Karol Modzelewski, gefragt ob er sich die Entwicklung habe vorstellen können, die Polen seit Ende der 1990er Jahre genommen hat, antwortete: »Nein, ich wollte damals und will heute ein anderes Polen. Ich habe in der Volksrepublik Polen nicht im Gefängnis gesessen, damit mein Land zum Kapitalismus zurückkehrt.«
Im Frühjahr dieses Jahres erschien in Warschau das voluminöse Protokoll der respektvoll-konfrontativ geführten Gespräche, die Karol Modzelewski (Jg. 1937) mit Andrzej Werblan (Jg. 1924), Politiker und Wissenschaftler wie er, moderiert vom Publizisten Robert Walenciak, geführt hat. Die 29 chronologisch geordneten und tatsachengesättigten Kapitel sind jedoch nicht frei von Wiederholungen. Gesprächsthemen waren vorwiegend Problembündel der Geschichte der Volksrepublik Polen von 1944/45 bis 1989/90. Beide Gesprächspartner standen die längste Zeit ihres politischen Wirkens auf der jeweiligen Gegenseite der Barrikade im Auge des politischen Zyklons, der das politische Leben der VR Polen in diesem halben Jahrhundert prägte. An den Schalthebeln der Macht der eine, an der Spitze derer, die ihr Leben im Kampf um die Überwindung dieser Machtstrukturen führten, der andere. Ihre Beweggründe und Haltungen in Vergangenheit und Gegenwart trugen sie mit offenem Visier vor.
Der 1937 in Moskau unter dem Namen Kyrill Budniewicz geborene, sein leiblicher Vater wurde im Zeichen des »Großen Terrors« verhaftet, kam nach Kriegsende achtjährig nach Warschau. Er trug einen eigens für ihn genähten polnischen Uniformmantel wie seine Eltern. Seine Mutter und sein Adoptivvater Zygmunt Modzelewski (1900–1954) hatten in der 1943 in der UdSSR entstandenen 1. Polnischen Armee für die Befreiung ihres Landes gekämpft. Zygmunt diente Polen: im diplomatischen Dienst seit 1945, von 1947–1951 als Außenminister, danach als Mitglied der Akademie der Wissenschaften als Rektor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Geschichtsstudium und frühes politisches Engagement im Jugendverband führten Karol Modzelewski, jederzeit ein Mann offener und öffentlicher Debatten, ebenso wie seinen früh verstorbenen Kampfgefährten Jacek Kuron, mit dem er Mitte der 1960er Jahre einen »Offenen Brief« an die Mitglieder der PVAP, der beide angehörten, geschrieben hatte, für insgesamt knapp neun Jahre hinter Gitter. In öffentlichen Debatten, in Hörsälen europäischer Universitäten, in Flugschriften und Büchern unterwarfen Modzelewski und seine politischen Freunde den Zustand des Landes und der PVAP einer kritischen Analyse. Der international anerkannte Wissenschaftler für Geschichte des Mittelalters war in den 1980ern Berater, Sprecher und Namensgeber der ursprünglichen Solidarność. Anfeindungen und Mühsal habe er (so im eingangs zitierten Gespräch im Jahr 2005 mit mir, G. K.) nicht deshalb auf sich genommen, »damit Neureiche noch reicher und Arme noch ärmer werden«.
Gemeinsam mit Kuron und anderen war Modzelewski in den 1990er Jahren Mitbegründer der Partei Unia Pracy (Arbeiterunion), wirkte als Senator, bis er sich wieder auf wissenschaftliche und publizistische Tätigkeiten konzentrierte. 2013 erschienen seine »Erkenntnisse eines gebeutelten Reiters« unter dem Titel »Zajeździmy kobyłę historii« (Reiten wir den Gaul der Geschichte zuschanden).
Andrzej Werblan war Mitte September 1939, nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, nach Sibirien verbannt worden. Ab 1943 kämpfte er sich als befreiter Befreier, Frontoffizier der 1. Polnischen Armee, in seine Heimat zurück. Dort schloss er sich der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) und mit ihr der PVAP an. Ihr diente er in unterschiedlichen Funktionen: als Assistent Bolesław Bieruts, in späteren Jahren als Sekretär des Zentralkomitees und kurzzeitig als Mitglied des Politbüros. Werblan schrieb Reden und entwarf politische Konzepte für Władysław Gomulka und Edward Gierek, analysierte unter anderem den »Tiegel der Veränderungen« (1981) in Polen, war Autor einer Gomulka-Biographie (1988), auch einer frühen Schrift über den Stalinismus in Polen (1991).
Die unterschiedlichen Lebensgeschichten und konträren politischen Zielstellungen hinderten die beiden Wissenschaftler nicht, ein offenes und kenntnisreiches Gespräch über die Geschichte der VR Polen zu führen. In seiner Detailfülle, beruhend auf historischen Quellen und eigenem Erleben, erhält der interessierte Leser ein deutliches Bild von den historischen Geschehnissen, beginnend mit der Realpolitik, die zur Entstehung eines neuen Volkspolens führte, das sich von Grund auf vom vorhergehenden Polen löste.
Historische Anekdoten wie die knappe, mit Flüchen gespickte (deren Wiedergabe sich hier verbietet) »Einweisung« Boleslaw Bieruts durch Berija im Vorzimmer zu Stalins Arbeitszimmer vor einem Gespräch mit dem »chozjain«, dem Herrn, oder die ausführliche Rekonstruktion der selbstherrlichen Einmischung Nikita Chruschtschows in die Geschehnisse des »polnischen Oktobers« 1956 und die selbstbewusste polnische Gegenwehr sind keine gekünstelten Verzierungen, sondern Teil der Realgeschichte.
Der angesehene und jahrzehntelang der Wochenzeitschrit Polityka verbundene Publizist und Zeitzeuge Daniel Passent empfiehlt das Buch zu Recht als »vortreffliche Lektüre für Erwachsene«.
Modzelewski / Werblan: »Polska Ludowa«, (Volkspolen), Wyd. Iskry, 543 Seiten, ISBN: 978-83-244-0474-2, 49,90 Złoty