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Internet-Mythen  (Marcus Schwarzbach)

»Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Und alles, was vernetzt werden kann, wird vernetzt«, betont Telekom-Chef Timotheus Höttges (Computer und Arbeit 7-2017). Die Frage nach dem Nutzen für die Gesellschaft wird vom Unternehmensboss gar nicht mehr gestellt. Diese Position der Alternativlosigkeit wird erleichtert durch Mythen, die durch Marketingabteilungen der Internetkonzerne und Medien verbreitet werden.

 

 

Das Internet informiert mich umfassend

Facebook ist die primäre Nachrichtenquelle für 50 Prozent aller US-Amerikaner. Die künstliche Intelligenz, die zur Zusammenstellung der Neuigkeiten genutzt wird, soll die größte Aufmerksamkeit erzielen, damit die Nutzer weiter die Technik einsetzen. Digitale Technik manipuliert, beschreibt jedoch Tristan Harris seine Erfahrungen in der IT-Branche. »Kein Designer hat je geplant, dass haarsträubende Nachrichten ganz nach oben gehören – der Algorithmus hat von allein gelernt, dass Wut gut fürs Geschäft ist« (siehe www.focus.de/finanzen/boerse/aktien/manipulative-tricks-insider-erzaehlt-google-kann-ihre-gedanken-lesen-sie-treffen-ihre-wahl-nicht-selbst_id_7154654.html). Seine Stelle bei Google kündigte Harris, um durch Vorträge über manipulierende Tricks der digitalen Welt aufzuklären. »Der Wut-Feed lässt Menschen denken, dass die Welt viel empörender geworden ist. Ruhigere Berichte fühlen sich dann so an, als seien sie völlig realitätsfern.«

 

Newsfeeds auf Twitter oder Facebook sind scheinbar unendlich. Sie werden nach dem Prinzip der »bottomless bowl« eingesetzt. »Ein Versuch mit einem sich automatisch nachfüllenden Suppenteller zeigte, dass Menschen so 73 Prozent mehr essen. Dieses Phänomen nutzen auch die Feeds von Facebook und Twitter«, offenbart Harris. »Wir befinden uns in einem Wettrüsten um die maximale Aufmerksamkeit der Nutzer. Dazu sind manipulative Werkzeuge entwickelt worden, wie man sie aus Spielcasinos oder Zaubershows kennt.« Hier sei eine hohe Suchtgefahr gegeben, der sich viele nicht bewusst sind. »Denn wenn Facebook deine Nutzung maximiert, kann es mehr Anzeigen verkaufen.« Psychologen nennen dies »variable Belohnung«. Das Handy selbst funktioniere wie ein Glücksspielautomat – und macht auch genauso süchtig, so Harris.

 

 

Jeder kann es schaffen

Das ist das Credo des Startup-Kults. Viele Menschen verbinden die Kreativarbeit eines Programmierers mit enormen Aufstiegschancen. Wer eine clevere Idee hat, kann in seiner Garage zum Millionär werden. Dass die Realität anders aussieht, zeigt Silvio Lorusso vom Institut für Netzwerkkulturen der Universität Amsterdam. Mit dem Projekt »Kickended« hat er ein Gegenbild zu »Kickstarter« entwickelt, dem bekannten Crowdfunding-Unternehmen, das Finanziers für Startup-Unternehmen sucht. Er zeigt die Schattenseite dieser Entwicklung. »Die Website präsentiert ausschließlich Projekte, die auf Kickstarter exakt null Dollar einsammelten. Rund 9000 solcher Fälle hat Kickended in seinem Archiv.« Er wolle den Projekten ein zweites Leben geben, betont Lorusso seine Motivation. Ängste, Unsicherheiten und Arbeitslosigkeit dominieren bei diesen Verlieren der digitalen Welt. »Ihnen setzt die Website Kickended ein Online-Mahnmal«, berichtet das Managermagazin (siehe auch: www.manager-magazin.de/unternehmen/it/crowdfunding-kickended-listet-gescheiterte-kickstarter-projekte-a-1002981.html).

 

Für Lorusso ist der Startup-Kult »letztlich eine religiöse Geschichte«. Die Rolle des Staates wird bei Unternehmenserfolgen heutiger Internetmillionäre gern unterschlagen. Auch dass »alles, was das iPhone smart macht, durch öffentliche Gelder gefördert wurde. Steve Jobs und seine Leute haben bloß mehrere bereits existierende Technologien zusammengesetzt und ihnen ein cooles Design verpasst. Das Internet, GPS, die Touchscreen, Siri, der persönliche Assistent, all das gibt es nur durch öffentliche Gelder. In der herkömmlichen Erzählung über die Unternehmensgeschichte wird dieser staatliche Anteil völlig ausgeblendet. Und die Gewinne behalten sie schön für sich«, kritisiert Mariana Mazzucato, Professorin für Innovationsökonomie (siehe https://www.taz.de/!5025377/).

 

 

Der Algorithmus weiß es besser

Nach einem weiteren Mythos ist durch Big Data alles berechenbar. Interessant ist dabei der Fall »Lukas H.«. Im Internet werden zunehmend DNA-Analysen angeboten. H. erhielt das Ergebnis seiner Genomauswertungen durch die Firma »23andme«, die von Google finanziert wird. Er habe eine seltene Erbkrankheit »Gliedergürteldystrophie«, die unheilbar sei und zum Tode führe. H. lud sich diese Daten aus dem Internet und wertete sie selbst aus. Dabei entdeckte der IT-Spezialist Fehler in der Auswertungssoftware, die inzwischen vom Unternehmen auch bestätigt wurden (siehe www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-e-health-und-das-recht-auf-nichtwissen-a-1152081.html).

 

So wurde ein Mythos zerstört – nämlich der, dass Google immer Recht hat.