Kürzlich erhielt ich ein Schreiben einer Firma, von deren Existenz ich bislang keine Ahnung hatte. Der Absender, die PerfektRhetorik GmbH, stellte sich als Mitglied im Verband der Redenschreiber deutscher Sprache vor und erkundigte sich unter Hinweis auf eine Flut von Aufträgen aus Anlaß des bevorstehenden 20. Jahrestages der »friedlichen Revolution«, ob ich nicht bereit sei, für ihre Klienten zum Jubiläum ein oder zwei Reden zu entwerfen, selbstverständlich gegen ein gutes Honorar – neun Euro pro Zeile. Da ich angesichts meiner, gelinde gesagt, distanzierten Haltung zur Großen Deutschen Friedlichen Revolution von 1989 annahm, einer Verwechslung zum Opfer gefallen zu sein, und befürchten mußte, nur für den Papierkorb zu schreiben, andererseits nicht völlig ablehnend reagieren wollte, entschied ich mich für einen Mittelweg:
Sehr geehrte Damen und Herren von PerfektRhetorik, besten Dank für Ihre Anfrage. Sie überrascht und ehrt mich zugleich. Da ich jedoch in der Vergangenheit meine bescheidenen Reden stets selbst verfaßt und nur widerwillig Ansprachen für andere zu Papier gebracht habe, sehe ich mich leider außerstande, Ihrem Wunsch nachzukommen. Angesichts der Bedeutung des bevorstehenden 20. Jubiläums gestatte ich mir jedoch, als Zeichen meines guten Willens Ihnen und Ihren Schreibern einige Tips für das Kernstück der Reden zu dem genannten grandiosen Anlaß zu geben.
Bekanntlich besteht dieses Stück, man könnte es auch das Herzstück nennen, nach offizieller Lesart darin, daß die ostdeutschen Brüder und Schwestern mit ihrer »friedlichen Revolution« im Herbst 89 und mit den nachfolgenden Wahlen im März 90, selbstverständlich ohne jegliche äußere Einmischung, ein verbrecherisches totalitäres Unrechtsregime hinweggefegt haben. Die Qualität jedes Redeentwurfes wird wesentlich davon bestimmt, wie es gelingt, den Unrechtscharakter des liquidierten Staates bloßzulegen. Deshalb ist es ratsam, ja geradezu unumgänglich, eine historische Komponente einzufügen und daran zu erinnern, daß standhafte deutsche Demokraten schon immer die ungeheuerlichen Verbrechen im Osten unseres Vaterlandes angeprangert haben. Als unwiderlegbarer Beweis kann die Einschätzung dienen, die Konrad Adenauer 1950 auf dem CDU-Parteitag in Goslar traf: »Ich wollte, die Bewohner der Ostzonen-Republik könnten einmal offen schildern, wie es bei ihnen aussieht. Unsere Leute würden hören, daß der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager, durch Verurteilungen ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht.« Zitieren Sie diese frühzeitig alarmierenden Worte, die Vorleser Ihrer Reden und deren Auditorium werden beeindruckt sein!
Dieser Eindruck wird nicht gemindert, wenn Sie möglichst nahe zu dieser trefflichen Aussage des ersten Bundeskanzlers in die Redemanuskripte Einschätzungen aufnehmen, die das SED-Unrechtsregime zwar nicht als schlimmer, aber doch als ebenso scheußlich wie das faschistische brandmarken. Hier empfiehlt es sich, auf den tadellosen Liberalen, den ehemaligen Justiz- und Außenminister Klaus Kinkel zu verweisen und seine richtungsweisende Wertung anzuführen, wonach »das SED-System ... unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland«.
Lassen Sie sich beim Konzipieren der Reden keineswegs davon beeinflussen, daß immer wieder Stimmen zu hören sind, die sich gegen eine Gleichsetzung der Nazi- und der SED-Diktatur wenden. Im Gegenteil, gerade das sollte Sie darin bestärken, Adenauers und Kinkels Urteil in den Text aufzunehmen, um anschließend wie folgt zu formulieren: »Am Ende des 20. Jahrhunderts müssen die Deutschen mit der Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer leben. Die Notwendigkeit von Aufarbeitung und Erinnerung an die beiden Diktaturen ist heute Teil des demokratischen Selbstverständnisses im vereinten Deutschland. Die Erinnerung an die beiden Diktaturen, die die Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaat verbunden hat, schärft das Bewußtsein für den Wert von Freiheit, Recht und Demokratie. Dies, wie die notwendige Aufklärung über die Geschichte der beiden Diktaturen, ist der Kern des antitotalitären Konsenses und der demokratischen Erinnerungskultur der Deutschen.« Wenn Sie diesem Ratschlag folgen, können Sie nicht fehlgehen, denn immerhin stammen die Sätze aus einem offiziellen Dokument des Bundestages, dem Schlußbericht der Enquête-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, den die Fraktionen der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen einstimmig gebilligt haben. Wer könnte schon dieser Phalanx bewährter Demokraten widersprechen?
Das Dokument wurde vor mehr als zehn Jahren, am 17. Juni 1998, angenommen. Es ist aktuell wie eh und je. Ihr Kunde, der Redner, und seine Zuhörer wird es erfreuen, wenn Sie die Aktualität des Kommissionsberichts mit Aussagen jüngeren Datums nachweisen. Hier bietet sich zum Beispiel die angesehene Süddeutsche Zeitung an, die am 26. April 2009 als Beweis für den Unrechtscharakter der DDR den britischen Historiker Tony Judt anführte, nach dessen Worten die Staatssicherheit »nicht nur die Funktion und Praxis der Gestapo, sondern auch viele ehemalige Gestapoleute und Informanten übernommen« habe. Und weiter zitierte das Blatt Judts Forschungsresümee: »Politische Opfer des neuen Regimes... wurden von Ex-Nazipolizisten verhaftet, von Ex-Nazirichtern verurteilt und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, die der neue Staat en bloc übernommen hatte, von ehemaligen KZ-Wärtern bewacht.« Treffender geht es nicht! Oder doch?
Sicherlich hatte auch die Bundesrepublik – aber das gehört nicht in die Reden – ihre braunen Seiten. Aber sie hatte nur einen Globke, der es vom Kommentator und Mitautor der Nürnberger Rassengesetze und Referenten für »Allgemeine Angelegenheiten und Geschäftsführung« des faschistischen Innenministers, des SS-Reichsführers Heinrich Himmler, unter Adenauer rein zufällig zum Chef des Bundeskanzleramtes schaffte. Die DDR dagegen hatte viele Globkes, und diese mußten nach der revolutionären Umwälzung von 1989/90 von den Schalthebeln der Macht entfernt werden. Wer weiß das besser als der langjährige MfS-Aktenverwalter Pfarrer Joachim Gauck. Inzwischen dank seiner Verdienste zum Vorsitzenden des Vereins »Gegen Vergessen – für Demokratie« gekürt, verkündete er auf dem »Geschichtsforum 1989/2009: Europa zwischen Teilung und Aufbruch« im Deutschen Historischen Museum in Berlin: »Wir konnten nicht zulassen, daß die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft bleiben.« Wie wahr, das gehört ganz einfach in die Festreden zum Revolutionsjubiläum!
Ohne größere Mühe könnte ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, und Ihren Schreibern noch so manchen kleinen Ratschlag geben, um das Bild des beseitigten Unrechtsstaates abzurunden. Ich denke dabei nur an die »marode Wirtschaft«, die »Erziehungsdiktatur«, den »verordneten Antifaschismus«, die »verzwergten und verhunzten Leute« in der DDR und nicht zuletzt an den nachrevolutionären »Aufschwung Ost«, aber dann hätte ich ja doch gleich eine komplette Rede formulieren und mir ein schönes Honorar verdienen können. Bescheiden wie ich bin, verzichte ich darauf und hoffe doch, mein Scherflein zur Vorbereitung der Revolutionsfeierlichkeiten, auf die wir alle uns so riesig freuen, beigetragen zu haben. – Mit revolutionären Grüßen!