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Das Geheimnis der Geheimdienste  (Manfred Wekwerth)

Seit Jahren bekommen wir Kino- und Fernsehfilme über »die Stasi« am laufenden Band zu sehen. Mit der Wirklichkeit in der DDR haben sie gewöhnlich wenig gemein. Mut zur Aufklärung gehört ohnehin nicht dazu, sich heute mit einem Geheimdienst zu befassen, der vor 20 Jahren mit dem Staat unterging, den er nicht zu sichern vermochte. Mut zur Aufklärung sollte sich heute auf die im vereinten Deutschland real existierenden Geheimdienste richten. Ossietzky-Mitherausgeber Rolf Gössner hat seit vielen Jahren dieses Thema nicht gescheut – und mußte erfahren, daß er selber seit der Zeit seines Studiums vom sogenannten Verfassungsschutz observiert wurde. Darüber berichtete er am 3. Oktober (Carl von Ossietzkys Geburtstag) in Berlin in einer gemeinsamen Veranstaltung der Internationalen Liga für Menschenrechte, der Stiftung Haus der Demokratie und der Redaktion Ossietzky. Zur Einleitung trug die Schauspielerin Renate Richter einen Text vor, den Manfred Wekwerth 2006 für Ossietzky geschrieben hatte. Auch Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linkspartei und Ossietzky-Mitherausgeberin, und der Historiker Wolfgang Wippermann (Freie Universität Berlin) wirkten mit. Im folgenden sind diese Beiträge dokumentiert (zum Teil überarbeitet). Als Moderator erinnerte ich daran, daß 1933, als der Reichstag brannte, die Polizei längst Listen parat hatte, nach denen sie Antifaschisten verhaftete. Carl von Ossietzky gehörte zu den ersten. Diese Erinnerung erschien mir geboten, weil der »Verfassungsschutz« in seinen »Berichten« permanent gegen den Antifaschismus polemisiert, Antifaschisten mit Faschisten gleichsetzt (»Extremisten«) und sie unter Dauerbeobachtung hält. Beunruhigend ist auch die jüngste Gerichtsentscheidung zur Überwachung der Linkspartei.
E.S.

Eigentlich müßte ich jedem, der etwas über Brecht erfahren will, abraten, die »Akte Brecht« des Federal Bureau of Investigation (FBI) zu lesen. Denn alles, was die US-Agenten mit konspirativer Unermüdlichkeit in den Papierkörben des »Subjekts« (Brecht) suchten oder in aufopferungsvoller Tag- und Nachtarbeit beim Abhören der Telefonate und beim unablässigen Beobachten aller Leute, die das Haus des »Subjekts« in Santa Monica betraten, erfahren wollten, hätten sie mühelos und wesentlich kostengünstiger zum Beispiel in Brechts Stück »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe« finden können, sogar in Englisch: »Where ever violence prevails, the only help is violence itself.« Gibt es einen eindeutigeren Beweis, daß das »Subjekt« tatsächlich den »gewaltsamen Sturz« des Kapitalismus plante? Ein einziger Satz also, nämlich »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht«, hätte ausgereicht, ganze 371 Seiten Protokolle zu ersetzen. Denn er liefert, was die Aktenberge nicht liefern konnten: den Beweis für die Gefährlichkeit des »Subjekts«, das »höchstwahrscheinlich Kommunist« war.

Die unter dem Stichwort »Subject Bertolt Eugen Friedrich Brecht, Document File#100-19o707« gesammelten Protokolle einer kostspielig-aufwendigen Observation beweisen wieder einmal, daß Graham Greene wie auch andere kluge Leute seiner Generation recht hat, wenn er in seinem umwerfenden Spionage-Roman »Unser Mann in Havanna« die globale Geschäftigkeit der Geheimdienste ein »unverzichtbares perpetuum mobile bestbezahlter Sinnlosigkeiten« nennt. Denn es geht dem Federal Bureau of Investigation offenbar gar nicht um das, was in den Akten steht. Darin steht nichts, was man nicht an jeder Straßenecke am Zeitungskiosk hätte erfahren können. Es geht vielmehr um das, was nicht drinsteht, was aber, wie man vermutet, drinstehen könnte. Da nichts drinsteht, kann man alles Mögliche vermuten. Es geht also nicht um den Inhalt der Akten, sondern einfach um die Tatsache, daß es solche »Akten« gibt und daß das jeder weiß. Da man sie aber nicht kennt, können sie alles und jeden betreffen. Nicht die Gewißheit der Fakten soll hier wirken, sondern der Faktor der Ungewißheit.

Die FBI-Akten sollen nicht etwa zeigen, was einer tatsächlich einmal getan hat, sondern was er in Zukunft auf jeden Fall unterlassen soll. Es sind Warnungen an Illoyale oder an solche, die man zu Illoyalen macht. Kurz: In der professionellen Sinnlosigkeit der Geheimdienste liegt gerade ihr Sinn: Man soll sie fürchten, ohne zu wissen warum. Und je größer die Ungewißheit, desto gewisser die Furcht. Gott, dessen Auge auf allen Menschen ruht, verfolgt sie, wenn sie sündigen, nach den zehn Geboten, und die sind seit Moses bekannt. Das FBI, dessen Auge ebenfalls auf allen Menschen ruht, verfolgt sie bis in die Papierkörbe und in die Ehebetten, ohne daß sie je erfahren, aus welchem Grund. Es schafft eine Atmosphäre, in der Angst und Denunziation prächtig gedeihen.

So gesehen sind die FBI-Akten (2006 unter dem Titel »Die Akte Brecht« im Spotless Verlag erschienen) allerdings als spannende Lektüre sehr zu empfehlen. Denn gerade der feststellbare Leerlauf, betrieben rund um die Uhr mit professioneller Monotonie, bringt die gewünschte Wirkung: Die vollendete Sinnlosigkeit verunsichert das »Subjekt«, das ständig nach einem Sinn sucht, den es nicht gibt. Ein Nervenkrieg. Und je weniger Beweise, desto mehr Verdachtsmöglichkeiten. Der Rechtsgrundsatz »In dubio pro reo« (Im Zweifel für den Angeklagten) erfährt hier eine ganz neue Auslegung: In Zweifelsfällen noch größeres Interesse für die Zielperson. Unschuld macht verdächtig, sie könnte Tarnung sein.

Das Federal Bureau of Investigation hatte Erfolg. Es konnte zwar nicht die Gefahr der japanischen Bomber »investigieren«, die unerkannt zu Hunderten Pearl Harbour ansteuerten, um die gesamte Pazifik-Flotte der USA zu vernichten, aber es gelang dem FBI zum Beispiel, eine andere Gefahr von den Vereinigten Staaten von Nordamerika abzuwenden: Der Schauspieler Charles Chaplin, lange Zeit Ziel »intensiv-operativer Behandlung« durch das FBI, verließ fluchtartig das Land und ließ sich in der Schweiz nieder. Von nun an waren die USA vor Chaplin sicher. Auch Brecht verließ 1947 die USA, nachdem er knapp der Verfolgung durch McCarthy entgangen war. Und das FBI hatte noch einen Erfolg: Die US-amerikanische Besatzungsmacht verbot dem »Kommunisten Brecht«, als er aus der Emigration kommend nach Ostberlin reisen wollte, bei Androhung einer Haftstrafe die Durchreise durch ihre Besatzungszone.

Geradezu unentbehrlich wird die Lektüre der »Akte Brecht«, wenn wir uns im staatlich verordneten Dschungel heutiger, heimischer Geheimdienste zurechtzufinden versuchen, die auch Journalisten und Kinder als »Quellen« (freiheitlich-demokratische Version von IM) benutzen. Wie das Federal Bureau of Investigation wollen sie nur das Beste: die »Sicherheit« des Staates durch Verunsicherung seiner Staatsbürger.