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Titel2117

Die Sigrist-Trilogie  (Walter Kaufmann)

1977 Münster: Max Watts

Soeben hatte der Richter angesetzt, das Verfahren gegen den Professor Sigrist zu beginnen, der wegen Verleumdung der Polizei angeklagt war, da flogen laut die Saaltüren auf, und ein untersetzter Mann mit Bart und struppiger Mähne zeigte sich im Rahmen. Er steckte in einer zerschlissenen Kutte und seine Füße in klobigen Stiefeln. In beiden Händen hielt er abgewetzte, prall gefüllte Aktentaschen. »Und wer sind Sie?« forderte der Richter. Der Mann ließ geräuschvoll die Taschen fallen, kramte in seiner Kutte und brachte einen Presseausweis zu Tage. Den hielt er dem Richter hin. »Nehmen Sie Platz«, sagte der, »und das zügig, wenn ich bitten darf.« Der Mann stapfte zur Pressebank und setzte sich neben mich. »Max Watts«, sagte er, hielt mir die Hand hin und fragte woher ich käme. Ich sagte es ihm. »Aus dem Osten«, rief er, »sieh einer an!« Der Richter pochte mit dem Hammer aufs Pult. Max Watts verstummte.

 

Die Verhandlung begann und neben mir der Mann holte Notizbücher und bunte Stifte aus einer seiner Aktenmappen. Ich fragte mich, was alles er notieren wollte, dazu in verschiedenen Farben. »Ich protokolliere«, erklärte er mir später, während der Pause im Vorraum. Ich vertiefte das nicht weiter, denn ich hatte Professor Sigrist entdeckt, den ich um ein Interview bitten wollte – »wenn möglich privat und nicht im Gerichtsgebäude«. »Kommen Sie um acht zu mir nach Haus«, sagte er und gab mir seine Karte. Da tönte hinter mir eine sonore Stimme: »Und ich komme mit.« Es war Max Watts – den ich dann tatsächlich noch in dieser Nacht im Haus des Professors wiedertraf: allzu spät, wie sich erwies, und äußerst erzürnt, weil ihn eine Polizeistreife wegen Landstreicherei aufgehalten hatte. »Pure Schikane!« versicherte er uns. Wie dem auch sei, es wunderte mich nicht, dass er wenige Wochen später beim Versuch, mich in Ostberlin aufzusuchen, überall anecken sollte, zunächst am Checkpoint Charly. Doch wie schon in Münster, kam er glimpflich davon. Er war einer, der auf die Füße fiel.

 

Das blieb auch nach Jahren so, auf dem fünften Kontinent, wohin er aus Neuseeland auf einem Katamaran gelangt war. An der Ostküste Australiens bei Port Macquarie gestrandet, hatte er sich nach Sydney durchgeschlagen, wo man ihn als Weltenbummler, Abenteurer und linken Journalisten mit wohlwollendem Interesse aufgenommen hatte. Hilfsbereit und solidarisch, wie ich ihn gekannt hatte, ließ er es sich nicht nehmen, in seinem betagten Oldsmobile tausend Kilometer zurückzulegen, um mich bei meiner Ankunft in Melbourne, von wo aus ich Australien neu zu entdecken plante, nach Sydney zu holen. »Haben wir uns endlich wieder«, rief er. »Nie verzeihen würde ich es mir, vergäße ich, wie du mir damals am Checkpoint Charly aus der Patsche geholfen hast. Also rein in den Oldtimer und ab in den Norden!«

 

 

1987 Münster: Otto Schily

Er ging schnellen Schritts mit wehendem Talar vorbei, stutzte und kam dann zu mir zurück: »Erlauben Sie eine Frage. Für wen berichten Sie?« Ich sagte es ihm. »Interessant«, sagte er. So geriet ich an Otto Schily, im Landgericht von Münster, wo er den Universitätsprofessor Christian Sigrist gegen die Duisburger Polizei verteidigte. Eine Verleumdungsklage, die sich lange hinziehen sollte. Immerhin ließ ihm das Mandat die Zeit, mich zu einem Gespräch in ein nah gelegenes Café einzuladen. Ich lernte einen geistig beweglichen, vielseitig interessierten Mann kennen, der mir seine juristische und politische Laufbahn umriss und über seine Herkunft in Nordrheinwestfalen erzählte – helle Stakkatostimme und jugendlich in die Stirn gekämmtes Haar. Es zeigte sich, dass er wie ich in Australien gewesen war: »Nicht so lange wie Sie, doch mehr als nur eine Stippvisite war es allemal.« Wann und warum ich das Land verlassen habe, wollte er erfahren, und wie es zu meiner Entscheidung für Ostdeutschland gekommen war. Er horchte auf, als ich ihm das erklärte, die Entscheidung habe nicht wenig mit meinen Erfahrungen in Duisburg zu tun. Ich schilderte ihm, wie ich beim Besuch des einstigen Elternhauses von der alten Frau Moll, der Ehefrau des jetzigen Besitzers, vor der Haustür abgefertigt worden war. Nein, meinem Vater sei sie nie begegnet, hatte sie beteuert, meiner Mutter jedoch sehr wohl. Die sei vor der großen Reise noch einmal ins Haus gekommen – große Reise, so nannte die Alte die Verschleppung – und habe ihr geklagt, sie besäße keine festen Schuhe, und wie solle sie ohne feste Schuhe auf die Reise? »Da gaben wir Ihrer Mutter noch ein paar feste Schuhe.« Einen kurzen Augenblick verschlug mein Bericht Otto Schily die Sprache, dann sagte er: »Also gingen beide Ihrer Eltern den bitteren Weg.« »Beide«, sagte ich, »im vierundvierziger Jahr.« »Das Haus in Duisburg wurde Ihnen dann wohl zurückerstattet«, sagte Schily. Ich verneinte, und als ich ihn wissen ließ, die Tochter der Frau Moll habe sich später bei mir gemeldet und versprochen, einen Familienrat einzuberufen, bei dem man ganz sicherlich eine Wiedergutmachung beschließen würde, fragte Schily: »Und was geschah?« »Nichts. Alles lief auf ein ›leider, leider‹ hinaus. Gefolgt von Schweigen.« »Das werden wir brechen«, versprach Schily. Er würde der Familie schreiben, und dann werde man schon sehen. Seine Zuversicht überzeugte mich. Immerhin war er nicht nur ein deutschlandweit angesehener Anwalt, sondern auch Mitglied des Bundestags. Das müsste wirken, sagte ich mir. Weit verfehlt! Denn auf Schilys Schreiben kam bald die Antwort: Da bis zum Jahr fünfundfünfzig kein Wiedergutmachungsanspruch erhoben worden und folglich die Sache verjährt sei, könne man sich zu keiner Vergütung entschließen. Auch auf eine Kulanzzahlung werde man sich nicht einlassen, man wolle schließlich keinen Präzedenzfall schaffen. Mit vorzüglicher Hochachtung … Nie sollte Otto Schily erfahren, dass mich dann noch ein Telefonat erreichte, in dem die Tochter der Familie Moll die Entscheidung des Familienrats zutiefst bedauerte. Ich hörte nichts weiter von Otto Schily und sah ihn nie wieder.

 

 

1977 Münster: Christian Sigrist

Als ich am Abend nach der Gerichtsverhandlung vor dem Einfamilienhaus des Professor Sigrist im Vorort von Münster anlangte, schlug laut ein Hund an, der sich erst beruhigte, als die Tür geöffnet und ich hineingebeten wurde. Da streckte sich das Tier auf der Matte aus und blieb still. Gut zwei Stunden später schlug der Hund ein zweites Mal an. Durchs Wohnzimmerfenster konnten wir im Vorgarten eine massige Gestalt erkennen, wir hörten die Hausglocke und wieder bellte grimmig der Hund. Wir ahnten, dies kündigte die Ankunft von Max Watts an, dem Reporterkollegen vom Prozessgeschehen, arg verspätet war er gekommen, aber immerhin. »Ich werde nicht wiederholen können, was ich Ihnen erzählt habe«, sagte Professor Sigrist zu mir – ein zweites Mal ausführlich von seinem Leben und seinem Werdegang zu berichten, sei ihm nicht zuzumuten. Max Watts, inzwischen ins Wohnzimmer gebeten, erklärte seine Verspätung. Er sei wegen angeblicher Landstreicherei zum Polizeirevier beordert und dort zur Person befragt worden. Professor Sigrist verschlug es die Sprache, mir auch, obwohl ich ein Quäntchen Verständnis für die Umstände hegte. Max Watts, bärtig und mit wirrem Haar, dazu in zerschlissener Kutte, entsprach tatsächlich der gängigen Vorstellung eines Landstreichers. Professor Sigrist, überanstrengt wie er inzwischen war, hielt uns nicht auf, als wir uns bald verabschiedeten. »Sie werden mit Ihrem Kollegen teilen, was sie von mir erfahren haben«, sagte er. Im Auto, auf dem Weg zur Innenstadt von Münster, fragte mich Max Watts, wie mir der Professor vorkäme. »Ein kritischer Geist. Hellwach und links«, sagte ich. »Sehe ich auch so«, meinte Watts, »und was weiter.« »Einer, dem die Herrschaft von Menschen über Menschen zuwider ist und der sein akademisches Wissen in den Dienst seiner Überzeugungen stellt.« »Klingt heftig«, sagte Watts, »hast du’s nicht eine Nummer kleiner?« »Weißt du«, antwortete ich ihm, »es war ein langer Tag, ich jedenfalls bin geschafft. Alles Weitere erzähle ich dir später.« Max Watts stutzte. »Ich an deiner Stelle würde da nicht zögern.« Das würde er wirklich nicht, dachte ich. »Sigrist«, sagte ich, »hat sich offensichtlich in der Welt umgetan und daraus Schlüsse gezogen – in Afghanistan, zum Beispiel. Allein schon wegen seiner Haltung zu dem, was er regulierte Anarchie nennt, ist er in diesen Scheißprozess verwickelt. Die Verleumdungsklage ist nichts als ein der Polizei willkommener Vorwand.« Max Watts nickte verständnisvoll. »Pech, dass du aufgehalten wurdest«, sagte ich ihm. »Du hättest hören sollen, was Sigrist über Afghanistan zu sagen hatte: ein unbesiegbares Land, an dem sich sämtliche Eindringlinge die Zähne ausgebissen haben und immer ausbeißen werden.« Das schien Max Watts zufriedenzustellen. Er gab dem Oldtimer Gas und fuhr wieder zügiger. Während wir durch die Nacht rollten, sah ich Professor Sigrist vor mir, weit jünger wirkend jetzt als seine nahezu fünfzig Jahre, sah den unerschrockenen Hochschullehrer, in dessen Seminare sich junge Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika geradezu drängten.