Vorbei
Schon wieder geht ein Jahr dahin,
als wäre nichts gewesen.
Die Felder vor der Stadt sind leer,
die Ähren aufgelesen.
Ein scharfer Herbstwind pfeift ums Haus
und dringt in alle Poren.
Der Sommer schleicht sich still davon,
er hat den Kampf verloren.
Wir stehen stumm und schau’n zurück,
im Herzen bange Fragen.
Wie ist das mit dem großen Glück?
Lässt es sich je erjagen?
C. T.
Dem Unrecht wehren
»Denn ein Jurist, der nicht mehr denn ein Jurist ist, ist ein arm Ding«, formulierte einst Martin Luther. Ich fühlte mich an das Zitat erinnert, als bekannt wurde, dass das Amtsgericht Eisenach Anfang Oktober die aus Berlin stammende und bundesweit bekannte Irmela Mensah-Schramm wegen Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen á 70 Euro verurteilte.
Die 73-Jährige ist bereits seit mehr als drei Jahrzehnten in der Bundesrepublik unterwegs, um gegen Nazisymbole und andere rechte Schmierereien vorzugehen, die an öffentlichen Stellen wie Häuserwänden, Litfaßsäulen oder auf Plakaten angebracht wurden. Sie überklebt, übermalt oder übersprayt das unsägliche Gedankengut, um dessen Ausbreitung und Propagierung zu verhindern. Das erfordert Mut, Courage und körperlichen Einsatz, von finanziellen Aufwendungen ganz zu schweigen. Für das anerkennenswerte Engagement erhielt sie unter anderem das Bundesverdienstkreuz, den Göttinger Friedenspreis und 2019 von der Stadt Erfurt den Jochen-Bock-Preis. Immer wieder übersprühte sie Nazisymbole mit roten Herzen, so auch im Dezember 2018, als sie die Buchstaben NS in der Parole »NS- Zone« mit einem roten Herzen verdeckte. Dabei wurde sie beobachtet und fotografiert. So kam es zur Anklageerhebung vor dem Amtsgericht Eisenach. Das sah im Handeln von Irmela Mensah-Schramm eine Sachbeschädigung, die strafrechtlich sanktioniert werden müsse. In der Vergangenheit waren Verfahren vor anderen Gerichten gegen sie immer wieder eingestellt worden. Im Eisenacher Verfahren wurde ihr das Angebot unterbreitet, 500 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen, dann würde das Verfahren endgültig eingestellt. Das lehnte sie zu Recht ab, so dass das Gericht ein Urteil verkündete. Dabei ist es doch Sachbeschädigung, wenn Nazis ihre Parolen an allen möglichen Stellen an die Wände schmieren. Für die Urheber solcher Kritzeleien sollte man sich stattdessen mehr interessieren. Der Sprecher des Amtsgerichts verweist hingegen mit Blick auf das Urteil gegen Mensah-Schramm darauf, dass es rechtlich Sachbeschädigung bleibe, unabhängig von den Motiven ihres Handelns.
Unwillkürlich muss ich dabei neben dem Luther-Zitat auch an die in der DDR geltenden Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit denken. Dort mussten Straftaten gesellschaftswidrige oder gesellschaftsgefährliche Handlungen sein, um als solche zu gelten. In Paragraf 3 Absatz 1 des damaligen Strafgesetzbuches war darüber hinaus ausdrücklich geregelt: »Eine Straftat liegt nicht vor, wenn die Handlung zwar dem Wortlaut eines gesetzlichen Tatbestandes entspricht, jedoch die Auswirkungen der Tat auf die Rechte und Interessen der Bürger oder der Gesellschaft und die Schuld des Täters unbedeutend sind.« Die Regelung war zugleich rechtliches Instrument, welches vor Formalismus schützte. So war es auch möglich, den Sinn des Handelns zu beurteilen und sich dabei auch von den Interessen des Volkes leiten zu lassen. Man kann sich kaum vorstellen, dass heute ein Interesse daran bestehen soll, Aktivisten, die gegen öffentliche Nazisymbole einschreiten, zu kriminalisieren. Es bleibt zu hoffen, dass Irmela Mensah-Schramm, wie von ihr angekündigt, gegen das Urteil Berufung eingelegt hat und dass das Landgericht Meiningen sich bei seiner späteren Entscheidung von diesem Gedanken leiten lässt und sie von dem Vorwurf freispricht oder das Verfahren folgenlos einstellt. Sie hat in jedem Falle unsere Sympathie, handelt sie doch auch im Sinne Ossietzkys, wenn sie sich gegen nazistischen Ungeist zur Wehr setzt.
Ralph Dobrawa
Unsere Zustände
Manchmal – so scheint es mir in versöhnlichen Stunden – haben die Politiker allesamt nur Gutes im Sinn, scheitern aber an einem von ihnen mitgeschaffenen verderblichen Mechanismus.
*
Der Mensch wird zur Ware, wenn er mit sich handeln lässt.
*
Wenn wir alles wissen, warum irren wir dann? Weil wir uns im Zuge eines fragwürdigen Fortschrittes selber belügen?
Wolfgang Eckert
Francos zweite Bestattung
Pünktlich um 10:40 Uhr wurde am 24. Oktober in Gegenwart von einem Gerichtsmediziner und fünf Arbeitern die eineinhalb Tonnen schwere Grabplatte der Ruhestätte des Diktators Francisco Franco in der Basilika des »Valle de los Caídos« (Tal der Gefallenen) zur Seite geschoben, um seine Überreste zu entnehmen. Unter den dreißig Anwesenden, die bei der Graböffnung erlaubt waren, Francos Enkel. Von den Angehörigen wurden die sterblichen Überreste im Sarg zu einem grauen Leichenwagen getragen. Per Hubschrauber erreichte der Diktator dann im weiteren Verlauf seine letzte Ruhestätte im Familien-Mausoleum. Auf dem Friedhof El Pardo-Mingorrubio hatten sich zahlreiche spanische Altfaschisten mit Rot-Gelb-Rot-Fahnen eingefunden und begleiteten mit erhobener rechter Hand und »Franco«-Rufen die zweite Franco-Bestattung.
Mit dem Bau des »Valle de los Caídos« war nach Ende des spanischen Bürgerkriegs begonnen worden. Die Bauarbeiter waren republikanische Gefangene – zahlreiche Zwangsarbeiter wurden von herabstürzenden Felsen getötet. Zum 20. Jahrestag des Franco-Sieges über die Republik im März 1959 wurde das Bauwerk geweiht. Nicolás Sánchez-Albornoz, Jahrgang 1926 und einer der letzten Überlebenden der Zwangsarbeiter, sagte: »Francos Exhumierung ist für mich nach Jahrzehnten ein bittersüßer Moment.«
Was passiert aber mit den 33.833 anderen Toten wie mit José Antonio Primo de Rivera, der 1959 hier beigesetzt wurde? Auch die weitere Verwendung des Mausoleums ist bis heute nicht geklärt. Die Kosten des Valle tragen bisher die spanischen Steuerzahler. Was im Land fehlt, ist ein Mahnmal für die Opfer des spanischen Bürgerkriegs, der vom 17. Juni 1936 bis zum 1. April 1939 dauerte. Bis heute ruhen noch immer über 200.000 nicht bestattete Opfer des Bürgerkrieges in der Erde Spaniens.
Karl-H. Walloch
Die Brosche der Clara Petacci
Die Elbe führt Hochwasser, als kurz hinter der tschechischen Grenze nahe Königstein ein Toter ans Ufer geschwemmt wird. Die Polizei findet in der Kleidung der Leiche ein seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschollen geglaubtes Schmuckstück, eine auffällige Brosche. Sie stammt, so ermitteln die tschechischen und deutschen Kommissare, aus dem Besitz von Clara Petacci, der Geliebten des italienischen Faschisten Benito Mussolini.
So beginnt der spannende Krimi »Die Brosche«. Es ist der erste Roman des Niedersachsen Gerd Bohne (Jahrgang 1953). Unterhaltsam führt uns der Autor ins Tschechien der Nach-Wendezeit Anfang der 2000er Jahre. Realistisch erzählt wird eine fiktive Geschichte, die aber auf wahren Geschehnissen beruht, sagt Bohne. Kern des Plots sind die skrupellosen Machenschaften einer europaweit agierenden Finanzmafia, und wir erfahren, dass die ersten Verbindungen dieses kriminellen Geflechts bereits am Ende des Zweiten Weltkrieges geknüpft wurden.
Geschickt verbindet Bohne das aktuelle kriminelle Geschehen mit Rückblenden auf Episoden europäischer Zeitgeschichte, die er wieder lebendig werden lässt. So erfahren wir verblüffende Aspekte der innereuropäischen Arbeitsmigration. Und wir werden Zeugen interessanter Vorgänge zwischen deutschen und italienischen Faschisten während der Endphase des Zweiten Weltkrieges, einer Vergangenheit, die noch nicht vergangen ist. Jedenfalls betreten der Hobbyhistoriker Hermann Weber, eine Figur, mit der Bohne offenbar sich selbst und seine Leidenschaft für Geschichtsforschung in den Roman bugsiert hat, und seine portugiesisch-tschechische Liebespartnerin, die Prager Anwältin Rosa Cigara, gefährliches Terrain, als sie beginnen, Informationen über ehemalige Mitarbeiter der Gestapoleitstelle Prag zu sammeln.
Am Ende der 419 kurzweiligen Seiten angelangt, stellt der Leser überrascht fest, dass die Rätsel um die Brosche der Petacci und um die Serie von Morden, die dem Fund der Männerleiche in der Elbe folgen, nicht aufgeklärt werden – noch nicht. Die Leser werden auf eine Fortsetzung verwiesen, an der Bohne aktuell arbeitet. In deren Mittelpunkt, das ist schon zu ahnen, dürfte dann der nach dem Bürgerkrieg aus Griechenland eingewanderte Experte für Organisierte Kriminalität stehen, der Prager Oberkommissar Petros Papadopoulos. Diese Figur wird Bohne Gelegenheit geben, weitere Kapitel europäischer Zeitgeschichte mit ihren Wirkungen auf die Gegenwart zu erhellen – getreu der Devise des Altmeisters Friedrich Glauser: »Spotten Sie nicht über Kriminalromane. Sie sind heutzutage das einzige Mittel, vernünftige Ideen zu popularisieren.«
Rainer Butenschön
Gerd Bohne: »Die Brosche«, Edition Hermann Weber, tredition, 419 Seiten, 15,99 €
Moderne Robinsonade
Es ist mehr als ein großer Spaß, ein Kriminalroman oder eine Liebesgeschichte, die Stefan Körbel mit seinem Romandebüt bietet. Außer der raffiniert konstruierten Geschichte einer modernen Robinsonade, in der es einen nicht mehr jungen ostdeutschen Musiker und eine sehr junge Schwäbin auf eine einsame Südseeinsel verschlägt, ist es der ungewöhnliche Sound, in dem der von der Insel Zurückgekehrte sein Abenteuer erzählt. Das ist nicht nur Südseeromantik und Seemannslatein, das ist vor allem eine handfeste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Körbel, der einstmals zu der Lieder- und Theatergruppe »Karls Enkel« und einschlägigen Singe-Bewegungen gehörte, lässt seinen Protagonisten Leben und Hoffen in der DDR vom Standpunkt des kritischen Sozialisten erklären, der sich der Fehler seines Landes durchaus bewusst gewesen war, aber im Kapitalismus keine Alternative gesehen hatte. Frech und witzig, aber gleichzeitig klug und treffend ist ein spannendes und höchst unterhaltsames Buch entstanden.
Christel Berger
Stefan Körbel: »Wendekreis oder Die Vollendung der deutschen Einheit im Südpazifik«, Roman, Edition Schwarzdruck, 559 Seiten, 29 €
Zuschrift an die Lokalpresse
Ich bin immer wieder froh, wenn Tageszeitungen nach den täglichen Schreckensmeldungen über Kriege, Terror und Katastrophen auch über »kleine Dinge« berichten, die das schroffe Leben etwas entspannen können. So fand die Familie Nowak aus Reinickendorf laut Berliner Kurier vom 17. Oktober an einem Waldrand bei Grünau ungewöhnlich große essbare Steinpilze, die Mutti Beata noch schnell in den Händen ihrer Tochter fotografierte, bevor sie den Fund mit Gewürzen und Petersilie der heimischen Bratpfanne anvertraute. Solche Nachrichten sind für das Wohlbefinden nicht weniger wichtig als die Hinweise auf internationale Daten, zum Beispiel den »Tag des Händewaschens«, auf den der rbb hinwies. Nun frage ich mich und die Medien anhand dieses Beispiels, ob beides nicht miteinander koordiniert werden könnte. Der Pilzfund hätte dann gut mit dem »Tag des Händewaschens« verbunden werden können, der am Vortag weltweit begangen wurde, und die Gaumenfreude wäre durch sanitäre Mindestanforderungen bereichert worden. Ich wiederhole deshalb meinen Vorschlag, eine Liste aller Gedenk- und Mahntage zu veröffentlichen, damit mittels der Medien ein noch höherer Effekt für Tagesmeldungen erzielt werden kann. – Wilhelmine Wichtig (69), Lehrerin i. R., 13469 Berlin-Waidmannslust
Wolfgang Helfritsch