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Titel2209

Bemerkungen

Parlamentarismus-Reform
Die Fraktionen im Deutschen Bundestag, genauer: die in Fraktionen zusammengeschlossenen Parlamentarier haben darüber zu beschließen, welche Koalition gebildet werden und welche Politik sie machen soll. Damit ihnen das nicht zu schwer fällt, haben Merkel, Westerwelle und Seehofer den fertigen Koalitionsvertrag diesmal schon der Öffentlichkeit vorgestellt, bevor die Fraktionen ihn sehen durften. »Wir werden alles billigen, was sollen wir sonst machen«, zitiert die FAZ einen namentlich nicht genannten CDU-Abgeordneten.

Die Parlamentsmitglieder können nach der Verfassung über Gesetzentwürfe frei entscheiden, insofern wären fallweise Mehrheiten quer zur Front von Koalition und Opposition denkbar. Damit das gar nicht erst zur Versuchung wird, steht im Koalitionsvertrag: »Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.«

An der Reformierung des Parlamentarismus ist auch die SPD beteiligt. Um der Fraktion die Mühe der Entscheidung über ihren Vorsitzenden abzunehmen, erklärte sich Steinmeier gleich nach dem Wahlausgang zum »Oppositionsführer«, das heißt er ergriff den Fraktionsvorsitz der SPD. Seine Parteigenossen im Parlament hatten das zu akzeptieren, was hätten sie sonst machen sollen.
Der Parlamentarismus wird »verschlankt«.

Arno Klönne


Kinder und Klassen

Die Bundesrepublik, so wird seit langem geklagt, ist geburtenschwach. Deshalb wetteifern PolitikerInnen aller Parteien darin, Aufzucht von Nachwuchs zu fördern. Die neue Bundesregierungskoalition zeigt sich stolz darauf, in dieser Richtung voranzuschreiten: Das Kindergeld wird um 20 Euro erhöht und auch, was für manche Eltern ergiebiger ist, der steuerliche Freibetrag angehoben. Angela Merkel und Guido Westerwelle, obgleich von diesem Thema nicht selber betroffen, haben begriffen, daß Kind nicht gleich Kind ist – schließlich wollen sie ja, um mit dem Bundesbankier Thilo Sarrazin zu reden – nicht dazu anregen, »ständig neue kleine Kopftuchmädchen zu produzieren«. Deswegen wird die Kinderförderung nach Einkommensklassen gestaffelt. Zum Beispiel wird ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen bis zu 30.000 Euro demnächst per anno 480 Euro mehr in der Haushaltskasse haben, eines mit 200.000 Euro Einkommen gewinnt 871 Euro im Jahr dazu. Wer hat, dem wird mehr gegeben, wo kämen wir denn sonst auch hin! Ein Leistungsträgerkind braucht eben mehr Staatsknete.
Marja Winken


Sozialneid von oben

Wenn irgendein Durchschnittsjemand die Steuerprogression als »sozialistische Enteignung« anprangern und sich wundern würde, daß angesichts des »Aussaugens« der »Produktiven« durch die »Unproduktiven« der »antifiskalische Bürgerkrieg« ausbleibt, sähe wohl niemand etwas anderes darin als den bornierten Egoismus eines Betuchten. Und wenn dieser Jemand dann noch forderte, die »Zwangssteuer« durch großherzige freiwillige »Geschenke an die Allgemeinheit« zu ersetzen, brächen alle in Gelächter aus. Wenn dieser Jemand aber Peter Sloterdijk heißt, ein hochbezahlter Professor und Erfolgsautor ist und als wortmächtiger Gescheitheitsvirtuose seinen Sozialneid von oben als sozialphilosophischen Grundsatztraktat zu servieren versteht, für den die FAZ ihm mehr als eine Zeitungsseite einräumt, dann gibt es kein Gelächter, sondern eine monatelange Debatte illustrer Intellektueller in illustren Blättern. Statt schweigend das betrübliche Faktum zu übergehen, daß offenbar auch ein Spitzenintellektueller, sobald es um seine materiellen Interessen geht, der Dummheit verfallen kann, erkennen sie mit ausgefeilter philosophischer Gegenrede dem peinlichen Ausrutscher die Dignität der diskutierbaren Theorie zu.

Dummheit aber ist es, darüber zu jammern, daß »eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet«. Es ist sachlich Unsinn. Und mit elitärem Dünkel wird hier der Arbeit der Kindergärtnerin, der Altenpflegerin und vielen anderen gesellschaftlich eminent wichtigen, aber schlecht bezahlten Tätigkeiten der Wert der Leistung aberkannt.

Einen seiner Kontrahenten hat der Steuer-Rebell mit dem Verdikt beschieden, er habe »in Bezug auf meine« (Sloterdijks) »Arbeit« einen »Lektüre-Rückstand« von 6000 bis 8000 Seiten. Sloterdijk scheint einen Rückstand zu haben, der sich nicht nach gelesenen oder ungelesenen Buchseiten bemißt, und dem wird mit nachholender Lektüre nicht abzuhelfen sein.
Hans Krieger


Oppositionsfähigkeit gewünscht
Kann eine sozialistische Partei im Kapitalismus regierungsfähig sein?

Ist es nicht die Aufgabe einer sozialistischen Partei, gegen die dem Kapitalismus verpflichtete Parlamentsmehrheit und Regierungspolitik zu opponieren?

Kann eine sozialistische Partei, die gegen den Kapitalismus nicht opponiert, noch eine sozialistische Partei sein?

Ob eine sozialistische Partei, solange sie nicht die Mehrheit errungen hat, regierungsfähig ist oder nicht, entscheiden die möglichen Koalitionspartner und die Konzernmedien, die den Willen des Kapitals zur Geltung bringen.
Die dem Kapitalismus verpflichteten Parteien und die Konzernmedien fordern von einer sozialistischen Partei immer neue Beweise für ernsthaftes Bemühen um Regierungsfähigkeit: Bereitschaft zum Sozialabbau, zur Kriegführung, zur Aufgabe oppositioneller Betätigung und zum Verzicht auf sozialistische Ziele.

Als regierungsfähig erkennt das Kapital eine Partei an, die hinreichende Beweise für ihre Unterordnung unter seine Interessen geliefert, also zugunsten des Kapitals auf eigenständiges Regieren verzichtet hat.
Kann eine sozialistische Partei, die sich im Kapitalismus als regierungsfähig erweisen will, zulassen, daß sich in ihr noch sozialistische Tendenzen regen? Sie muß es zulassen, um sozialistische Wählerinnen und Wähler an sich zu binden und um dem Kapital den Dienst zu erweisen, sozialistische Gruppen einzubinden und wirkungslos zu machen, bis sie am Ende resignieren.

Kann eine sozialistische Partei, die sich unter solchem Druck zur nicht- oder antisozialistischen Partei entwickelt hat und für regierungsfähig befunden worden ist, als (mit-)regierende Partei den Kapitalismus menschenfreundlicher gestalten? Man vergleiche am Ende von Wahlperioden die Ergebnisse der Regierungstätigkeit! Aller Erfahrung nach: eher nein.

Kann eine klug und fleißig, klar und konsequent opponierende Partei Einfluß auf die Regierungspolitik erreichen, sie an der einen oder anderen Grausamkeiten hindern? Aller Erfahrung nach: ja.

Sollen Sozialisten versuchen, einer Partei, die auf dem steil abwärts führenden Weg zur Regierungsfähigkeit noch nicht allzu weit nach unten gelangt ist, nach Kräften zu helfen, damit sie sich aufrappelt und vielleicht doch noch oppositionsfähig wird? Eine schwere Aufgabe, vor allem wenn die Partei schon hier und da mitregiert und sich unglaubwürdig gemacht hat.

Eine Partei, die sich als oppositionsfähig erweist, wird nach und nach Anerkennung finden. Sie wird sich aber auch auf um so heftigere Attacken von Konzernmedien, Geheimdiensten, Nazis und ehemals sozialistischen Parteien einstellen müssen.
Rita Rosmarin


Machtverhältnisse
Jüngst geschah es in der Volksduma: Drei Fraktionen zeigten sich tief empört und verließen demonstrativ den Saal. Unter Protest, versteht sich. Der Grund: Die Ergebnisse der am 13. Oktober veranstalteten Wahlen in dutzenden russischen Regionen seien aufs gröbste verfälscht. Die regierende Partei Einheitliches Rußland habe die ihr zur Verfügung stehenden administrativen Mittel und Möglichkeiten »schamlos eingesetzt und ausgenutzt«. Damit habe sie die drei anderen, mit ihr konkurrierenden Parteien – Schirinowskis Nationalliberale, Kommunisten und Gerechtes Rußland – ihrer Stimmen beraubt.

Als Trio stellten sie ein Ultimatum: Entweder Präsident Dmitrij Medwedew empfange sie unverzüglich zum Gespräch, oder sie würden weiter streiken. Tatsächlich blieben die drei Fraktionen den ganzen Tag stolz den Plenarsitzungen fern. Das Staatsoberhaupt zeigte sich von diesen Drohungen nicht sonderlich beeindruckt und gewährte den Leidgeprüften kein persönliches Rendezvous. Ein Telefonat mußte genügen. Die unbeugsame Opposition war jedoch restlos zufrieden. Zur nächsten Sitzung, zwei Tage später, nahmen zwei der drei Protestparteien gehorsam ihre Plätze ein, als wäre nichts geschehen. Allein die kommunistische Fraktion streikte eine ganze Woche.

Von den Wahlfälschungen redet niemand mehr. Schirinowski bezog sich auf eine Bitte des Präsidenten. Auch der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Rußland, Nikolai Lewitschew, gab eine rätselhafte Erklärung ab: »Das war eine Minute der Wahrheit.« Sollte das heißen, daß man in der Duma normalerweise alles andere als die Wahrheit sagt?

Anton Tschechow stellte in einer Novelle eine ähnliche Situation dar: Eine in Rage geratene Ehefrau herrscht ihren Gatten an: »Mit einem solchen Schuft wie Dir will ich nicht länger zusammenleben, ich gehe.« Und sie ging – ins Nebenzimmer.
Sergej Guk


Leben auf der Folter
Der heute im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde verwahrte Aktenbestand wäre ohne eine Personalentscheidung Konrad Adenauers nicht gebildet worden, wenngleich dem ersten Kanzler der Bundesrepublik diese Folge gewiß nicht vorgeschwebt hat. Aber wäre Hans Maria Globke nicht Staatssekretär im Kanzleramt geworden, sondern hätte der einstige Ministerialrat im Reichsinnenministerium seiner Tage Rest wie Hunderte und Tausende Staatsbeamte des Führers mit auskömmlicher Pension in einem größeren oder kleineren westdeutschen Nest verbracht, wer würde nach ihm noch gefragt oder gesehen haben? Öffentliches Interesse wurde dem Kommentator der Nürnberger Gesetze von 1935 erst durch seine zweite, die Bonner Karriere zuteil. Für weltweite Aufmerksamkeit sorgte – gleichsam vertretungsweise, denn der Weststaat unterließ die Strafverfolgung – der Generalstaatsanwalt der DDR, der ihn wegen seines Beitrags zur Judenverfolgung auf die Anklagebank setzte.

Bevor es – in absentia – zum Globke-Prozeß vor dem Obersten Gericht des ostdeutschen Staates kam, wurden Opfer der rassistischen Politik, für die er den juristischen Rahmen geliefert hatte, nach ihrem Erleben und Erleiden während der Jahre 1935 bis 1945 befragt. Mehr als 600 Personen, die im Nazistaat in die Kategorien »Juden in Mischehen« oder »Mischlinge« (das waren Kinder aus solchen Ehen) einsortiert worden waren, erklärten sich bereit, sich von Staatsanwälten befragen zu lassen und damit einmal mehr sich die Last des Erinnerns an Schrecken aufzubürden, die damals anderthalb Jahrzehnte hinter ihnen lagen: Haussuchung, Inhaftierung, Deportation, der Hunger im Kriege, als sie auf niedrigste Lebensmittelrationen gesetzt waren, die Zwangsarbeit und vor allem der Verlust enger und ferner Verwandter, Freunde und Bekannter, die Opfer des Massenmordens geworden waren.

Die Existenz dieses Konvoluts von Akten war schon bekannt. Doch hatten Historiker sie nur selektiv unter ihren jeweiligen Fragestellungen benutzt. Nun hat sich Erika Schwarz durch den Gesamtbestand gearbeitet. Daraus ist ihr in diesen Tagen erschienenes Buch »Juden im Zeugenstand« hervorgegangen, in dem vortrefflich erschlossene Dokumente zusammengestellt sind. Es bietet im Kern Auszüge aus den seinerzeit entstandenen Protokollen, stellt die Befragten mit knappen biografischen Angaben vor und bietet im Faksimile Papiere, die von ihnen zum Beweis für die Wahrhaftigkeit ihrer Berichte den Staatsanwälten übergeben wurden und sich in den Akten erhielten. Die Autorin hat dieses Material historisch geordnet und jeden Abschnitt sachkundig eingeleitet. So kann eine Vorstellung von den Phasen der Verfolgungen in Vorkrieg und Krieg entstehen, in denen die Spezialisten des Antisemitismus in Aktion unterschiedliche Ziele verfolgten, die sich bis zur Politik der Ausrottung steigerten. Es macht den besonderen Wert der Überlieferung aus, daß sie zu einer Zeit entstand, da es um die Literatur zur Judenverfolgung noch ärmlich bestellt war, so daß das Berichtete weitgehend das mit dem Fremden unvermischte Eigene war, sich meist ganz auf persönliches Erleben gründete. Zum anderen folgten die Aussagen einer den Gesprächen zugrunde liegenden, nicht starr gehandhabten Fragenkette. Sie erlaubt Vergleiche, die Gemeinsames wie Besonderes hervortreten lassen. Der Band räumt mit allen beruhigenden Vorstellungen davon auf, daß die als »privilegierte« Juden oder als »Mischlinge« Eingestuften doch glimpflich davongekommen wären. Was sie berichteten, läßt eine Vorstellung vom Leben auf der Folter und in totaler Ungewißheit schon über den morgigen Tag entstehen. Wir wissen es vor allem aus Victor Klemperers Tagebüchern. Auf den Seiten dieses Bandes wird es gedrängt von vielen anderen Menschen bezeugt.
Kurt Pätzold
Erika Schwarz: »Juden im Zeugenstand. Die Spur des Hans Maria Globke im Gedächtnis von Überlebenden der Schoa«, Hentrich & Hentrich, 260 Seiten, 32 €


Kranke Gesellschaft
Schüler von Erich Fromm berichten über seine »paradoxe« Methode des »Dies bist Du«: »Man muß das, was der Patient spricht, in sich selbst spüren«, fordert Fromm und widerspricht damit konformistischen Psychotherapien, die den Patienten wie ein Objekt behandeln, das an die »kranke« Gesellschaft angepaßt werden soll.

Statt »paradox« könnte man auch dialektisch sagen.

Fromm verdeutlicht das an einem Beispiel aus seiner Praxis: Oft sage man ihm, professionelle Therapeuten würden sich dadurch auszeichnen, daß sie dem Patienten deutlich dessen Eigenverantwortlichkeit für seine Gesundheit vor Augen führten. Dies stimme so nicht. Man müsse für den Patienten Verantwortung übernehmen und auf ihn bezogen sein. Sonst würde der Patient tatsächlich in ein Objekt verwandelt, auf das der Therapeut geringschätzig niederschaut. Der Therapeut sei aber nicht verantwortlich für die Gesundung des Patienten. Dies klinge zwar paradox, führe aber letztlich auf den Weg zur Wirklichkeit des Patienten.

In Supervisionen seiner Schüler war Fromm daran interessiert, was sie als Therapeuten in der Sitzung mit dem Patienten über sich selbst gelernt hatten. Das klang für viele zunächst »paradox«. Nur dann, wenn der Therapeut erkenne, daß alles, was in seinem Patienten ist, auch in ihm ist, könne er seine Wirklichkeit und die des Patienten besser erkennen, lehrt Fromm. So werde es in der Therapie nicht langweilig.

Fromm erweist sich in diesem gelungenen Sammelband als humanistischer Kritiker einer »kranken« Gesellschaft, in der die Neurose zur Normalität gehört.
Jürgen Meier
Rainer Funk (Hg.): »Erich Fromm als Therapeut. Einblicke in seine psychoanalytische Praxis aus Sicht seiner Schüler«, Psychosozial-Verlag, 249 Seiten, 24.90 €


Marx – politisch verstanden
Die Jahre, in denen Karl Marx als »toter Hund« beiseitegeräumt war, sind vorbei. Bis in die gutbürgerlichen Zeitbetrachtungen hinein wird der gründlichste Erforscher der kapitalistischen politischen Ökonomie wieder zitiert, Studierende wenden sich wieder der Marx-Lektüre zu. Eine intellektuelle Mode ist das nicht, die unangenehmen Erfahrungen mit dem aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Krisenprozeß drängen dazu. Da ist ein neues Buch nützlich, dessen Autoren Zugänge öffnen zu einem politischen Verständnis kritischer Theorie der Welt, in der wir leben. Lorenz Knorr und Walter Tschapek holen Karl Marx hinein in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Gegenwart; sie stellen ihn nicht auf den Sockel. Deutlich wird die analytische wie auch die emanzipatorische Kraft des Marx’schen Denkens. So regt das Buch zum weiteren Studieren und zum politischen Einmischen an. Es hat, und das ist kein Nachteil, einen didaktischen Charakter; für »Marxologen« ist es nicht geschrieben, sondern für Leser, die wissen wollen, wovon er angetrieben war und was er herausgefunden hat, der Verfasser der »Pariser Manuskripte« und des »Kapitals«.
Arno Klönne
Lorenz Knorr und Walter Tschapek: »Karl Marx in unserer Zeit«, VAS Verlag, 256 Seiten, 14 €


Das »Wunder« des Herbstes 1989
Bis heute hat sich Bundespräsident Horst Köhler noch nicht für die Greuelmärchen entschuldigt, die er beim Leipziger Festakt »20 Jahre friedliche Revolution« über die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 erzählte: »Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rück-sicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schußwunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt«. Frei erfunden.

Hauptadressat der Entschuldigung müßte Egon Krenz sein, der letzte Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, der in seinem seit 1999 vorliegenden Buch »Herbst ´89« berichtet, daß er – nachdem Polizei und Staatssicherheit am 4. Oktober in Dresden und am 7. Oktober in Berlin gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen waren – am 8. Oktober gemeinsam mit Wolfgang Herger, Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen im ZK der SED, einen Befehl an die Partei- und Sicherheitsorgane initiierte, gegen politische Demonstranten keine Gewalt (mehr) einzusetzen. Auf Grund der Zusicherung von Krenz riefen sechs namhafte Leipziger Bürger, unter ihnen der Dirigent Kurt Masur, die 70.000 Menschen, die sich am 9. Oktober in Leipzig zur Montagsdemonstration versammelten, zur Besonnenheit auf. Die Demonstration verlief friedlich. Die Sicherheitskräfte griffen nicht ein. Am 13. Oktober, als in Leipzig 100.000 Demonstranten erwartet wurden, flog Krenz – wie er in Übereinstimmung mit anderen Beteiligten berichtet – mit den stellvertretenden DDR-Ministern für Inneres, Verteidigung und Staatssicherheit nach Leipzig, um jede staatliche Gewaltanwendung zu verhindern. Der Gebrauch der Schußwaffe wurde verboten – nach Krenz’ Rückkehr auch mit Honeckers Unterschrift. Mit dem sowjetischen Kommando wurde vereinbart, daß die Truppen in den Kasernen blieben, um die Demonstranten nicht zu provozieren. Nachdem Krenz selbst Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates geworden war, verbot er vor der großen Protestdemonstration am 4. November in Berlin erneut den Gebrauch der Schußwaffe.

Schon im Prozeß gegen Krenz hatte das Berliner Landgericht in seinem Urteil diese Tatsachen als wahr festgestellt: Krenz habe »aktiv- und initiativreich dafür (gesorgt), daß es zu keinem Blutvergießen kam«. Doch zwölf Jahre nach der Veröffentlichung des Urteils, zehn Jahre nach Erscheinen des Buches ignorieren Politiker, Historiker und Medien konsequent die Fakten. Der Bundespräsident stützte sich, wie inzwischen bekannt wurde, auf den Historiker Michael Richter, der sich seinerseits, wie er bekannte, »auf ungenaue Zeitzeugenaussagen verlassen« hatte.

Wird Köhler die Größe haben, sich zu entschuldigen? Um der historischen Wahrheit willen? Oder um des inneren Friedens willen? Oder um der Gerechtigkeit für den damals Hauptverantwortlichen willen? Oder soll sich die Lüge als Nationalmythos festsetzen? Weil sonst vielleicht das Heldentum der Menschen in der »Heldenstadt« Leipzig nicht ganz so großartig erscheint und die DDR nicht als das Ungeheuer, das uns, unsere Kinder und Kindeskinder abschrecken soll, jemals wieder auf sozialistische Gedanken zu kommen?

Auch das Deutsche Historische Museum verband in seiner Ausstellung »Das Jahr 1989« die Behauptung von brutalem Einsatz der Sicherheitskräfte mit der Schlußfolgerung: »Daß die Revolution am Ende friedlich blieb, grenzt an ein Wunder.« Nein, das »Wunder« ist längst aufgeklärt.

Krenz’ Buch ist aber auch aus anderen Gründen eine spannende, informative Lektüre. Minutiös schildert er aus seiner Sicht, wie die DDR Stück für Stück verfiel und demontiert wurde. Die Versuche von Funktionären, Intellektuellen, Theologen und anderen, durch den Dialog über Reformen den Sozialismus zu erneuern und die DDR zu retten, konnten die Lage nicht stabilisieren. Tag für Tag notiert Krenz den Wandel von Gorbatschows Beteuerungen des strategischen Bündnisses mit der DDR hin zu ihrer Preisgabe in Geheimverhandlungen mit Kohl und Bush. Die innere Opposition schwenkte um vom Verlangen nach der Verbesserung des Sozialismus zur Forderung nach der »Wiedervereinigung«. Bonn erkannte die Schwäche der DDR und entsandte den Emissär Rudolf Seiters, der wie ein Statthalter auftrat. Krenz und seiner Führung gelang es nicht, das Vertrauen der Parteibasis zurückzugewinnen. »Die Partei fiel zusammen wie ein Kartenhaus.« (Krenz).
Sigurd Schulze
Egon Krenz: »Herbst ´89«, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, 479 Seiten, 14.90 €


Vergleiche nach 20 Jahren
Die Medien überschlagen sich gegenwärtig mit der Präsentation von Erinnerungen und Dokumenten über die Ereignisse 1989, und kaum ein Autor solcher Texte oder Filme fragt nach der Zeit danach, setzt die damaligen Ereignisse in Bezug zu den nunmehr vergangenen 20 Jahren. Ein Vergleich scheint tabu. Denn dann wäre es unvermeidlich, auch über viele gescheiterte Hoffnungen und große Enttäuschungen zu sprechen. Da wagte Daniela Dahn mit ihrem Buch »Wehe dem Sieger« Ungewöhnliches (und wird deshalb auch von der tonangebenden Presse nicht wahrgenommen). Heike Schneider und Adelheid Wedel folgen ihr: Sie unterhielten sich mit 16 ostdeutschen Prominenten aus Kultur, Kunst, Wissenschaft und Politik über deren Erfahrungen. Peter Sodann, Friedrich Schorlemmer, Christoph Dieckmann, Andreas Dresen, Christa Luft, Gisela Steineckert und andere – alle bekannt auch aus Talk-Shows oder anderen öffentlichen Veranstaltungen um die Wende – haben die Zeit nach 1990 sehr unterschiedlich wahrgenommen; einige sind Partner der Medien geblieben, andere werden eher gemieden. Aber wie sie die Veränderungen schildern und erklären, ergibt sich allemal aus gründlicher Überlegung und kluger Analyse eigener Erfahrung. Dank behutsamer und gut vorbereiteter Gesprächsführung, die bei Günter Gaus gelernt zu haben scheint, erfährt man viel von den Einzelnen, gewinnt Verständnis und kann so selber die verschiedenen Argumente abwägen. Daß solche Prominenz mittlerweile von Skandalmachern, Schwätzern, Fachidioten oder Schlagerstars verdrängt wird, weist auf den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft, aber das Buch belegt: Denken kann immer noch Spaß machen, und die Reflexion der eigenen Lage will gelernt sein.
Christel Berger
Heike Schneider, Adelheid Wedel: »Vom Privileg des Vergleichs. Erfahrungen ostdeutscher Prominenter vor und nach 1989«, Militzke Verlag, 368 Seiten, 22.90 €


Walter Kaufmanns Lektüre
Man wird, wie ich, Genugtuung empfinden, als dieser Engländer Nicholas Keene in seiner Hütte bei Broome ermordet aufgefunden wird – ihm geschah, was geschehen sollte. Da kommt einer ins australische Outback, um in amtlichem Auftrag bei den Aborigines anthropologische Studien zu treiben, und entwickelt zu diesen Menschen, ihren Sitten und ihrem Land nicht die Spur einer Beziehung. Er hält es einfach für gegeben, daß die Weißen sie versklaven, daß Willie, der schwarze Viehtreiber auf der Trevor-Farm, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für Tabak und eine Handvoll Mehl schuftet, und bleibt stumm, als das schwarze Küchenmädchen der Trevors, das er vergewaltigt und geschwängert hat, ihre Stelle verliert und verjagt wird. Er drangsaliert die eigene Frau bis zum Nervenzusammenbruch, und als sie für geraume Zeit in die Klinik muß, vergewaltigt er auch das schwarze Hausmädchen Mary, das seiner Tochter Perdita wie eine Schwester ist – die einzige Bezugsperson, die Perdita hat. Daß er seine Frau am Heiligabend aus einer Laune heraus blutig schlägt und aus einer anderen Laune Mary die glühende Asche seiner Pfeife auf die Hand drückt, erstaunt schon nicht mehr ... ein Irrer, dieser Kerl, und seine Frau eine in den Irrsinn Getriebene. Von Anbeginn empfinden die beiden Australien wie eine Strafe, und wären da nicht die Schwarzen, Tochter Perdita bliebe blind für die Schönheiten des Landes, blind und taub für die Tier-, vor allem die Vogelwelt. Niemals würde sie erkannt haben, was es außer Shakespeare noch gibt zwischen Himmel und Erde. – Die Shakespeare-Besessenheit der Mutter, ihr ständiges Rezitieren vermag ich nicht nachzuvollziehen, nicht bei dieser Frau in diesem Umfeld. Schon in »Sechzig Lichter«, dem vorangegangenen Roman der Gail Jones, blieb mir vieles fremd. Schwer zu glauben ist jetzt zum Beispiel, wie wenig gerüstet das Ehepaar aus dem fernen England für ein Leben im australischen Busch ist. Um so dankbarer darf man den Schwarzen sein, die Perdita (und damit uns) ihr Land in all seiner Vielfalt erschließen, und es ist ein Schwarzer, der Perdita und ihre Mutter vor dem sicheren Untergang in einem Unwetter bewahrt, dessen Abklingen er ausschließlich am Gezwitscher eines Vogels festzumachen versteht. »Kommt, es ist vorbei!«

1940, im Jahr meiner Ankunft in Australien, wo ich 15 Jahre verbrachte, kettete man (so lese ich es jetzt) in Broome Aborigines zum Straßenbau aneinander (und wo noch?). Diese Schilderung geht unter die Haut, und es macht zutiefst nachdenklich, daß es Kumti war, dieser einst im Straßenbau versklavte Aborigine, der Perdita und ihre Mutter vor den Naturgewalten rettete. Im Schicksal eines Kumti und der von ihrer schwarzen Mutter gewaltsam getrennten, ins Haus des perfiden Engländers verbannten Mary spiegelt sich das Elend der australischen Schwarzen, das Schicksal eines ganzen Volkes.
W. K.
Gail Jones: »Perdita«, aus dem Englischen von Conny Lösch, Edition Nautilus, 256 Seiten, 19.90 €


Press-Kohl
Weihnachten steht wie in jedem Jahr so auch in diesem geduldig vor der Tür und möchte unsere Wünsche erfüllen. In dieser Beziehung bin ich anspruchslos und schon ganz zufrieden, wenn dem Brandenburger Tor eine Leuchtschrift mit dem Text »Be Börrlihn!« angeschraubt ist und die Siegessäule von 66 Wowibärchen aus gelbem westergewelltem Leukoplastilin bewacht wird.

Base Anna indes und ihren treuen Gatten Nicolaus zieht es an einen Berg-see mit Halbpension und idyllischen Ausflügen und fotogenen Panoramen. Da die populären Vokalisten Hans Lang und Maria Andergast vielleicht nicht mehr sangeslustig sind, studiere ich heimlich zu Annas Freude das schöne Lang-Lied ein: »Du bist die Rose, / die Rose / vom Wörthersee!«

Doch umsonst! Nicolaus las im Berliner Abendblatt, wann die Leserreise stattfindet: »Advent am Wörthersee. 1.1. bis 5.2.2010.« Eine Zeit, in der man schon an Fasching denkt. Und den Jecken flicht die Mitwelt auch am Wörthersee keine Adventskränze.
Felix Mantel