Der Nazibau spricht knallbuntes Chinesisch. Ein Vorhang aus 9000 farbigen Schulranzen verhüllt die langgestreckte Front des Hauses der Kunst in München; auf blauem Grund bilden riesige Schriftzeichen in Rot, Gelb, Grün und Weiß einen Satz, den nur Sinologen entziffern: »Sie lebte sieben Jahre glücklich in dieser Welt.« Es ist der Satz einer Mutter über ihr totes Kind – eines der 5335 Schulkinder, die 2008 bei dem Erdbeben in Sichuan ums Leben kamen, weil die Schulen schlampig gebaut waren. Der inzwischen weltberühmte Pekinger Allroundkünstler Ai Weiwei hat über das Schicksal der Kinder und über die Korruption, die ihren Tod verschuldete, Nachforschungen angestellt und sich damit Polizeiprügel eingehandelt, deren lebensbedrohende Folgen (Gehirnblutung) mit einer Notoperation in einer Münchner Klinik behoben wurden – wenige Wochen vor der Eröffnung seiner Ausstellung, die nun bis Mitte Januar das Haus der Kunst bombastisch besetzt.
Ai Weiwei, nach zwölf Jahren New York seit 1993 wieder in seinem Heimatland, wo er sich eines wachsamen staatlichen Mißtrauens erfreut, versteht sich als Erbe Duchamps und spricht von sich selbst gern als »Readymade«, das ihm zur Forschungsarbeit dient. Readymades sind die 100 mächtigen Wurzelstrünke von Baumriesen, die sich im weiträumigen Zentralsaal zu geordnetem Chaos gruppieren, umgeben von einer wandhohen Fototapete mit den Konterfeis der 1001 Chinesen, die der Künstler 2007 zur Kasseler documenta verfrachtet hat, und aufruhend auf einem 380 Quadratmeter großen Wollteppich, der den darunterliegenden Fußboden aus Solnhofener Platten akribisch exakt faksimiliert – mit all den geologischen Feinstrukturen und den Verschleißspuren von 70 Jahren Museumsnutzung. Readymades sind die Zierbalken, Säulen und Möbelstücke aus zerstörten Tempeln der Qing-Dynastie, die sich mal zu sperrigen Skulpturen ballen, mal zum kantigen Tsunami türmen. Und Readymades sind die schlichten neolithischen Vasen mit Industriefarbentünche, von denen das Unglaubliche suggeriert wird, es handele sich um 4000 Jahre alte Originale.
Duchamp freilich beließ es mit seinem Flaschentrockner und seinem zur Fontäne stilisierten Urinal bei einer zwar radikalen, aber eher diskreten Geste, während Ai Weiwei einem zermalmenden Gigantismus frönt. Duchamp hob mit einer Provokation den Kunstbegriff aus den Angeln; seine Nachfolger haben daraus eine Methode entwickelt, Kunst ohne Kunst zu machen, und dabei müssen sie einander übertrumpfen. Ai Weiweis Kunst will und soll als kritische Auseinandersetzung mit dem Machtanspruch der sozialistisch maskierten Brutalkapitalisten im fernen Osten verstanden werden, und das ist sie am ehesten in den Fotoarbeiten, die das Plattmachen gewachsener Städte dokumentieren. Die Installationen scheinen sich mit ihrem gigantomanischen Auftrumpfen eher dem anzugleichen, was sie zu kritisieren vorgeben. Der umtriebige Ai Weiwei imponiert vor allem als Großbeweger und Weltmeister synergetischer Logistik. Aufwand und Organisationsleistung sind umwerfend.
Und der Ranzenvorhang? Das Engagement für die Opfer der Behördenschlamperei ist aller Ehren wert; in München aber wirkt es fehl am Platze und verkommt zur üppigen Dekoration. Wenn die Kunst in die Rollen von Journalisten und Menschenrechtsanwälten schlüpfen soll, läge es hierorts wohl näher, an die 35.000 Kinder zu mahnen, die Tag für Tag verhungern, weil die reichen Länder auf Kosten der armen leben.
»So sorry« lautet der Titel der Ausstellung – eine Anspielung auf das Floskelgerede der politischen Verantwortungslosigkeit. Das Mammutwerk macht Eindruck als handwerklich perfekter Gewaltakt; es schmettert nieder wie ein Faustschlag vor die Stirn, Aber zu sagen hat es uns wenig. Außer: Das Riesenreich im Osten hat sich den erweiterten, den entfesselten Kunstbegriff des Westens meisterschülerhaft angeeignet und versteht ihn mit Verve und Geschick zu reexportieren. Mehr nicht! So sorry!