Im Januar 2009 gab die Bundesregierung der großen Koalition die Anzahl der Todesopfer rechtsextrem oder rassistisch motivierter Gewalt seit der Wiedervereinigung mit 41 an. Neun Monate später sprach sie auf Anfrage der Linksfraktion von 46 Todesopfern. Die Angaben bezogen sich jedesmal auf den selben Zeitraum von 1990 bis 2008. Die Differenz ergibt aus der regierungsamtlichen Entdeckung, daß aus den 1990er Jahren vier weitere Tötungsdelikte auf diese Liste gehören, außerdem ein bisher nicht erfaßter Mord aus dem Jahre 2008.
16 Jahre dauerte es, bis der erste dieser nachgetragenen Fälle anerkannt wurde: Im Juli 1993 hatte ein Nazi-Skinhead in Marl einen Obdachlosen so schwer verletzt, daß der Mann nach drei Monaten an seinen Verletzungen starb. Im Februar 1996 erstach ein Neonazi eine Frau in Bergisch-Gladbach wegen ihres »Nazis raus«-Aufnähers. Sechs Wochen später erschoß derselbe Täter einen 26jährigen Naziaussteiger. Ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Innenministeriums erläuterte, diese Morde seien erst jetzt dem Bundeskriminalamt nachgemeldet worden, weil die Landespolizei aufgrund der Großen Anfrage der Linken »einen Abgleich zwischen eigenen Erkenntnissen und denen der Justiz« vorgenommen habe. Warum das erst jetzt geschah, sagte er nicht. Auch der Totschlag an dem Punker Frank Böttcher bei einem Naziüberfall im Februar 1997 in Magdeburg taucht erst jetzt in der offiziellen Statistik auf. Die polizeiliche Definition solcher Delikte sei im Jahr 2001 bundesweit erweitert worden, begründete das Innenministerium von Sachsen-Anhalt.
Die Bewertung der einzelnen Fälle und damit die Entscheidung, welche Fallzahlen der Bundesregierung gemeldet werden, liegt bei den Ländern. Da kein Bundesland als Nazihochburg gelten will, werden rechtsextrem oder rassistisch motivierte Gewalttaten immer wieder als unpolitische Auseinandersetzungen unter Jugendlichen oder als alkoholbedingt verharmlost – selbst dann, wenn die Täter bekannte Neonazis und die Opfer engagierte Linke wie zum Beispiel Frank Böttcher sind. Auch die jetzt erweiterte Statistik redet das wahre Ausmaß rechter Gewalt schön.
Schon im Jahr 2000 hatten die Zeitungen Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau gemeinsam 93 Todesopfer rechter Gewalt innerhalb eines Jahrzehnts aufgelistet – inklusive der jetzt offiziell nachgetragenen Fälle.
Das Webportal Mut gegen rechte Gewalt zählte von 1990 bis einschließlich 2008 insgesamt 140 rechtsmotivierte Todesfälle, und die »Opferfonds rechte Gewalt« erfaßten bis zum Sommer 2009 akribisch 143 Todesopfer rechtsextrem, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt seit der Wiedervereinigung. Aufgenommen in diese Statistik wurden Taten, die erwiesenermaßen oder aufgrund plausibler Anhaltspunkte wahrscheinlich aus rechtsextremen, antisemitischen und rassistischen Motiven sowie aus Haß auf »Andersartige«, »Fremde« oder »Minderwertige« begangen wurden. Dazu kommen Fälle, in denen der Täter nachweislich einem rechtsextrem eingestellten Milieu zuzurechnen und ein anderes Tatmotiv nicht erkennbar ist. Außerdem wurden Fälle hinzugenommen, in denen die Täter zwar nicht der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind, die Motivation für die Tat jedoch von einer rassistischen Einstellung und einem rechtsextremen Weltbild zeugt.
Von vier rechtsextrem oder fremdenfeindlich motivierten Tötungsdelikten des Jahres 2008 wurde lediglich eine Tat in das bundesamtliche Zahlenwerk aufgenommen: In Magdeburg war im August vorigen Jahres der 20jährige Student Rick L. von einem Neonazi zu Tode getreten worden. Keinen Eingang in die Statistik Eingang fanden 2008 die folgenden tödlichen Gewalttaten:
Am 22. Juli wurde der 55jährige Tischler Bernd T. in Templin durch massive Tritte an den Kopf getötet. Gegen die zwei einschlägig vorbestraften Neonazis Christian W. (21) und Sven P. (18) wurde Anklage wegen Mordes erhoben. Die Staatsanwaltschaft geht von einem rechtsextremistischen Motiv aus – die Beschuldigten sollen ihr arbeitsloses und alkoholkrankes Opfer als minderwertig verachtet haben. Aber die zuständigen Behörden setzten den Fall nicht auf die Liste.
Am 6. August wurde der vietnamesische Zigarettenhändler Cha Dong N. in Berlin-Marzahn auf offener Straße erstochen. Der Täter Timo W. hatte nach Aussagen seiner Nachbarschaft mehrfach rassistisch gegen »diese Fidschis« gehetzt, die endlich verschwinden sollen. Aber die zuständigen Behörden setzten den Fall nicht auf die Liste.
Am 24. August wurde der 18jährige Marcel W. im sachsen-anhaltinischen Bernburg mit zahlreichen Messerstichen getötet. Unter erheblichem Tatverdacht steht der 19jährige Neonazi B., in dessen Wohnung die Bluttat geschah. Das Opfer sollte gegen B. vor Gericht in einem Verfahren wegen Körperverletzung aussagen.
Der bislang letzte Mord aus rassistischen Motiven ereignete sich am 1. Juli 2009. Alex W. erstach die im dritten Monat schwangere 31jährige Marwa El-Sherbini im Saal eines Dresdner Gerichts mit 18 Messerstichen. Die ägyptischstämmige Frau hatte Alex W. angezeigt, weil er sie wegen ihres Kopftuchs auf einem Spielplatz rassistisch und islamfeindlich beleidigt hatte. Die Staatsanwaltschaft sprach von einem Einzeltäter, der aus einer »extrem ausländerfeindlichen Motivation« handelte. Wir dürfen gespannt sein, ob die Bundesregierung diesen Fall früher oder später auf ihre Liste setzen wird. Wieder erst nach vielen Jahren? Oder wie die meisten Fälle gar nicht?