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Ein »h« gibt Erinnerung Raum  (Hans-Jürgen Nagel)

Nach der »Großaktion Juden« der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) im Februar 1943 wurden sogenannte Geltungsjuden und Mischlinge verhaftet und in Sammellager gepfercht. In Berlin betraf das etwa 15.000 jüdische Frauen und Männer, die bislang Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben wie Siemens & Halske leisten mussten. Lange Transportlisten entstanden für die Deportationen nach Auschwitz, Theresienstadt und in andere KZ. Die Bürokratie des Todes schrieb ein weiteres düsteres Kapitel.

 

Angeregt von der »Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust« in Jerusalem, begann das Bundesarchiv in den 1960er Jahren, ein Gedenkbuch für die Opfer der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland zu erarbeiten. Die erste Auflage kam 1986 heraus. Seit Dezember 2007 wird es im Internet präsentiert, um eine breitere Öffentlichkeit an den Ergänzungen und »Korrekturen des regelmäßig aktualisierten Gedenkbuches teilhaben zu lassen«.

 

Meine Recherchen für einen Stolperstein in Berlin-Neukölln brachten zutage, dass nach 76 Jahren zwei Einträge zu ergänzen und zu korrigieren sind.

 

Die Liste für den 34. Osttransport vom 4. März 1943 zum Deportationsziel Auschwitz weist aus: Nachname, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Wohnort und Straße. Es waren 1142 Männer, Frauen und Kinder. Eine Rückmeldung von »Arbeitseinsatzführer Schwarz« besagt, dass 389 Männer und 96 Frauen »zum Arbeitseinsatz gelangten. Sonderbehandelt wurden 151 Männer u. 492 Frauen u. Kinder«. Zu 14 Fehlenden wurde nichts notiert. Der Eintrag zu Nr. 930 lautet: »Hirschweg geb. Reichmann, Lieselotte Sara, 21.1.1922, Magdeburg, Nkln. Braunauerstr. 174 b/Reichmann«. Nkln. steht für Berlin-Neukölln, und die Straße heißt heute Sonnenallee.

 

Auf den Papieren des 36. Osttransports nach Auschwitz befindet sich unter Nr. 136 und der identischen Adresse nochmals der Name Reichmann, geb. Meier. Der Vorname Bertha, geboren 12.12.1888 in Burgsteinfurt. Im Berliner Adressbuch von 1940 dort aufgeführt als B. Reichmann, Pflegerin.

 

Zweimal Reichmann unter gleicher Adresse? Zufall?

 

Nein! In der ersten Liste wurde der Name Hirschweh falsch geschrieben.

 

Ein kleines, doch wichtiges »h« gibt der Erinnerung Raum und Gestalt.

 

Die Einrichterin Lieselotte Sara* Reichmann, wohnhaft in Neukölln, hatte am 28. August 1941 den Gebrauchsgraphiker Hans-Peter Israel* Hirschweh, wohnhaft in Berlin, im Standesamt Berlin-Tiergarten geheiratet. Die zusätzlichen aufgezwungenen *Vornamen wiesen beide als Juden aus.

 

Lieselotte wurde im KZ Auschwitz ermordet. Ihr Ehemann kam später ebenfalls dorthin und trug bis zu seinem Tod die eintätowierte Nummer 164145. Sein Vater Erich Hirschweh war bereits im August 1942 nach Theresienstadt deportiert worden und wurde später in Auschwitz ermordet. Peter Hirschweh bewahrte sein Beruf als Gebrauchsgrafiker in letzter Minute vor dem Tod. Er kam ins KZ Sachsenhausen zum »Fälscherkommando« im Block 19. Anfang 1945 wurde es in die KZ Mauthausen und Ebensee verlegt.

 

Nach der Befreiung am 6. Mai 1945 durch die US Army begann Hans-Peter Edel-Hirschweh seinen Weg als Künstler, Journalist und Schriftsteller in Bad Ischl. Einer seiner ersten Artikel ging nach Berlin an seine Mutter, die ihn an Die Weltbühne leitete. In Nummer 19 vom 1. Oktober 1947 wurde die Zeit im »Block neunzehn« des KZ Sachsenhausen geschildert. Seither war Peter Edel, der unter dem Geburtsnamen seiner Mutter schrieb, ein von der Redaktion überaus geschätzter Autor.

 

Im Roman »Die Bilder des Zeugen Schattmann« (Berlin 1969) sowie mit der Autobiografie »Wenn es ans Leben geht« arbeitete Edel seinen Lebensweg und die Geschichte der Familie auf. In der Biografie beschreibt er ab Seite 192 ff. seine Zeit mit Lieselotte, seit Kindheitstagen »Esther« genannt, die Hochzeit und die Umstände der Trauung. So klärt sich, dass Bertha Reichmann seine Schwiegermutter war, bei der die jungen Eheleute wohnten. Die Ehe-Urkunde ist im Peter-Edel-Archiv der Akademie der Künste in Berlin einsehbar.

 

Äußerer Anlass für den Roman war 1963 der DDR-Prozess gegen den Staatssekretär im Bonner Bundeskanzleramt Hans Globke, dessen Mitschuld am Holocaust allgemein bekannt ist. Edel war in dem Prozess als Zeuge angehört worden. 1972 erfolgte die Verfilmung des Romans. Erstmals konnte ein deutsches Team in Auschwitz drehen. Der vierteilige Film kann in seiner Bedeutung der US-Serie »Holocaust« (1978) und dem DEFA-Spielfilm »Nackt unter Wölfen« (1963) gleichgesetzt werden.

 

Am 17. Oktober 2019 erhielt ich Antwort vom Bundesarchiv: Mit der nächsten vollständigen Aktualisierung des Online-Gedenkbuchs wird nun der Familienname Hirschweh übernommen werden und der Eintrag wie folgt abgebildet sein: »Lieselotte Hirschweh geb. Reichmann (*21.01.1922 in Magdeburg / - / Provinz Sachsen); wohnhaft in Berlin (Neukölln); am 04.03.1943 von Berlin nach Auschwitz, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.«

 

Peter Edel selbst also ist es zu danken, dass seine »Esther« und ihre Mutter nicht mehr anonym bleiben werden. Mit Blick auf 2021 wäre sein 100. Geburtstag und beider 80. Hochzeitstag Anlass für eine offizielle angemessene Würdigung. Längst überfällig die Wiederentdeckung von Roman, Autobiografie und Fernsehfilm. In Anbetracht der heutigen deutschen Zustände dringender denn je.

 

Der erschütternde antisemitische Angriff auf die Synagoge in Halle sowie die Morde lassen keinen Zweifel: Faschismus ist in der Bundesrepublik Deutschland wieder alltägliche Bedrohung dank demokratischer Duldung – siehe AfD und Co.

 

Nachtrag 1: Die 2. Kammer des Bundesverfassungsgerichts gab einer Klage des Landesverbandes Berlin der NPD gegen eine Geldbuße statt. Mit Beschluss vom 27. August 2019 wurden Urteile aufgehoben, weil sie »den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes« verletzten. Obwohl sich Beiträge auf Facebook zur Flüchtlingspolitik, wie die Richter einräumen mussten, »gezielt gegen eine Minderheit richteten, hetzerischen und möglicherweise offen rassistischen Gehalt aufwiesen«, fielen sie deshalb »nicht schon aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz1 GG.« Das Land Berlin hat »dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 15.000 € (in Worten: fünfzehntausend Euro) festgesetzt.« Das Bußgeld betrug 1300 €! Meinungsfreiheit für Nazis hat ihren Preis.

 

Nachtrag 2: Der evangelische Landesbischof von Sachsen, Carsten Rentzing, verzichtet auf sein Amt. Rechtslastige Vergangenheit wurde publik. Wer solche Hirten hat, darf sich über die Farbe der Lämmer nicht wundern.

 

Noch Fragen? Im 70. (!) Jahr der Bundesrepublik Deutschland sind zwölf Verfahren gegen KZ-Wachleute offen – zu Sachsenhausen, sechs zu Buchenwald, je zwei zu Stutthof und Mauthausen sowie ein Verfahren zu Ravensbrück.

 

Quellen: https://yvng.yadvashem.org./index.html…

https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_ber_ot34.html und ot36.html

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-066.html

In Yad Vashem wird Lieselotte Hirschwehs Name nun um persönliche Angaben wie Fotos aus der Ausstellung »Écraser l’infâme! Künstler und das Konzentrationslager – die Kunstsammlung der Gedenkstätte Sachsenhausen« und Dokumente aus dem Peter-Edel-Archiv der Akademie der Künste ergänzt werden.