Es lag schon lange in der Luft. Bereits ein Jahr vor der Maueröffnung hatte ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Chemische Industrie in einer kleinen privaten Runde verkündet: Die DDR ist pleite. Wir wollten es nicht glauben, obwohl wir merkten: Die aromatischsten Tomaten, die es bis heute je gab, die ungarischen, waren nicht mehr zu haben. Toilettenpapier war sowieso in einem Land mit Papierkontingent für Kulturschaffende ein Problem, aber wenn es schon die Scheuerlappen aus Lumpen und das Hundefutter aus Fleischabfällen nicht mehr gab, dann war das bedenklich.
Das Jahr ging ins Land. Es galt, eine Urlauberbroschüre für die schöne Region um Schleiz herum zu erstellen. Die zwei für Kultur und Tourismus zuständigen netten Mitarbeiterinnen der SED-Kreisleitung saßen dabei, als wir die Konzeption besprachen. Aber keine Schweinezuchtanlage mit den abgestorbenen Bäumen daneben und auch nicht die üblichen Industrieabbildungen zur Demonstration der Wirtschaftserfolge bitte, warfen wir schüchtern ein und sahen uns erstaunt an, dass kein Einspruch von den uns zugeordneten Polit-Damen kam. Wenig später stellte sich heraus, dass diese gelernten Verkäuferinnen sich weitsichtig je einen Gemüseladen gesichert hatten, den sie in absehbarer Zeit übernehmen wollten. Dazu ist es ja dann auch gekommen.
Da mein Mann und ich im Staatlichen Museum Schloss Burgk tätig waren, konnten wir unseren Urlaub nicht in der Saison nehmen. Durch gute Kontakte zum Kulturbund, in dem mein Mann Mitglied war, hatten wir ab Ende Oktober einen Platz in dessen Ferienheim »Heinrich Heine« in Schierke im Harz erhalten, einem einst noblen Haus, in dem noch viel Plüsch an frühere Zeiten erinnerte. Das Essen war vorzüglich und wurde auch nach 1990 bei Reisen in die neu dazugekommenen westlichen Bundesländer kaum übertroffen.
Beinahe wäre der Urlaub gescheitert, denn für Schierke in der abgeriegelten Grenzzone brauchte man einen Passierschein von der Polizei des Heimatortes. Der war von den dortigen Genossen falsch ausgefüllt worden. Ich glaube, in meinem Geburtsdatum war ein Zahlendreher. Nur mit großen Überredungskünsten gelang es, doch in dem Ort bleiben zu können. Im Nachhinein dachten wir uns: Ein Jahr früher hätte das nicht geklappt.
Irgendwie hörten wir, dass die Grenzen offen seien. Es begann eine wahre Völkerwanderung die Straße zum Brocken hinauf. Wir kamen allerdings nicht weit. Rechts und links am Schlagbaum saßen mit betonter Lässigkeit zwei Soldaten und fixierten uns. Niemand traute sich, ihnen zu nahe zu kommen. Unser Menschenpulk verharrte eine Weile dort, um zu beobachten und zu taxieren, ob sich doch etwas tat und man etwas wagen könnte. Aber die zwei Grenzschützer hielten gut sichtbar eine nach oben aufgestützte Waffe in der Hand. Also doch nicht offen, dachten wir, und: wie denn auch.
Am nächsten Abend gab der wunderbare Rundfunk-Jugendchor Wernigerode im schönen, großen Saal des Heims ein Konzert. Auf der Toilette hörte ich: In Herzberg ist die Grenze offen. Wo ist Herzberg? Das Grenzgebiet wurde, je näher man der Demarkationslinie kam, auf den DDR-Landkarten immer ungenauer und lückenhafter. Den ganzen Abend grübelten wir, an welchem Ort denn der Übergang sei. Am nächsten Tag begaben wir uns mit unserem Viertakt-Wartburg, der neuesten Errungenschaft der DDR-Autoindustrie, blindlings auf Fahrt, immer den Fahrzeugkolonnen hinterher und den provisorischen Pappschildern mit handschriftlichen Druckbuchstaben an Straßenkreuzungen. Sie wiesen nach GÜST. Wo ist der Ort Güst, fragten wir uns. Es ging abenteuerlich durch den Wald. War dahinter die Grenze? Dann wieder Straße, dann Feldweg, immer wieder Stau und Stau. Die Spannung stieg. Wann und wo und was würde uns erwarten?
Endlich gelangten wir zur Grenze, und GÜST entpuppte sich als Akronym für Grenz-Übergangs-STelle. Wir fuhren wie die anderen vorsichtig langsam hinüber, immer gewärtig, angehalten zu werden. Drüben wartete schon ein kleines Häufchen Schaulustiger auf die Brüder und Schwestern. Plötzlich eilten vergnügt zwei ältere Damen, Typ gut genährte Hausfrau im Sonntagsstaat, vor unser Auto. Wir entsprachen genau ihrer Zielgruppe: ein etwas besseres, größeres Auto, das sich aus der Schlange der Trabbis abhob, kein Kind drin und nicht mehr ganz so jung. Sie luden uns enthusiastisch zu sich zum Weihnachtsbraten ein. Ihre verdutzten Gesichter vergesse ich nie, die sie bei unserer lächelnden, aber strikten Ablehnung zogen. Die Straße führte übrigens nicht nach Herzberg, wie ich fälschlich verstanden hatte, sondern nach Bad Harzburg. Dort hatten die Geschäfte flugs ihre Ladenhüter vor die Tür gestellt, um die harten Münzen, die wir Besucher alle von unseren Westtanten oder -omas bei uns trugen, in ihr angestammtes Land zurückzuführen.
Die »Wessis«, die sich inzwischen hier im Osten angesiedelt haben, erleben wir mittlerweile als so gut integriert, dass sie niemanden stören und man im Alltag vergisst, wo sie herkommen. Wenn wir mit unserem Audi in den Westen fahren, verdächtigt uns keiner mehr, bedürftige Ossis zu sein, die sich keine Weihnachtsgans leisten können – und uns würde auch niemand mehr zum Essen einladen, nur weil wir Ossis sind.