In den Wochen vor der Bundestagswahl hatte es die Gewerkschaft ver.di geschafft, mit einem bundesweiten Streik für gesetzlich definierte Personalmindeststandards in Krankenhäusern das Thema Pflegenotstand doch noch in den Wahlkampf und in die Medien zu bringen. Der Streik dauert an. In einer ZDF- Wahlarena schilderte ein junger Krankenpflegeschüler der Kanzlerin seine Erfahrungen mit den Auswirkungen chronischer Unterbesetzung, daraus resultierender »gefährlicher Pflege« und entwürdigender Zustände. Er fragte Frau Merkel, warum ihre Regierung nichts getan habe, um die Situation zu verändern. Sie antwortete, man habe doch Geld für neue Pflegekräfte zur Verfügung gestellt und die Lage für die Menschen mit Altersdemenz verbessert. Der junge Mann ließ nicht locker: Das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Grundlegendes müsse sich ändern, worauf die Kanzlerin erklärte, sie werde die Zustände in der Pflege zur Chefsache machen.
Frank Plasberg griff das Thema in seiner Fernsehsendung »Hart, aber fair« am 9. Oktober auf. Er wolle der neuen Koalition auf die Sprünge helfen bei diesem so wichtigen Thema, das auch laut Meinungsumfragen von einer großen Mehrheit als gravierendes Problem benannt werde. »Betroffene« seien geladen, bewusst keine Politiker*innen. Und am Ende der Sendung gebe es eine Liste mit den gesammelten Vorschlägen – auch aus dem Publikum –, die an die Parteien der möglichen neuen Koalition weitergeleitet würden.
Eine Altenpflegerin, seit 20 Jahren im Beruf und nun als SPD-Direktkandidatin in einem bisherigen CDU-Wahlkreis in den Bundestag gewählt, sprach davon, dass Pflegenotstand schon vor 20 Jahren ein Thema gewesen sei. Seither habe sich alles stetig verschlimmert. Sie habe nach einer überfordernden Spätschicht gekündigt, nachdem sie mit einem Helfer allein für 55 alte Menschen verantwortlich gewesen war, zwei Überstunden hatte dranhängen und schließlich auf der Heimfahrt die Fahrt wegen Erschöpfung hatte unterbrechen müssen. Alle Anwesenden – der Krankenpflegeschüler, der im Wahlkampf die Kanzlerin zur Rede gestellt hatte, ein Gesundheitsökonom des unternehmernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IDW) Köln, ein Sprecher von Heimbetreiber*innen, ein querschnittgelähmter junger Mann und eine Sportmoderatorin, deren 70-jährige Mutter den dementen Vater zuhause pflegt und ihn auf keinen Fall in ein Heim geben will, – bekräftigten: Das Problem verschärfe sich tatsächlich seit zwanzig Jahren. Und sie prophezeiten: Der Notstand drohe zur Katastrophe zu werden – wenn die nicht schon eingetreten sei.
Was aber soll »die Politik« tun? Zwei Positionen zeichneten sich ab, die beide davon ausgehen, dass mehr Geld notwendig sei, um mehr Pflegekräfte einzustellen und besser zu bezahlen. Doch woher soll das Geld kommen? Hier schieden sich die Geister: Der Gesundheitsökonom und der querschnittgelähmte Mann klagten, die Bürger*innen neigen zur Verdrängung des Problems. Während sie ihre Autos vollkasko versichern, ignorieren sie, dass die Pflegeversicherung nur einen Teilkaskoschutz biete. Sie sollten endlich bereit sein, eine private Zusatzversicherung auch für die Pflege abzuschließen. Nachtigall, ick hör dir trapsen! Vehement widersprach der Krankenpflegeschüler. Er hatte sich schon im Wahlkampf über FDP-Lindner aufgeregt, der vor Pflegekräften nichts anderes zu sagen hatte, als dass »mehr Geld ins System müsse«, und zwar mittels privater Zusatzversicherungen, nun nicht nur für die Rente, sondern auch für die Pflege. Kein Mindestlohnempfänger – so wurde dem FDP-Vorsitzenden entgegengehalten – könne sich eine Zusatzversicherung leisten. Warum, so fragte der junge Pfleger in spe, werde nicht nach dem skandinavischen Vorbild eine steuerfinanzierte öffentliche Versorgung für alle eingeführt? Ja, warum nicht? Die Antwort gibt der Gesundheitsökonom: Die Bürger*innen hätten die Partei, die dafür eintrete, Die Linke, nicht gewählt. Basta.
Auch der Sprecher der Heimbetreiber*innen konnte schließlich sein spezielles Anliegen loswerden: Neben dem fehlenden Geld sei der Personalmangel gravierend. Dieser entstehe durch die Fachkraftquote, die verschiedene Bundesländer eingeführt haben. Aus Gründen der Qualitätssicherung wird damit den Betreibern von Altenheimen vorgeschrieben, dass 50 Prozent der Pflegenden dreijährig ausgebildet und examiniert sein müssen. Nun seien 29.000 Altenpflegehelfer *innen arbeitslos gemeldet und könnten wegen dieser »politischen Überregulierung« nicht eingestellt werden. Die beiden in der Runde vertretenen Pflegenden widersprachen entschieden. Es gebe genug ausgebildete Fachkräfte, die jedoch wegen der skandalösen Arbeitsbedingungen in andere Berufe abwandern. Bei anständiger Bezahlung und ausreichender Besetzung seien sie leicht zurückzugewinnen. Den Betreibern gehe es um das Niedrighalten der Löhne, denn Pflegehelfer*innen und andere Hilfskräfte seien eben billiger.
Eine weitere Idee aus der Runde: Wiedereinführung eines verpflichtenden Zivildienstes. Es wurde vergessen zu erwähnen, dass es im Pflegedienst zahlreiche BuFDis (Absolvierende des Bundesfreiwilligendienstes) gibt, die eine 40-Stunden-Woche für ein Taschengeld von monatlich im Schnitt 420 Euro durcharbeiten.
Alle waren sich einig: Wer im Krankheits- oder Pflegefall keine Freund*innen und Familienangehörigen hat, ist schlimm dran. Am Ende der Sendung stand auf der Merkliste für die Koalitionsverhandlungen nichts, was nicht schon seit langem in der Diskussion wäre. Das ganze erinnerte an eine Übung für Schüler, die zu einem Thema Meinungen sammeln und diese hinterher übersichtlich gegliedert mit Spiegelstrichen versehen auf Papier bringen.
Nicht geladen waren, ja nicht einmal erwähnt wurden die oben genannten streikenden Pflegekräfte, die derzeit für gesetzliche Personalmindeststandards auf die Straße gehen – als seien aus dieser Gruppe keine direkt Betroffenen für das Thema zu gewinnen. Der IDW-Gesundheitsökonom begründete seine Position als direkt Betroffener wie folgt: Er habe vor etwa 20 Jahren Zivildienst in einem Altenheim geleistet und daraufhin auf keinen Fall in der Pflege arbeiten wollen. Für ihn sei die FDP die Partei der Hoffnung, weil sie konsequent für private Vorsorge eintrete. Leuchtet doch ein, dass dieser Interessensvertreter auf keinen Fall in der Runde fehlen durfte. So wissen wir wenigstens, worauf wir uns einstellen sollen: eine weitere private Zusatzversicherung, eine Abschaffung der Fachkraftquote in der Altenpflege und vielleicht auch ein neuerliches Zivildienst-Pflichtjahr. Wer etwas anderes will, müsse – so empfehlen die Kopflanger der Unternehmer – in vier Jahren anders wählen. Punkt.