Die Ukraine ist kein einheitliches Staatsgebilde. In politischen, gesellschaftlichen, ja sogar in territorialen Fragen fehlt ein Minimalkonsens.
Der Süden und der Osten sind mehrheitlich von Russen bewohnt, die in ukrainischer Lesart gerne als russisch sprechende Ukrainer tituliert werden. Dort, in Odessa, auf der Krim und im Donbas, pflegt man sowjetische Traditionen. Keine mittlere Stadt, die nicht ihr Lenin-Denkmal und ihren »Prospekt Lenina« in Ehren hält und Namen wie »Proletarische Straße« oder »Straße der Roten Armee« wie selbstverständlich beibehält. Das hat nichts mit kommunistischen Attitüden zu tun, denen die Mehrheit ebenso abhold ist wie im Westen des Landes. Die schiere geopolitische Macht, gepaart mit ehrlichem Antifaschismus, ist es, die auch heute noch aufrechte Sowjetidentität bewirkt.
Die Mitte und der Westen des Landes haben indes die Parole »Los von Moskau« ausgegeben und nehmen völlig andere historische Wurzeln wieder auf, vom habsburgischen griechisch-katholischen Erbe in Galizien und der Bukowina bis zur Verehrung kosakischer Hetmanate aus dem 17. Jahrhundert.
Unterschiedlich sind nicht nur die kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen, auch im scheinbar einfachen politischen Alltag gibt es keine gemeinsame Grundlage. So liest man beispielsweise in einer Stellungnahme der amtierenden Ministerpräsidentin Julija Timoschenko vom 7. Juni 2009 folgende Sätze: »Der Hauptgrund für die politische Krise liegt darin, daß die 2004er Verfassung geändert worden ist. Diese Änderungen habe ich fundamental bekämpft, und ich habe dagegen gestimmt. Sie zerstörten die ganze Machtbalance in der Ukraine, ließen den Staat unkontrolliert zurück, schwach, halb ruiniert und unfähig, der Krise etwas entgegenzusetzen. Entsprechend dieser neuen Verfassung ist niemand für nichts verantwortlich (...) Das Land ist seit 2004 mittendurch gespalten.« Offene Worte einer Regierungschefin, die wohl als politischer Offenbarungseid der gesamten führenden Klasse interpretiert werden müssen.
»Es gibt keine gemeinsamen Grundlagen zwischen Präsident, Ministerpräsident und Parlamentsvorsitzendem. Jeder spielt auf seinem eigenen Klavier«, analysiert auch der Politologe Nikola Primusch von der Universität Donezk die Lage. Die orangene Revolution hat also mitnichten zu einer Stabilisierung beigetragen. Im Gegenteil: Ihre Protagonisten bekämpfen sich heute aufs Schärfte, ein übergreifendes staatliches Interesse ist ihnen fremd.
Sewastopol
Aus welcher Anwandlung heraus der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow im Jahre 1954 die Halbinsel Krim aus der Verwaltung der rußländisch-sozialistischen Föderation in jene der ukranisch-sozialistischen übergeben, mithin die Krim Kiew geschenkt hat, ist heute schwer nachvollziehbar. Mit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine zum 24. August 1991 kam jedenfalls auch die Krim zum neuen Staat. Da half – bis heute zumindest – auch nicht der Vertrag von Kütschük-Kainardschi, mit dem im Jahr 1774 der türkisch-russische Krieg beendet worden war. Dort steht geschrieben, daß die Übergabe der Krim von den Osmanen an die Krimtataren und damit unter die Souveränität des russischen Zaren in Zukunft niemals dazu führen dürfe, daß die Halbinsel an dritte Staaten gelange. Heute liegt dieser Vertragsbruch vor, Ankara ist jedoch offensichtlich an einem diesbezüglichen Konflikt nicht gelegen.
In Sewastopol ist – vorläufig – alles anders. Dort, im Südwesten der Krim, ankert die russische Marine, die Schwarzmeer-Flotte. Ihr Verbleib ist mit Kiew vertraglich bis zum Jahr 2017 gesichert. Was danach mit der größten rußländischen Marinebasis im Süden passiert, hängt davon ab, welche politischen Kräfte dann in Moskau und Kiew herrschen, aber auch in Washington und Brüssel; dort drängt man mehr und mehr darauf, in der »ukrainischen Frage« ein Wörtchen mitzureden. Ein schwerer Konflikt ist möglich.
Die Autonomie der Krim innerhalb der Ukraine, so bescheiden sie auch ist – sie reicht nicht einmal zur Durchsetzung des Russischen als zweite Amtssprache aus –, gilt für den Marinehafen Sewastopol nicht. Diese einstmals geschlossene Stadt ist administrativ unmittelbar Kiew unterstellt. Tatsächlich haben russische Militärs in weiten Bereichen das Sagen.
Die ganze Hafenstadt strahlt russisch-imperiales Flair aus. Von der Grafenmole bis zum noblen Hotel »Sewastopol« zieht sich eine Uferpromenade mit schicken Restaurants, einem Delphinarium und jeder Menge Souvenirläden am Meer entlang. Geopolitisch eindeutiges Lokalkolorit weisen die überall angebotenen Baseballschläger auf, die mit Aufschriften wie »Demokratisator« sehr direkt die Kiewer Politik anprangern. Aus ganz Rußland scheinen die Touristen in diese Stadt zu strömen, um Schwarzmeer-Luft zu atmen, guten Fisch zu essen und besten Sekt und Wein zu trinken. Die Staatsmacht mag zwar ukrainisch sein, das Militär ist jedenfalls russisch, oder korrekter: rußländisch. Ungezwungen bewegen sich die Marinesoldaten der Schwarzmeerflotte in der ganzen Stadt. An ihren Militärfahrzeugen mit russischer Armee-Kennzeichnung sind sie leicht auszumachen, auch an ihre Uniformen gewöhnt man sich rasch.
Hoch über Sewastopol weist Lenin mit ausgestreckter Hand in Richtung Hafen, wo die Schiffe der früheren Roten Armee heute immer noch auf Befehl aus Moskau auslaufen, zuletzt im August 2008 im kurzen Krieg gegen Tiflis, als sie dem angegriffenen Abchasien zu Hilfe eilten. Von Anspannung ist im Herbst 2009 indes nichts zu spüren. Die Fährschiffe queren ruhig und regelmäßig die Südliche Bucht, von den nahen Kriegsschiffen sind Kommandotöne zu vernehmen, und die Möwen ziehen ihre Kreise rund um das Denkmal für die gefallenen Rotarmisten im Abendlicht. Hier könnte es sich gut leben lassen, wüßte man nicht um die brisante Lage, in der sich der einzige große Hafen der Krim befindet.
Sewastopol wurde in den vergangenen 150 Jahren zweimal total zerstört, beide Male wurde seine Bevölkerung ausgerottet: 1855 eroberten die mit den Osmanen verbündeten Franzosen und Briten die russische Festung, die ihnen fast ein Jahr lang standgehalten hatte, und ließen anschließend keinen Stein auf dem anderen. Ein eindrucksvolles Panoramabild hält diese historische Tragödie für die Nachwelt fest. Im Mai 1942 drangen, wiederum nach mehrmonatiger Belagerung, deutsche Truppen in die Stadt ein und verwüsteten alles, was ihnen in die Hände kam. Beide Traumata werden mit einer Überfülle an Denkmälern verarbeitet. Wie kaum ein anderer Ort strahlt Sewastopol mit all seinen bronzenen und marmornen Standbildern, die an die Helden der beiden Belagerungen erinnern, ein starkes Geschichtsbewußtsein aus und erinnert immer auch an das Leid der in allen Kriegen am stärksten betroffenen Zivilbevölkerung.
Jewpatorija
Für seine vielen guten Kindersanatorien mag Jewpatorija weltberühmt sein, doch ansonsten rangiert die 150 Kilometer nördlich von Sewastopol gelegene Stadt etwas hinter den am Fuße des Krimgebirges gelegenen Orten; touristisch und historisch findet es nicht die gleiche Beachtung. Zu unrecht, wie eine frühherbstliche Visite in dem 130.000 EinwohnerInnen zählenden Kurort ergibt.
»Ich bedaure stark diejenigen, die in Jewpatorija nicht waren.« Der in deutscher Übersetzung etwas ungelenk wirkende Vers von Wladimir Majakowski wird im Schaufenster des örtlichen Reisebüros zitiert. Tatsächlich gehört Jewpatorija mit seiner über 2500 Jahre währenden Besiedlung zu den ältesten Städten Europas. Zwischen den am Meer gelegenen Parkanlagen der einzelnen Sanatorien ist von den historischen Wurzeln des Ortes freilich nichts zu spüren. Hier, von der Gorkistraße über den Puschkinplatz bis zum Leninprospekt, dominiert russisches Urlaubsgefühl mit schmaleren Geldbörsen. Die Restaurants servieren billigen Schaschlik statt teuren Fisch, auf kleinen Plätzen drehen von Elektromotoren betriebenen Plastikgefährte in Form von Personenwagen, Feuerwehrautos oder Motorrädern ihre Runden für neun Hrywna, umgerechnet 60 Cent, eine Viertelstunde lang. Dazwischen unzählige Verkaufsstände für Souvenirs, Muscheln, Ketten, Gewürze. Der am Stehtisch gereichte Krimwein aus Masandra steht guten italienischen oder französischen Tropfen um nichts nach.
Von den in Rußland zugelassenen Fahrzeugen, die in langen Kolonnen auf die Krim rollen, trifft man hier in Jewpatorija kaum ein teures. Wohlhabende Russen urlauben an der Südküste der Halbinsel, zwischen Jalta und Feodossija, wo die Preise das hiesige Niveau um mindestens ein Drittel übersteigen und Exquisiteres angeboten wird.
Die Stadtverwaltung von Jewpatorija hat sich, wie viele andere auf der Krim, sichtlich noch nicht von sowjetischen Zeiten distanzieren mögen. Die Pension, in der wir uns einquartieren, liegt zwischen der Revolutionsstraße und dem Strand. Im Foyer geben alte Fotos Auskunft über den Wiederaufbau des von Nazideutschland zerstörten Anwesens. Auffällig häufig rutscht dabei das Portrait des großen vaterländischen Siegers, Stalin, mit ins Bild.
Unter den sowjetischen Straßennamen und Platzbezeichnungen wurden auf Geheiß einer städtischen Kommission die vorrevolutionären Bezeichnungen mit auf neue Straßenschilder gedruckt. So steht dann beispielsweise auf einer dieser gelb-braunen Tafeln zu lesen: »Proletarierstraße. Vormals: Polizeistraße«. Das Bekenntnis zur sowjetischen Epoche kommt mit dieser Art der Historisierung noch stärker zum Ausdruck als durch eine bloße Beibehaltung von Namensschildern aus kommunistischer Zeit.
Um den Ort in seiner gesamten historischen Dimension erfassen zu können, muß man die Heilbadanlagen und Freizeiteinrichtungen hinter sich lassen. Keine 200 Meter vom Meer entfernt beginnt die an venezianische und osmanische Siedlungen an den Küsten des Mittelmeeres erinnernde Architektur verwinkelter Altstadtgäßchen. Die Struktur des Winkelwerks mag ähnlich sein, sein Zustand ist es nicht. Nur wenige Straßen sind hier gepflastert, der Asphalt meist aufgebrochen, sandige Pisten verengen sich an manchen Stellen derart, daß nur Fahrräder oder Motorräder durchkommen, aber keine Autos. Jewpatorijas historischer Stadtkern wirkt heruntergekommen, die an den Hausmauern emporrankenden Pflanzen sind nur in Ausnahmefällen gepflegt, der wilde Wein überwuchert eßbare Trauben. Die Stadt hat schon bessere Zeiten gesehen – von ihrer mutmaßlich griechischen Gründung unter dem Namen Kerkinitida über das tatarisch-türkische Gosljow bis zu den Zeiten einer weiteren kulturellen Hochblüte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die damals bekanntesten russischen Künstler hier ihre Spuren hinterließen, noch zu erkennen in der Architektur, der »russischen Moderne«, die dem mitteleuropäischen Jugendstil ähnelt. In jener spätromantischen Epoche wurde der türkische Name der Stadt, Gosljow, erneut hellenisiert. Heraus kam: Jewpatorija.
Eindrucksvoll stehen der Rundbau der riesigen orthodoxen Nikolai-Kirche und die Dschuma-Dschami-Moschee mit ihren zwei Minaretten nebeneinander in der Revolutionsstraße, als hätte es keine türkisch-russischen Kriege, keine Tataren-Deportationen und keine atheistische Programmatik der KPdSU gegeben. Die orthodoxen Popen beten wie ihre Herde unter der Patronanz des russischen Patriarchen Kyrill nach Moskau, der Imam blickt wie alle seine Glaubensbrüder in Richtung Mekka, wenn er nach Erleuchtung sucht. Ein Besuch in dem von Hadschi Sinan erbauten Gotteshaus – demselben Architekten, der die Suleimania in Istanbul konzipiert hat – wird unweigerlich zur tatarischen Lehrstunde. Als »Deportation« läßt der Wärter die Austreibung der Krimtataren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gelten: »Das war ein Genozid«, beharrt er, ohne damit erklären zu können, warum heute – 18 Jahre nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung, mit der die Rückkehr der Tataren auf die Krim im großen Maße begonnen hat – wieder so viele tatarische Muslime auf der Krim leben wie in den 1940er Jahren. Jewpatorija zählt aktuell etwa 10.000 tatarische Einwoh-nerInnen. Und obwohl der Wärter der Moschee viel von Freundschaft und Brüderlichkeit redet, die notwendig seien, um hier in Frieden mit den Russen leben zu können, spürt man seinen Haß auf die Slawen, die seinen Vater aus Sewastopol und seine Mutter aus Jewpatorija nach Usbekistan deportierten.
Freundlicher werden wir bei den Kulturdenkmälern der jüdischen und karaimischen Gemeinde empfangen. Neben der jüdischen Synagoge »Elia Kapaj« wohnt eine alte Frau, die uns für fünf Hrywna (knapp 40 Cent) das Gotteshaus aufgesperrt und erklärt, es diene wochentags als Museum und am Freitag und Samstag als Gebetsstätte. Im übrigen seien wir herzlich willkommen und sollten uns nur überall umsehen, sie komme in einer Viertelstunde wieder, um auf etwaige Fragen zu antworten, so wir noch welche hätten. Wie viele gläubige Juden sich hier in Jewpatorija an den Wochenenden versammeln, wollen wir dann von ihr wissen. So zwischen 40 und 50 seien es. Sie selbst betrachte sich als »halbe-halbe«. Der Vater war Jude, die Mutter Ukrainerin.
Der für Westeuropäer interessanteste Kulturkomplex ist die einzig erhalten gebliebene Kenessa auf der Krim. Sie dient als Kult- und Lernstätte der Karäer, einer zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert zugewanderten Religionsgemeinschaft. Als »türkische Juden« wollen sie nicht gelten, obwohl ihre Kultsprache dem Althebräischen gleicht und ihre Umgangssprache dem Türkischen nahe verwandt ist. Diese monotheistische Gemeinschaft hat keine kirchlichen Hierarchien ausgebildet. Sie fühlt sich der Heiligen Schrift in Form des Alten Testaments verpflichtet, das auch bildhaft ihren Altar ziert. Den Talmud lehnt sie ab. Im Restaurant nebenan werden dann türkischer Kaffee und Baklava gereicht, ähnlich wie in Berlin-Kreuzberg oder in Wien-Ottakring, nur der Blätterteig ist feiner, mit der Hand gezogen.
Zurück am Strand zeigt sich Jewpatorija von seiner russischen Seite, Schweinefleisch auf Spießen und trockener, ausdrucksvoller Rotwein von den Hängen des Krimgebirges, an denen im Laufe der Jahrhundert skytische, griechische, venezianische, genuesische, türkische und slawische Eroberer und Befreier angelandet sind.