteilungen sind, sie haben nur bedingt etwas mit der realen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Herausforderungen des neuen Jahrhunderts zu tun. Denn die Welt sieht seit 1917 vor allem bedingt durch die Ereignisse in Russland anders aus, auch wenn die erhoffte Epoche des weltweiten Übergangs zum Sozialismus nicht eingetreten ist. Die Völker Russlands, osteuropäischer, asiatischer Staaten wurden unter der roten Fahne vom Bastschuh zum Kosmonautenanzug katapultiert. Viele Völker Russlands erhielten die Chance, die eigene Sprache und kulturelle Identität zu entfalten. Die neue Ordnung beendete das Analphabetentum, qualifizierte eine neue Intelligenz, brachte selbstbewusste Arbeiter hervor. Sie sorgte dafür, dass die nationalen Befreiungsbewegungen ihre Chance zur Entkolonialisierung erhielten. Und sie war das Rückgrat einer kommunistischen Weltbewegung, die gegen und mit Sozialdemokraten und liberalen bürgerlichen Kräften in den Metropolen ein »sozialdemokratisches Jahrhundert« erzwang. Sowjetunion wie Kommunisten trugen wesentlich zur Zerschlagung des Faschismus bei.
Eine Epoche sozialer Revolutionen
Gerade deshalb: Über 1917 ist zu reden und zu streiten. Für ein ausgewogenes Urteil sind beide Revolutionen dieses Jahres, die Ereignisse von Bürger- und Interventionskrieg, der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik und die Gründung der UdSSR als einheitlicher revolutionärer Prozess zu begreifen. Im Februar 1917 waren Arbeiterinnen, Arbeiter und Soldaten auf der Straße, gab es Demonstrationen, Kämpfe, das Wetterleuchten der Revolution. Dass die Bolschewiki im Oktober die Macht erringen konnten in einem wenig spektakulären, doch wohl organisierten bewaffneten Aufstand hat etwas mit Charakter und Grenzen des ersten revolutionären Schrittes zu tun. Gedrängt vom Kampfgeist der Straße hatten bürgerliche Politiker und gemäßigte Linke, zunächst der Partei der Sozialrevolutionäre, später der Menschewiki, eine Provisorische Regierung gebildet. Die Erwartungen an sie waren hoch: Republik, demokratische Freiheiten, Linderung der Not, Lösung der Bodenfrage, nationale Befreiung der benachteiligten und unterdrückten Völker – aber zuerst: Frieden! Gleichzeitig wuchs von unten her eine neue Macht: basisdemokratisch gewählte Sowjets. Sie waren radikaler als die Regierung. Zunächst gelang der, die Sowjetbewegung zu dominieren. Aber sie löste nicht die drängendsten Probleme. Demokratische Freiheiten waren gut, aber die Regierung gab weder Antworten auf die Boden- noch auf die nationalen Fragen. Hingegen setzte sie den Krieg fort, um mit territorialer Beute zugunsten des russischen und Entente-Kapitals zu siegen.
Vor allem Frieden!
Die radikale Linke, die Bolschewiki, sah früher und schärfer die Klassen-Grenzen dieser Regierung. Lenin setzte auf die Sowjets als neue Machtorgane, er griff die Stimmungen der desertierenden Soldaten, der streikenden Arbeiter, der landbesetzenden Bauern, der nationalen Bewegungen auf: »Frieden, Brot, Freiheit und Land«. Vor allem Frieden! Diese Konsequenz zeitigte Erfolg. Die Bolschewiki gewannen Stimme um Stimme die Mehrheit in den wichtigsten Sowjets, sie gewannen Arbeiter, Soldaten und Bauern, und sie hatten mit revolutionären Truppenteilen und Roten Arbeiter-Garden die Mittel, um die Kriegsverlängerer, die längst die demokratischen Freiheiten mit Füßen traten, zu stürzen. Der Oktober war kein Putsch, sondern die konsequente Fortsetzung der Massenbewegungen. Der Sowjetkongress konnte zwar dekretieren, aber Frieden, sozialer Wandel, neue Eigentumsverhältnisse, der Sieg in Bürger- und Interventionskrieg war nur durch Enthusiasmus und Opferbereitschaft der Massen möglich.
Frieden, Klarheit der Losungen, die Interessen der arbeitenden Menschen im Lande, das Setzen auf basisdemokratische Sowjets und eine mobilisierende Partei waren das Erfolgsrezept Lenins, das bis heute seine Gültigkeit besitzt.
Weg vom Krieg, weg vom Kapitalismus – aber schon Sozialismus?
Zur Geschichte der Oktoberrevolution und des revolutionären Prozesses gehört auch, – neben den wichtigen zivilisatorischen Leistungen der Revolution, ihrer internationalen Beispielwirkung und der friedenspolitischen Rolle des Realsozialismus – die früh angelegten und sich im Lauf der Jahre ausbildenden diktatorischen und repressiven Momente dieses Sozialismusversuchs zu sehen. Sie ließen diesen Versuch stagnieren, nahmen ihm die Chance zu einer selbstkritischen Entwicklung und sorgten dafür, dass ihm in der Sowjetunion, in der DDR, Osteuropa viele den Rücken kehrten. Das schmälert nicht den Anfang, die Notwendigkeit eines linken Ausbruchs aus Krise und Krieg, bedeutet aber eine hohe Verantwortung für Linke, aus der Geschichte zu lernen und immer wieder die Unterstützung und die Mitgestaltung bei und mit denen zu sichern, die eine ausbeutungs-, unterdrückungsfreie Gesellschaft erstreben.
Wir erleben heute weit stärker als vor einem Vierteljahrhundert den Vormarsch nationalkonservativer, rassistischer, mindestens faschistoider Kräfte. Die haben sich alle Ideen der bürgerlich konservativen Kräfte zu eigen gemacht, die 1989 vom Ende der Geschichte geträumt hatten. Aber sie reagieren auch auf die Unfähigkeit der Eliten, ihre neoliberale Politik mit demokratischer Fassade umzusetzen. Dafür bieten sie autoritäre Antworten und den Ausschluss von jenen, die als Sündenböcke herhalten sollen: Flüchtlinge, Sozialleistungsempfänger, Ausgegrenzte.
Schlimmer aber ist: Die heutige vielfältige und uneinige Linke versagt, hat den Kampfgeist verloren und wird nicht mehr als jene radikale Alternative angenommen (oder auch nur bekämpft), die seit 1917 ganz selbstverständlich als Kraft gegen den Kapitalismus, für soziale Gerechtigkeit und Frieden anerkannt wurde. Die »Aurora« wird sicher nicht in die Spree oder in den Potomac einlaufen, aber Kampfgeist, inspiriert von 1917, kann heute nicht schaden. Rosa Luxemburg hatte recht, als sie mit Hutten ausrief: Sie haben es gewagt!
Aktuell zum Thema erschienen von Stefan Bollinger folgende Bücher: »Oktoberrevolution – Aufstand gegen den Krieg 1917-1922«, edition ost, 224 Seiten, 14,99 €;»Lenin«, Reihe Basiswissen, PapyRossa, 120 Seiten, 9,90 €