»Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht [...] für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.« So hieß es in der Erklärung des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918. Der Rat hatte im Zuge der revolutionären Ereignisse am Ende des Ersten Weltkriegs ab 10. November 1918 die höchste Regierungsgewalt inne und bestand aus Vertretern der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und Mehrheitssozialdemokraten (MSPD).
Waren die Frauen nach langem Kampf am Ziel ihrer Träume angekommen?
Der Rat der Volksbeauftragten, dessen Vorsitzender der Chef der Mehrheitssozialdemokraten Friedrich Ebert war, bestand ebenso wie das Kabinett ausschließlich aus Männern. Friedrich Ebert hasste die Revolution wie die Sünde, Rosa Luxemburg und ihre Anhängerinnen fanden sie großartig. Die Vertreter der USPD verließen den Rat am 29. Dezember 1918, weil sie Deutschland in Richtung eines Rätestaats verändern wollten. Der mehrheitssozialdemokratische Rat setzte sich für eine baldige Wahl zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung ein. Die Wahl fand am 19. Januar 1919 statt. Erstmals waren Frauen beteiligt.
Ein Endpunkt der im November 1918 begonnenen Revolution war die Wahl nicht. Zeitlich lag sie mitten in den Revolutionsereignissen, die vom Oktober 1918 bis zu ihrem gewaltsamen Ende im Juni 1919 dauerten. Zwar war der Obrigkeitsstaat zusammengebrochen und das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, die Forderung der rebellierenden ArbeiterInnenmassen nach Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen waren jedoch noch lange nicht erfüllt, der Traum von der Räterepublik nicht ausgeträumt. Deshalb hatte sich die Kommunistische Partei Deutschlands, die am 1. Januar 1919 gegründet worden war, nicht an der Wahl beteiligt. Für viele Linke war der Wahltag überschattet von der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts vier Tage vor dem Wahltermin.
Vergessene Revolutionärinnen
Bei den meisten Texten, die sich mit den Ereignissen der Revolution um 1918/19 befassen, fehlt der Kampf der Frauen um eine andere Republik. Festgestellt wird meist, dass man nach Frauen in der Rätebewegung suchen müsse wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen, dass Frauen an der Revolution gar nicht beteiligt gewesen seien und Frauenthemen für die Rätebewegung keine Rolle gespielt hätten.
Lag das am mangelnden Interesse der Frauen? Wohl kaum. Schließlich rebellierten die vielen Frauen, die in den Rüstungsbetrieben arbeiteten und vor den Lebensmittelläden Schlange standen, schon lange. Sie forderten Frieden, Demokratie und Brot für ihre Lieben. Viele Frauen waren bei den revolutionären Aktionen, Demonstrationen und Streiks, zum Beispiel am Generalstreik im März 1919, und sogar an bewaffneten Aufständen beteiligt, etliche sind dabei umgekommen. Dennoch waren die Hauptagenten Soldaten, Matrosen und Arbeiter.
Die wenigen vorhandenen Berichte über Frauen in den Räten stammen meist aus der bayerischen Räteregierung und von den beteiligten Frauen selbst. Rosa Kempf, die mit Anita Augspurg und weiteren sechs weiblichen Delegierten im neuen provisorischen Nationalrat saß, dem die Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte und die bayerischen Landtagsabgeordneten angehörten, kritisierte in ihrer Rede am 18. Dezember 1918 im Plenum des Bayerischen Landtages, dass die Räte ohne die gleichberechtigte Beteiligung der Frauen nicht repräsentativ seien.
Uneinig waren die Frauen, wie dieses Problem zu lösen sei. Kempf wollte nicht darauf warten, dass Männer die Interessen der Frauen in den Räten vertreten, sondern schlug, wie auch Augspurg und Lida Heymann Frauenräte vor. Damit wollten sie auch der »Propaganda der Reaktion« entgegenwirken, die vor allem mit Hilfe der Kirchen bei ihren Gottesdiensten durch »Beichtstuhl und Aufgebot und alles mögliche […] die Frauen nach ihrem Willen leiten« wollte.
Tony Sender (USPD), die seit der Novemberrevolution Mitglied und Generalsekretärin der Executive des Arbeiterrats in Frankfurt/Main war, kämpfte dagegen für die Integration von Frauen in die bestehende Arbeiterrätebewegung. Sie schlug eine Quotierung entsprechend dem Anteil der Frauen an der Anzahl der Beschäftigten vor. Clara Zetkin (USPD, später KPD), die die Stuttgarter Räte unterstützte, richtete ihr Augenmerk vor allem auf die Heimarbeiterinnen und Hausangestellten und wandte sich gegen den Ausschluss der Hausfrauen aus der Rätebewegung, weil sie durch ihre wichtige Reproduktionsarbeit erst politische Aktionen ermöglichten. Sie wollte das Problem durch Hausfrauen-Räte lösen, die in die lokalen Räteversammlungen eingebunden waren oder durch die Einbeziehung von Hausfrauen in die Arbeiterräte der Betriebe ihrer Männer. Tony Sender entwarf gleichzeitig Konzepte zur rationellen und gemeinschaftlichen Gestaltung der Hausarbeit, um die Hausfrauen zu entlasten und für andere Arbeiten freizustellen. Martha Arendsee (USPD, später KPD) machte sich ebenfalls Gedanken um den »zweiten Arbeitsbereich« der Frauen und konkretisierte die Vorschläge durch Konzepte für Einküchenhäuser, öffentliche Waschanstalten, Kindergärten und andere Gemeinschaftseinrichtungen. Letztlich wäre das Ziel der Hausfrauenräte gewesen, diesen Berufsstand abzuschaffen. Keines der Konzepte wurde verwirklicht.
Ausgegrenzt?
Tatsächlich waren im November 1918 in den Räten von 28 Städten nur 50 Frauen verzeichnet, und nur in wenigen fielen sie überhaupt auf. Offensichtlich wurden sie von den männlich dominierten Gremien ausgegrenzt. Auf dem Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin waren von 496 Delegierten zwei Frauen: Käthe Leu aus Danzig (USPD) und Klara Noack aus Dresden (SPD). Um die geringe Repräsentanz der Frauen deutlich zu machen, begann Käthe Leu ihre Rede mit der Anrede: »Parteigenossen und Parteigenossin«. Die beiden Frauen sind heute vergessen. Schwierig gestaltet sich die Suche nach Redebeiträgen. Von Anna Nemitz (USPD), Mitglied des Großberliner Arbeiter- und Soldatenrats, wissen wir, dass sie sich bei der Vollversammlung der kommunalen Räte Groß-Berlins am 7. Februar 1919 kämpferisch für den Erhalt der kommunalen Räte einsetzte, weil die die Revolution absichern wollten. Bei den Januarstreiks 1918, als 400.000 RüstungsarbeiterInnen aus Protest gegen den Krieg und die schlechte Versorgungslage in den Streik traten, war die engagierte Berliner Gewerkschafterin und Pazifistin Cläre Casper als einzige Frau maßgeblich beteiligt. Sie wurde ins Streikkomitee gewählt und von der Polizei als »unbekannte Frauensperson unter den Männern« registriert. Nachdem der Streik blutig niedergeschlagen war, beschlossen die Revolutionären Obleute, sich für zukünftige Auseinandersetzungen zu bewaffnen. Casper stellte ihre Wohnung für die Lagerung der Waffen zur Verfügung und wurde bei der Polizei denunziert. Sie konnte diese aber davon überzeugen, dass sie sich niemals auf solche »gefährlichen Sachen« einlassen würde. Gemeinsam mit ihren Genossen verteilte sie vor einer Munitionsfabrik Flugblätter, beteiligte sich an der Besetzung von Rüstungsbetrieben, Rathaus und Polizeiwache und an einem großen Demonstrationszug zum Reichstag.
In München war neben Rosa Kempf, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann auch Sara Sonja Lerch aktiv. Lerch, eine russische Jüdin, die schon 1905 bei der Russischen Revolution dabei gewesen war, stand mit Kurt Eisner an der Seite der Arbeiter an der Spitze im Januarstreik. Als alle Streikenden wegen Landesverrats verhaftet wurden, kam auch sie ins Gefängnis. Anträge auf Haftverschonung wegen Krankheit wurden rigoros abgelehnt. Stattdessen kam sie in Isolationshaft. Nach acht Wochen, am 29. März 1918, wurde sie in ihrer Zelle in Stadelheim tot aufgefunden – erhängt. Der »Lebenswille einer edlen, aufopferungsbereiten Seele« (Zetkin) war gebrochen worden, noch bevor die Revolution blutig niedergeschlagen wurde.
Einige der wenigen Frauen, die in den Räten aktiv waren, fanden sich in der Nationalversammlung und später im Reichstag wieder. Die Sozialistinnen brachten frischen Wind und neue Themen in das Parlament, denn sie sorgten dafür, dass soziale Probleme, die die unteren Schichten betrafen, zu denen die meisten selbst gehört hatten, öffentlich diskutiert wurden und dass die Sozialgesetzgebung nach deren Interessen weiterentwickelt wurde. Die liberalen und konservativen Volksvertreterinnen sahen sich eher als Repräsentantinnen ihres Standes.
Zuletzt erschienen von Gisela Notz die Bücher: »Wegbereiterinnen. Berühmte, bekannte und zu Unrecht vergessene Frauen aus der Geschichte«, AG SPAK, 24 €); »Feminismus« (PapyRossa, 2. erweiterte und aktualisierte Auflage, 9,90 €); »50 Jahre 1968: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre« (AG SPAK, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, 10 €) sowie der Kalender 2019: »Wegbereiterinnen XVII« (AG SPAK, DIN A3 mit 12 Wegbereiterinnen der emanzipatorischen Frauenbewegung, 14,50 €).