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Titel2119

Logik des Unsinns: Strafzinsen und CO2-Preise  (Klaus Müller)

Man kann im Einzelnen recht haben und sich im Ganzen irren. Niedrige Preise erhöhen die Nachfrage nach Produkten, hohe drosseln sie – die Quintessenz marktwirtschaftlicher Logik. Wer zweifelt, dass es so sein kann? Der Irrtum, der in ihr steckt: Die Güternachfrage wird nicht nur durch den Preis bestimmt. Die Zentralbanken der Europäischen Union, der USA und Japans versuchen mit einer extrem lockeren Geldpolitik – sie nennen sie Quantitative Easing – seit Jahren wirtschaftliche Depressionen zu vermeiden oder zu überwinden. Sie legen, zum Leidwesen der Sparer, niedrigste Zinsen fest, ärgern die Banken mit Strafzinsen und pumpen mit Wertpapierkäufen riesige Geldmengen in das Bankensystem. Am 1. November wurde der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, von der Französin Christine Lagarde, der bisherigen Direktorin des Internationalen Währungsfonds, abgelöst. Im September hatte Draghi in einem letzten »bösen Abschiedsstreich« den Leitzins auf dem Rekordtief von null Prozent belassen, den Negativzins der Geschäftsbanken auf 0,5 Prozent erhöht und entschieden, ab ersten November monatlich für zwanzig Milliarden Euro Anleihen und Pfandbriefe zu kaufen. Schon von 2015 bis 2018 hatte die EZB auf diese Weise 2,6 Billionen Euro in die Märkte gedrückt. Viel und billiges Geld erhöhe die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionsgütern und die der Haushalte nach Konsumgütern. Dies könnte die Konjunkturschwäche überwinden helfen, so die Hoffnung. Sie ist trügerisch. Zwar sind die Maßnahmen logisch. Sie sind aber keineswegs ausreichend. Ihr Fehler ist, komplexe Sachverhalte – Güternachfrage und Produktion – auf jeweils eine einzige Ursache zurückzuführen.

 

Ähnlich beim Klima, nur umgekehrt: Für Kohlendioxid (CO2) sollen die Bürger zahlen, damit der Anstieg des Treibhausgases in der Atmosphäre sinkt und der Klimakollaps verhindert wird. Zugespitzt: Der Preis, der Deus ex Machina im kapitalistischen Theater, löse jegliches Problem. Niedrige Preise für Geld sollen die Konjunktur beleben, hohe Preise für Schadstoffe das Klima retten. Das ist die dürre Logik marktwirtschaftlichen Denkens. Über sie gelangen die vom Mainstream gelenkten Politiker nicht hinaus. Sie sind die Gefangenen einer Logik des kausalen Selbstbetrugs. Zwar prasselt massive Kritik auf Draghi nieder. Die Deutsche Sabine Lautenschläger gab gar aus Protest gegen dessen Politik ihren Sitz im EZB-Rat Ende Oktober auf. Die Dame ist, wie Madame Lagarde, studierte Juristin. Mangelt es ihr an ökonomischem Sachverstand? Für sie rückt Isabel Schnabel, Professorin für Finanzmarktökonomie und »Draghi-Versteherin« ins EZB-Direktorium. Auch einflussreiche Ökonomen lehnen die lockere Geldpolitik ab: Bundesbankchef Jens Weidmann etwa oder die Notenbankchefs der Niederlande, Österreichs und Frankreichs. Schon 2011 waren der damalige Bundesbankchef Axel Weber und der deutsche EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark wegen der von ihnen missbilligten Anleihekäufe der EZB zurückgetreten. Doch all die Kritik und Proteste sind fehlgeleitet, weil sie Personen verantwortlich machen für etwas, was die Umstände erzwingen. Wer so tut, als trügen die Draghis oder Powells dieser Welt die Schuld, überbewertet deren Gestaltungskraft. Das Problem ist nicht, was die Notenbankpräsidenten tun oder unterlassen, sondern die Bedingungen, unter denen sie handeln müssen: Einem zu hohen Angebot an Ersparnissen steht eine zu geringe Nachfrage nach Krediten gegenüber. Keiner, egal ob Jurist oder Ökonom, Keynesianer oder Monetarist, kommt daran vorbei. Aber die herrschende Lehre bläut jedem Studenten der Wirtschaftswissenschaften die Mär von der Allmacht der Zentralbank ein, die durch Änderungen des Zinses und der Geldmenge virtuos und nach Belieben die volkswirtschaftliche Produktion steuere. Dozenten zeigen in Transmissionsmodellen, wie monetäre Impulse die Produktion der Waren, Investitionen, Preise und Beschäftigung ändern würden. Frei nach Adorno ließe sich sagen, bürgerliche Ökonomen sind Menschen, die keine Lüge aussprechen können, ohne sie selbst zu glauben.

 

Die Modelle, so unterschiedlich sie konstruiert sein mögen, laufen im Kern darauf hinaus, dass durch mehr Geld und niedrige Zinsen die produktiven Anlagen bevorzugt werden, weil sich deren Rendite relativ dadurch verbessert, dass sich die auf den Geld- und Kapitalmärkten verschlechtert. Dass dies alles so ablaufen kann, ist bei Akzeptanz der engen Prämissen der Modelle denkbar, dass es so ablaufen muss, angesichts der Komplexität mehr als unwahrscheinlich.

 

Zinsen ändern sich mit dem Angebot und der Nachfrage auf den Märkten für Geld und Kapital, die bei aller Eigenständigkeit abhängen von den Konstellationen auf den Märkten für Investitions- und Konsumgüter. Herrscht dort Flaute, steigen die Liquiditätsüberschüsse auf den Geld- und Kapitalmärkten. Banken transferieren sie zur Zentralbank. Die wird früher oder später reagieren, indem sie ihre Zinsen senkt oder gar Strafzinsen auf Einlagen verhängt, um den Zustrom zu mindern. Mit Mut oder Klugheit hat das nichts zu tun. Zentralbanken passen sich dem Druck an, der von den Märkten kommt. Ihre Zinssenkungen sind eine Reaktion auf die bereits vorher auf den Märkten sinkenden Zinsen. Das heißt nicht, dass die Zentralbanken ohne Einfluss sind. Letztlich aber sanktionieren sie nur, was ohne ihr Zutun ohnehin passiert.

 

Quantitative Easing offenbart das Dilemma: Eine Zentralbank kann den Geschäftsbanken Geld anbieten. Sie kann sie aber nicht dazu zwingen, es anzunehmen und aus ihm mehr Kredite zu vergeben. Vor allem nicht, wenn die Bankkunden es nicht wollen oder keine ausreichenden Sicherheiten bieten. Und erhöht die Zentralbank den Negativzins auf Einlagen, um zu erreichen, dass die Geschäftsbanken ihr Geld behalten, ist noch kein einziger Euro als Kredit in den produktiven Umlauf gelangt. Ist der Bedarf an Waren gesättigt, stagnieren die Einkommen der großen Masse der Bevölkerung und braucht niemand Kredite, bleiben die Banken auf ihren Geldüberschüssen sitzen. Der Kern des Problems: Volkswirtschaften leiden an einem Anlagenotstand statt an Kreditengpässen. Geld ist genügend da, was fehlt sind die Möglichkeiten, es profitabel anzulegen.

 

Ebenso dumpfbackig denkt und handelt, wer glaubt, mit Preisen könne man Naturkatastrophen verhindern. Auch der Kraftstoffverbrauch ist nicht nur vom Preis abhängig. Wenn die Menschen mangels Alternativen auf ihren PKW nicht verzichten können, um täglich den Arbeitsort zu erreichen, zahlen sie den hohen Preis. Die Dringlichkeit entscheidet über die Nachfrage. Marktgläubige täuschen sich und alle anderen mit, wenn sie sich einbilden, mit Preismanipulationen allein könnten Schadstoffemissionen gemindert und die Erde gerettet werden. Ein Witz, den Benzinpreis ab 2021 um drei Cent pro Liter zu erhöhen, die Mehrbelastung den Pendlern zu ersetzen und dies als großen Wurf gegen die Erderwärmung zu preisen. Groß war der Aufschrei, als seinerzeit die Grünen einen Kraftstoffpreis von drei DM forderten, als der Liter Benzin noch eine DM kostete. Jetzt ist der Preis etwa dort, wo ihn die Grünen vor 40 Jahren hinhaben wollten, aber es werden nicht weniger, sondern mehr Kraftstoffe verbraucht. Daran würde sich vermutlich wenig ändern, wenn die Grünen die ihnen untergeschobene aktuelle Forderung durchsetzen könnten, den Benzinpreis auf mindestens sechs bis sieben Euro je Liter zu erhöhen, wenn nicht zugleich andere Maßnahmen zur Entlastung des Straßenverkehrs getroffen werden.

 

Unternehmen können CO2-Zertifikate kaufen, also für den von ihnen verursachten Schadstoffausstoß bezahlen. Man hofft, dadurch werde ihre Produktion unrentabel und zugunsten umweltfreundlicher Verfahren eingestellt. Ein CO2-Zertifikat berechtigt dazu, eine Tonne Kohlendioxid in die Umwelt zu blasen. Sein Preis wird im Handel an der Börse ermittelt. Rüstet ein Unternehmen um und vermeidet es dadurch, Schadstoffe zu produzieren, darf es in Höhe der Einsparungen CO2-Zertifikate an Unternehmen verkaufen, die das nicht wollen oder können. Die Idee ist in sich schlüssig. Doch nicht bedacht wird dabei, dass marktbeherrschende Unternehmen die Mehrkosten auf den Preis ihrer Produkte aufschlagen werden. Im Endeffekt zahlen die Verbraucher höhere Preise, ohne dass die Emission der Schadstoffe wesentlich eingeschränkt wird.

 

Außerdem ist der Handel mit Emissionszertifikaten eine halbherzige Maßnahme: Viele Industriebetriebe, die »wichtig für die Volkswirtschaft sind«, erhalten kostenlose Emissionsrechte in Höhe der Menge, die die effizienteste Anlage in der Branche verursacht. Für die darüber hinaus ausgestoßenen Emissionen müssen sie zusätzliche Zertifikate kaufen – also nur für einen Bruchteil ihrer tatsächlichen Emissionen. So soll verhindert werden, dass sie samt ihrer Produktion in andere Länder abwandern. Umweltfreundliche Alternativen der Produktion und Konsumtion müssen staatlich gefordert und gefördert werden. Gebote, Anreize, Erschwernisse – alles richtig, doch zu wenig.

 

Notwendig ist eine radikale Abkehr von der bisherigen Wirtschaftsweise. Autokonzernen muss untersagt werden, ihre Dreckschleudern weiter zu produzieren. Was schadet, muss verboten werden. Die auf der Nutzung fossiler Brennstoffe beruhende Art des Produzierens und Konsumierens muss beendet werden. Je schneller wir wegkommen von Kohle, Erdöl und Erdgas, umso besser. Den abergläubischen Verehrern des Marktes geht das zu weit. Ihnen gelten Verbote als Vorboten sozialistischer Misswirtschaft und als planwirtschaftliches Teufelszeug. Daher ist anzunehmen, dass es weitergeht wie bisher: Ein Klimagipfel wird den anderen ablösen, ohne Ergebnisse außer vollmundigen Absichtserklärungen. Die Politik lässt sich weiter von der Wirtschaft vorführen. Statt die Herstellung Schadstoffe emittierender Produkte gesetzlich zu untersagen und Betrug zu sühnen, setzen Politiker wirkungslose Anreize und heben sogar die Grenzwerte für Emissionen an. Das EU-Parlament hatte 2016 beschlossen, den ab 2017 geltenden Stickstoffdioxidgrenzwert für neue PKW-Dieselmotoren von den 2007 beschlossenen 80 Milligramm je Kilometer per Konformitätsklausel auf 168 Milligramm je Kilometer zu erhöhen. Von 2020 an gilt ein Korrekturfaktor von 1,5, so dass der Grenzwert dann immer noch bei 120 Milligramm Stickoxid pro Kilometer liegt. Solange die Politik am Gängelband der Wirtschaft hängt, Lobbyisten der Konzerne die Gesetze schreiben, wird sich nichts ändern. Die Klimapolitik wird halbherzig und viel zu zaghaft bleiben. Dagegen kann nur millionenfacher Druck von unten, von der Straße etwas ausrichten.