In den kommenden drei Jahren wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Projekt zur »Rolle ehemaliger Nationalsozialisten in Wissenschaft und Bildung der DDR« an der Freien Universität (FU) Berlin unterstützen. Die dafür vom Bund bereitgestellten Mittel belaufen sich auf 750.000 Euro.
Nun ist es immer eine gute Sache, sich wissenschaftlich nicht nur mit den Verbrechen des Faschismus auseinanderzusetzen, sondern auch mit seinem Zustandekommen oder – wie im Falle dieses Projektes – mit seinen Nachwirkungen in beiden deutschen Staaten. Angesichts der bis in die 1960er Jahre im Westen weitgehend unterbliebenen Erforschung nazistischer Seilschaften in den gesellschaftlichen Strukturen der jungen Bundesrepublik und des gegenwärtigen Erstarkens rechter bis offen rassistischer Parteien und Bewegungen muss allerdings befürchtet werden, dass die Forschungsergebnisse zum Leben und Wirken ehemaliger Nazis in der jungen DDR-Wissenschaft kontextuell schon jetzt antizipiert werden können. Denn, wie schon einmal vorab vom Forschungsverbund »SED-Staat« an der FU, dem die Projektdurchführung obliegt, statistisch erhoben, fanden sich zu Beginn der 1950er Jahre immerhin acht ehemalige NSDAP-Mitglieder im Ministerrat der SED. Darüber hinaus seien 1000 ehemalige NSDAP-Mitglieder neben zirka 5000 unbelasteten oder tatsächlich antifaschistischen Funktionären in Bildung und Forschung tätig gewesen, und ein Drittel der Mitglieder des Zentralkomitees der SED, ihrer Bezirks- oder Kreisleitungen waren ebenfalls entweder ehemalige Mitglieder der NSDAP oder aber einer ihrer Unterorganisationen. Die FU-Historiker beziehen in ihre Erhebungen demnach auch all diejenigen Menschen mit ein, die als Jugendliche oder junge Erwachsene in den letzten Jahren der faschistischen Herrschaft der Hitlerjugend, dem BDM, dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps oder dem Nazi-Studenten- oder Dozentenbund angehörten und als frühere Nazis ihre vorgeblichen »Karrieren« in der DDR Bildungs- und Forschungslandschaft fortsetzten.
Erklärtes Ziel des Projektes ist, den »antifaschistischen Mythos« der DDR zu entlarven und – man ahnt es – aus dem Fehlen eines demokratischen Grundverständnisses bei ihren ehemaligen Bürgern und deren Nachkommen heraus die jüngsten AfD-Wahlerfolge in den neuen Bundesländern auf das nazi-affine Erbgut der Ostdeutschen zurückzuführen. Denn, so Projektleiter Klaus Schröder, die SED habe »entgegen der offiziellen Propaganda« Nationalsozialisten berufliche und politische Aufstiegschancen geboten. Dies wurde in der DDR »ebenso wie jugendliche Neonazis« hartnäckig »beschwiegen«. Allein schon die Nennung zweier grundverschiedener Themenbereiche in einem Satz offenbart die fragwürdige Gesamtintention des Projektes. Nun hat es einen Forschungsverbund »NS-Staat« an der FU in ihrer Geschichte nie gegeben, und bis 1968 herrschte gerade sicher auch an der als Frontstadt-Universität gegründeten Einrichtung »unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«. Dass es nach 1945 in der DDR keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder in beruflicher Festanstellung gegeben habe, hat nie irgendjemand behauptet. Auch nicht, dass der eine oder andere einen beruflichen Aufstieg als SED-Funktionär vollzog. Schon die sowjetische Militäradministration regelte – vier Jahre vor Gründung der DDR – unter anderem in ihrem Befehl 40 (über die Vorbereitung der Schulen im Schulbetrieb) die Verwendung oder den Ausschluss ehemaliger Nazi-Lehrer. Der erste DDR-Volksbildungsminister, Paul Wandel, Kommunist und in den 1950er Jahren wegen seiner fortschrittlichen Bildungsideale unter Walter Ulbricht gemaßregelt, verhandelte mit den sowjetischen Behörden Konzepte zur Wiederverwendung ehemaliger NSDAP-Mitglieder an den Universitäten.
Und spätestens seit Öffnung der Stasi-Archive ist bekannt, dass sich die frühe SED-Nomenklatura gemeinsam mit den Staatssicherheitsorganen im Einzelfall belastete oder gar an Verbrechen beteiligte Wissenschaftler wie den Kindereuthanasisten Dr. Ibrahim aus Jena je nach Aktenlage »warmhielten«, um die als »bürgerliche Spezialisten« im Bedarfsfall dringend Benötigten für staatliche Forschung und Ausbildung gefügig zu machen. Für ehemalige Wehrmachtsoffiziere, NSDAP-belastete Wissenschaftler oder Nazi-Juristen wie Kurt Schumann wurde im noch sehr jungen DDR-Staat die Blockpartei NDPD gegründet, die ihren Mitgliedern eine gesichtswahrende und dabei von der SED überwachte Plattform gab. Dies war ein kluger Schachzug, denn die Zugehörigkeit zu einer Partei, die zwar nicht SED hieß, sich jedoch voll und ganz deren politischer Ausrichtung verschrieb, gab ehemaligen »Parteigenossen« die Möglichkeit einer beruflichen und persönlichen Anerkennung, wenn sie aufgrund ihrer Verstrickungen im Nazi-Staat für eine SED-Mitgliedschaft aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kamen. Eine steile »Karriere« im heutigen Sinne blieb den Mitgliedern dieser wie auch anderer Blockparteien bis zum Ende der DDR häufig verwehrt – dazu bedurfte es dann doch des »Bonbons«, des SED-Parteiabzeichens, am Revers. Wer also – wie Ernst Melsheimer – tatsächlich seiner nazistischen Vergangenheit abschwören und »Karriere« um jeden Preis machen wollte, der wählte gleich das Original. Doch wird es der Projektleitung der FU um solche Feinheiten nicht gehen, soll doch mit einer Dreiviertelmillion Euro der reale Antifaschismus der jungen DDR mit vorverurteilenden Präambeln diffamiert werden. Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing‘. Aus den historischen Gegebenheiten der späten vierziger und fünfziger Jahre so objektiv wie möglich gehaltene Ableitungen zum Thema »Antifaschismus« zu generieren wird also nicht die Maßgabe des Projektes sein.
Die Kalte-Kriegs-Propaganda auf beiden deutschen Seiten, das Gezerre um die richtige Ausdeutung des Demokratiebegriffes, die Reparationsleistungen, die an die Sowjetunion zu leisten waren, die Zwangsverpflichtungen von Wissenschaftlern zur Arbeit in Stalins Akademien in der Sowjetunion, der Brain-Drain von Akademikern von Ost nach West, all das zwang die DDR-Volksbildner zu sehr viel komplexeren Maßnahmen im Bereich der Demokratisierung des Bildungs- und Forschungswesens, als dies in Westdeutschland je auch nur in Ansätzen geschehen wäre. Eine Heidegger-Entlassung machte dort noch lange keinen demokratischen Sommer, die Straffreiheit und wohlwollende Weiterbeschäftigung von Nazi-Eliten in allen ministeriellen Bereichen Bonns erst recht nicht.
Es steht also nicht zu erwarten, dass der in der frühen DDR nachweisbare und dokumentierte antifaschistische Impetus mitsamt seinen bildungspolitischen Implikationen wie dem Neulehrerprogramm, den Arbeiter- und Bauernfakultäten, den neuen Pädagogischen Hochschulen und den durchaus an fortschrittlichen Bildungsidealen wie bei Rousseau oder Pestalozzi orientierten Volksbildungskonzepten vom Forschungsverbund »SED-Staat« in angemessener Weise gewürdigt wird. Das Forschungsprojekt wird stattdessen anhand berufsbiographischer Werdegänge ehemaliger Nazi-Beamter in der jungen DDR versuchen, die alltägliche Arbeit und das Ethos der Mehrzahl von ausgewiesenen Antifaschisten zu marginalisieren oder kategorisch zu entwerten. Die bereits bekannte Tatsache einer von den Sowjets und der SED durchaus gewollten Verwendung ehemaliger Nazi-Beamter in Wissenschaft und Forschung wird dazu dienen, den Antifaschismus in der DDR zu delegitimieren.
Die nichtbelastete Mehrheit von Pädagogen und Wissenschaftlern, die sich der durchaus doktrinären antifaschistischen Ausrichtung der frühen DDR verpflichtet fühlte, wurde allein schon ihrer sozialen Herkunft wegen von ehemals braunen Eliten in Adenauers Bundesrepublik diffamiert. Dies soll nun offensichtlich noch einmal geschehen, wenn man die frühe Bildungs- und Wissenschaftselite der DDR im genannten Forschungsprojekt als von ehemaligen Nazis fremdgesteuert sehen möchte. Ein solches Konstrukt ist im akademischen Sinne zutiefst unethisch und einer seriösen Forschung unwürdig. Der geäußerte Vorbehalt, ehemalige Nazis hätten die Bildung und Wissenschaft der frühen DDR nachhaltig beeinflusst, und es hätte in Wahrheit gar keinen Antifaschismus gegeben, mutet nur noch absurd an, vergegenwärtigt man sich die flächendeckende und gezielte Implementierung von Nazi-Eliten mit wirklichen »Karrieren« in der jungen Bundesrepublik. Hier mussten sich überzeugte Nazis im Kalten Krieg gar nicht erst »wenden«. Eine pauschale »Entnazifierung« und stillschweigende Duldung von Tätern, ihre systematische Einbindung in Politik, Wissenschaft, Bildung, Justiz und Geheimdienst hat es in dieser Form in der frühen DDR nie gegeben, den Bekenntniszwang zu demokratischen und antifaschistischen Traditionen bis an ihr Ende hingegen schon.