Man stelle sich vor: Im September 2016 gründet ein junger Investmentbanker aus dem mittleren Management einer Privatbank eine politische Partei, um die ewige Kanzlerin herauszufordern. Ein Jahr später wird der junge Mann von der erdrückenden Mehrheit seiner jungen Partei zum Bundeskanzler gewählt, die alten bürgerlichen Parteien sind völlig diskreditiert und in einem langwierigen Neufindungsprozess verhaftet. Der neue Kanzler kann »durchregieren« und mit einem ihm ergebenen Parlament einfach per Verordnung Gesetze beschließen. Unmöglich? – Nicht in Frankreich, wo die Wahlgesetze dem gewählten Präsidenten nicht nur eine unglaubliche Machtfülle zugestehen, sondern auch das parlamentarische System solche Blitzkarrieren ermöglicht. Um das chienlit (Durcheinander) der IV. Republik zu beenden, hatte Charles de Gaulle 1958 mit seiner V. Republik die französische Demokratie auf seine Bedürfnisse zurechtgeschnitten. Die zwei für die Präsidentenwahl nötigen Wahlgänge reduzieren im zweiten Wahlgang die Auswahl auf zwei Kandidaten, was oft dem Amtsinhaber oder dem konservativen Bewerber zugutekommt. Der Gewinner kann gleich nach der Wahl das Parlament auflösen und Neuwahlen veranlassen und gewinnt diese mit seinem Bonus meist haushoch. Dass bei den letzten Parlamentswahlen nach Macrons Sieg nur 42 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gingen, ist dabei nur ein kleiner Schönheitsfehler.
Inzwischen gibt der junge Präsident den französischen Schröder und präsentiert sein Sozialprogramm: Einschränkung der Arbeitnehmerrechte, Streichung von 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst, weitgehende Streichungen der Vermögenssteuer und ein Ausnahmezustand, der zum Gesetz wird. Emmanuel Macron verkörpert den neuen Typus des Staatschefs. Wie schon sein kanadischer Kollege Justin Trudeau steht er für einen gut inszenierten Generationswechsel, der zudem einen Systemwechsel suggeriert. Junge Männer, die sich perfekt in Szene setzen, bisweilen aus Werbespots für Herrenbekleidung entsprungen zu sein scheinen, Vitalität und Tatkraft ausstrahlen, betreten die politische Bühne. Der Triumph des »jungen« Sebastian Kurz basiert auf eben diesem Schema. Auch in Deutschland verzeichnet die Legende vom jugendlichen Einzelkämpfer mit Christian Lindner verblüffende Erfolge. Die FDP-Werbung beschränkte sich konsequent auf das perfekt aufbereitete Konterfei des Parteichefs.
Parteien verlieren zunehmend an Bedeutung, gerieren sich als Fanblock für den Spitzenspieler. Es liegt auf der Hand, dass Parteiprogramme in solchen Ein-Mann-Parteien eher stören und durch immer beliebigere Allgemeinplätze ersetzt werden, die nach der Kampagne schnell in den Papierkörben der Werbeagenturen verschwinden.
Parteien werden durch Persönlichkeiten ersetzt. Wer nicht das Glück hat, sich neben einer Blitzkarriere auch gleich noch eine passende Partei mit dem inhaltsschweren Namen »En marche!« (Auf geht‘s) basteln zu können, muss eine bestehende Partei kapern. Der Österreicher Sebastian Kurz hat bewiesen, dass auch diese Art der Machtergreifung recht leicht zu bewerkstelligen ist, wenn die Partei marode genug ist.
In Tschechien sind die traditionellen Parteien inzwischen so diskreditiert, dass sich die Wähler mit über 30 Prozent für den Milliardär Andrej Babis entschieden haben. Der böhmische Berlusconi hat sich für die Wahl eine Partei mit dem programmatischen Namen »Aktion unzufriedener Bürger« zugelegt, die Abkürzung ANO bedeutet schlicht Ja. Der schwerreiche Seiteneinsteiger hat wie die Kollegen Macron und Trump den zweifelhaften Leumund, nicht Teil des »Systems« zu sein, was für viele Bürger schon ausreicht, mit Ja zu stimmen. Die Frage, wie der Mann zu seinen Milliarden gekommen ist, oder der Gedanke, dass auch Milliardäre bestechlich sein können, scheint niemandem in den Sinn zu kommen, ein Verfahren wegen EU-Subventionsbetrug hat Babis nicht geschadet.
Das europäische Wahlvolk schwankt zwischen Resignation (Stimmenthaltung) und Verzweiflung, die sich in der Abstrafung etablierter Parteien durch Votieren für rechtsradikale Parteien oder wohlhabende Seiteneinsteiger ausdrückt. In vielen Ländern dienen Parlamente als Karriereleiter zu gut dotierten Posten in Wirtschaft, Verwaltung und internationalen Organisationen. Ein Abgeordneter kann, wenn er sich rechtzeitig als Lobbyist verdingt, ein Mehrfaches seiner Abgeordnetenbezüge verdienen, weshalb auch zumindest in Deutschland einige Parteien dazu übergehen, folgerichtig den zukünftigen Volksvertreter mit bis zu 70.000 Euro an den Wahlkampfkosten zu beteiligen (https://www.tagesschau.de/inland/teurer-wahlkampf-101.html). Es liegt auf der Hand, dass hier gut situierte Interessenten klar im Vorteil sind. Kleine Parteien oder Neugründungen haben wenig Chancen, jemals in den erlauchten Kreis zu treten. Dafür sorgen Prozenthürden, die den etablierten Parteien nutzen. Die satirische Netzzeitung Postillion brachte es auf den Punkt: »Fünf-Prozent-Hürde geschafft: Sonstige ziehen in Bundestag ein«. Noch demokratischer geht es in der Türkei zu. Dort liegt das Stöckchen bei zehn Prozent. Eine andere Variante beschränkt lästige Koalitionsverhandlungen auf ein Minimum: Die stärkste Partei bekommt in Griechenland noch 50 Sitze als Bonus dazu.
Auch die Legislaturperiode hat sich fast überall in Europa von vier auf fünf Jahre verlängert, das verringert die Wahlkampfkosten und mühsame Konfrontationen mit dem Wahlvolk. Nur die bremischen Wähler haben trotzig per Plebiszit die fünf Jahre abgelehnt und gehen nun als einziges Bundesland noch alle vier Jahre zur Urne.
Neofaschisten und Superreiche sollen das kapitalistische System retten, als letztes Aufgebot. Wie man in den USA beobachten kann, scheint auch das keine nachhaltige Lösung zu sein. Der allenthalben aufkommende Nationalismus erinnert an frühere Vorkriegszeiten. Was passiert, wenn nun alle wie der amerikanische Präsident first hinter den Namen ihres Landes setzen? – Im Verteidigungsfall werden Wahlen übrigens auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.