Bayerisches Volkstum bietet dem Betrachter nördlich des Mains manch Gewöhnungsbedürftiges: das Oktoberfest, das bereits im September stattfindet, Schuhplattler und Fingerhakeln, um nur einiges zu nennen, was sich dort als langlebig erweist.
Eine besondere Errungenschaft bayerischer Volkstumspolitik ist die Zeugung eines vierten Volksstammes (neben den Franken, Schwaben und Baiern, auch Altbayern genannt) auf dem Territorium des Freistaates. Die Bayerische Staatsregierung betrachtet, so heißt es amtlich, die nach ihrer Umsiedlung 1945 in Bayern ansässig gewordenen Sudetendeutschen »als einen Stamm unter den Volksstämmen Bayerns«. Das schließt ein, daß der jeweilige Ministerpräsident auf dem alljährlichen Stammestreffen (Sudetendeutscher Tag) in Vollzug der übernommenen »Obhutspflicht« ganz besonders laut deren »Recht auf Heimat« im Nachbarland Tschechien einklagt – was nicht ganz logisch ist, da ja bei Erreichung dieses »Rechts« der »vierte Stamm« wieder auf Wanderschaft gehen müßte.
Wenn hier aber von der Langlebigkeit bayerischen Volkstums die Rede ist, sei an eine Gruppe von Menschen gedacht, die fernab der Obhut der Obrigkeit im Freistaat lebt. Darauf wurde jüngst in Nürnberg bei der Eröffnung einer Ausstellung mit dem Titel »Vom Arbeitsplatz abgeholt – als arbeitsscheu abgestempelt« aufmerksam gemacht. Als »des Reiches Schatzkästlein« hatte einst Gauleiter Julius Streicher die fränkische Stadt deklariert. Von hier aus hatte er die Entfernung der »Artfremden« aus der »Volksgemeinschaft« betrieben. »Artfremd« und darum auszuscheiden aus dem »Volkskörper« waren nach den im »Schatzkästlein« 1935 verkündeten Rassengesetzen vor allem Juden und Zigeuner. Das Gesetz zur »Reinerhaltung des deutschen Blutes« verbot daher Ehen zwischen Deutschen und »Juden, Zigeunern, Negern und ihren Bastarden«.
Anwesend zur Ausstellungseröffnung war der 82-jährige Sinto Franz Rosenbach. Er war 15, als ihn die Gestapo 1942 von seiner Ausbildungsstätte bei der Reichsbahn in Nürnberg abholte. Im Polizeigefängnis fand er seine ganze Familie vor. Von Nürnberg ging es in das »Familienlager« Auschwitz-Birkenau. Bei der Selektion wurde er als arbeitsfähig eingestuft. Das rettete ihn. Von Auschwitz kam er in das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen im Harz. Seine Jugend ließ ihn auch die Arbeit in den unterirdischen Rüstungsanlagen, in denen an den »Wunderwaffen« V1 und V2 gearbeitet wurde, überstehen. Auf dem Todesmarsch konnte er bei Dessau flüchten. Nach Kriegsende kehrte er nach Nürnberg zurück, mit ihm zwei Schwestern. 21 Personen aus dem Familienverband hatten das Mordregime nicht überlebt. Das »Dritte Reich« hatte ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Im neuen Reich brauchte er Jahre, ums sie wiederzuerlangen. Das gelang ihm – nach vielerlei Diskriminierungen, einschließlich einer Verhaftung 1951 als »illegaler Staatenloser« – erst 1991.
Nun ist er, der sein Leben in dem 2005 erschienen Buch »Der Tod war mein ständiger Begleiter« geschildert hat, im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft – aber nicht so ganz. Erich Schneeberger, Vorsitzender des bayerischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, beklagte bei der Ausstellungseröffnung, daß die etwa 12.000 Angehörigen dieser Minderheit im Freistaat bis heute Benachteiligungen und Anfeindungen ausgesetzt sind. Davon seien auch Überlebende des faschistischen Rassenwahns nicht ausgenommen. Schneeberger konstatierte »offenen Rassismus«. Jugendliche erlitten wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit »Herabsetzungen in Schule und Beruf«. Die Tatsache, daß durch das NS-Regime etwa eine halbe Million Sinti und Roma geplant und organisiert umgebracht wurden, habe in der deutschen Gesellschaft kaum Beachtung gefunden. Überlebende des Völkermordes, »die nach jahrelangem Leid und mit schweren Schäden in ihre alte Heimat zurückkehrten, erhielten sehr selten eine Entschädigung«.
Und daran zeigt sich wieder die traditionelle bayerische Volkstumspflege. Schon 1899 wurde in München die zentrale »Zigeunerpolizeistelle« eingerichtet. Aus ihr ging 1938 die »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« hervor, ausgerüstet mit den Nürnberger Rassengesetzen, und im ganzen Reich wurden »Dienststellen für Zigeunerfragen« gebildet. Das Ergebnis ihrer Tätigkeit war der von Schneeberger bezifferte Massenmord. Manche Überlebenden stießen bei der Heimkehr in den neuen Behörden auf alte Kämpfer, den Kriminalrat Hans Eller beispielsweise, der nach 1945 in München dabei war, als mit der »Bayeríschen Landfahrerzentrale« die Sondererfassung der Sinti und Roma neu aufgebaut wurde. Vordem war er an der Deportation bayerischer Sinti und Roma nach Auschwitz beteiligt gewesen. Oder Kriminalkommissar Karl Wilhelm Supp, ebenfalls am Völkermord beteiligt. Er avancierte zum Leiter der Fahndungsabteilung. Die von ihm hinterlassenen Fahndungsergebnisse wurden auch später sorgsam gepflegt und genutzt. Noch 1998 wurde bei den Polizeibehörden der »Personentyp« Sinti und Roma aus »rein polizeifachlichen Gründen« gesondert erfaßt. Und das, so der damalige Innenstaatssekretär Hermann Regensburger, sei weder »rechtsstaatswidrig noch rassistisch«. Es entsprach eben nur der ganz besonderen bayerischen Traditions- und Volkstumspflege.
Bei der Ausstellungseröffnung in Nürnberg forderte Schneeberger einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zum Schutz der Sinti und Roma. Ja, so könnte Bayern auch diese Minderheit würdigen und ihr Heimatrecht bekräftigen.