Nicht erst nach 20 Jahren deutscher Einheit muß man feststellen, daß die Aufarbeitung der Geschichte nach Ende des Kalten Krieges leider recht einseitig verlief. Zu Beginn der 1990er Jahre bildete sich in Ost wie West rasch ein gesellschaftlicher Konsens heraus, allein die Geschichte der DDR umfassend aufzuarbeiten und die Machenschaften, Strukturen und Akten der Stasi aufzudecken, ihre Opfer und diejenigen der DDR-Justiz zu rehabilitieren und zu entschädigen sowie stark belastete Personen vom öffentlichen Dienst fernzuhalten. Eine solche Aufarbeitung halte ich prinzipiell für wichtig und vom Ansatz her auch für ein respektables Unternehmen. Aus diesem Grunde hatte ich selbst schon frühzeitig die DDR-Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi beraten und mich als Sachverständiger vor dem Bundestag mit dem bislang in seiner Art einmaligen Stasi-Unterlagen-Gesetz kritisch auseinandergesetzt.
Aus dieser notwendigen Aufarbeitung ist jedoch streckenweise eine westdominierte Abrechnung mit der realsozialistischen DDR, ihren Institutionen und Funktionsträgern geworden – teils auch unter Mißachtung rechtsstaatlicher Prinzipien und mit dem kaum verhohlenen Ziel einer pauschalen Delegitimierung der DDR als »Unrechtsstaat«. Jedenfalls handelte es sich um ein äußerst einseitiges staatsdominiertes Unternehmen, dem ich den Anspruch entgegenhalten möchte, daß die Aufarbeitung der Geschichte in einem ehemals geteilten Land unteilbar sein muß (s. mein Buch »Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges. Verdrängung im Westen – Abrechnung mit dem Osten?«, Aufbau-Verlag, 1998). Denn die Konzentration auf die Geschichte der DDR, der SED und besonders der Stasi ließ vollkommen in Vergessenheit geraten, daß es auch in der Kaltekriegsgeschichte Westdeutschlands dunkle Kapitel gibt, die die Bundesrepublik von Anfang an geprägt haben. Dazu gehören drei zusammenhängende Grundbelastungen: erstens die zunächst mangelhafte und verspätete Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, zweitens die systematische Wiedereingliederung von Alt-Nazis in Staat und Gesellschaft sowie drittens jenes düstere Kapitel der ersten beiden Jahrzehnte, das von politischer Verfolgung handelt – nämlich von einer exzessiven Kommunistenverfolgung mit Hilfe von Geheimdiensten und Polizei, per Strafrecht und Politischer Justiz. Dabei spielte auch der Verfassungsschutz (VS) – der so schwer kontrollierbare, antikommunistisch geprägte Inlandsgeheimdienst – eine herausragende Rolle, die bis heute offiziell genauso wenig aufgearbeitet ist wie seine personellen Wurzeln in der Nazi-Vergangenheit. Leider gibt es im Rechtsstaat Deutschland keine Offenlegung von Geheimdienstakten, soweit es nicht um Akten der abgewickelten Stasi geht – und zwar weder für die Forschung noch für betroffene Bürger. Das liegt daran, daß für Verschlußsachen mit der Einstufung »vertraulich« oder »geheim« statt der üblichen 30jährigen Sperrfrist eine 60jährige gilt. Keinerlei Einblick in das Archivgut gibt es, wenn die Offenlegung das »Staatswohl« gefährden würde – was häufig angenommen wird. Das Bundesverfassungsgericht will seine grundsätzlich als geheim eingestuften Verfahrensakten sogar erst nach 90 Jahren für die Forschung freigeben, im Fall des KPD-Verbotsverfahrens also erst im Jahr 2046. Solche Fristen, so die FAZ, kennt nicht einmal der Vatikan.
Daß Geheimdienstakten weitgehend verschlossen bleiben und der Geist des Kalten Kriegs auch 20 Jahre nach dessen Ende noch immer nicht überwunden ist, das illustrieren zwei aktuelle Überwachungsfälle, auf die ich näher eingehen möchte: der Fall Ramelow und mein eigener Fall.
Der Fall Bodo Ramelow
Im Juli dieses Jahres erging ein Aufsehen erregendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig. Das Verfahren hatte Bodo Ramelow, ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Thüringer Linksfraktion, mit seiner Klage gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz in Gang gesetzt, mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit seiner jahrzehntelangen geheimdienstlichen Beobachtung gerichtlich feststellen zu lassen. In den ersten beiden Instanzen vor dem Verwaltungsgericht Köln und dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster hatte er persönlich weitgehend Recht bekommen: Das Gericht untersagte seine Ausforschung, weil sie gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Gleichzeitig aber ließ das OVG – ungeachtet des Parteienprivilegs nach Artikel 21 Grundgesetz – die Beobachtung der gesamten Linkspartei zu, weil es »tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei« gebe. Die Linkspartei bilde einen »Nährboden« für verfassungsfeindliche Bestrebungen, die auf eine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse abzielten.
Die Sache ging in Revision vor das Bundesverwaltungsgericht. Dort aktualisierte der Verfassungsschutz-Anwalt, Professor Roth, sein erklärtes Feindbild »Linkspartei«: Deren »absolute Aversion«, den Ex-Stasi-Unterlagenbeauftragten Joachim Gauck zum neuen Bundespräsidenten zu wählen, zeuge von ihrer extremistischen Gefährlichkeit. Ihre mangelnde Distanzierung von der DDR, ausdrückliche Solidarisierung mit Kuba und Annäherung an extremistische Organisationen kämen verschärfend hinzu. Angesichts solcher Laster hält der VS-Anwalt eine politische Stigmatisierung der Linkenpolitiker, wie sie durch eine VS-Beobachtung auslöst wird, für unerläßlich, denn: Hätte es 1933, als Hitler die Macht ergriff, schon eine »positive Stigmatisierung« verfassungsfeindlicher Parlamentarier gegeben, wie jetzt im Fall der Linken, »dann hätten vielleicht die Republik und die Demokratie gerettet werden können«.
Dieses Mal sollen also Republik und Demokratie offenbar vor dem Aufstieg der Linkspartei und deren Abgeordneten gerettet werden, um eine Rückkehr des Sozialismus zu verhindern. Tatsächlich urteilte das Bundesverwaltungsgericht am 21.07.2010 ganz zu Ungunsten des Klägers Ramelow, hob die Urteile der Vorinstanzen insoweit auf (Aktenzeichen 6 C 22.09) und wies die Klage in vollem Umfang ab. Die systematische Informationserfassung über die gesamte politische Betätigung des »Spitzenfunktionärs« sei verhältnis- und rechtmäßig – obwohl er längst keinerlei Parteifunktion mehr innehat. Seine Beobachtung »war und ist erforderlich«, so das Gericht im Brustton der Überzeugung, obwohl der Kläger selbst dem Gericht als verfassungstreu gilt. Gleichwohl dürfe er auch in seiner Funktion als Abgeordneter gezielt ausspioniert werden, ebenso andere Bundes- und Landtagsabgeordnete und die gesamte Linkspartei mit ihren 80.000 Mitgliedern und mehr als fünf Millionen Wählern.
Genau hier ist der springende Punkt: Das eigentliche Beobachtungsobjekt ist die Linkspartei, denn sie sei in ihrer Zielsetzung von extremistischen innerparteilichen Strömungen wie der Kommunistischen Plattform, dem Marxistischen Forum oder der Linksjugend `solid erheblich beeinflußt, so das Gericht in Anlehnung an die insoweit revisionsfeste Vorentscheidung des OVG, die allerdings diesbezüglich ohne Beweise auskam. Diese Gruppierungen hätten innerhalb der »innerlich zerrissenen« Partei »Einfluß von nennenswertem Gewicht«, weshalb die Gesamtpartei zu Recht unter scharfe Beobachtung gestellt werde – und damit alle ihre Mitglieder unter Generalverdacht. Die Richter nennen das »streitbare Demokratie« – in deren Namen im Laufe der Jahrzehnte schon viel Unrecht angerichtet worden ist, erinnert sei nur an die exzessive Kommunistenverfolgung der 1950er und 60er Jahre.
Und so dürfen nun alle Funktionäre in der Partei geheimdienstlich ausgeforscht werden, egal, ob ihnen selbst »Verfassungsfeindliches« vorgeworfen oder angedichtet wird oder – wie im Fall Ramelow – eben nicht. Denn in den Augen der Richter unterstützen selbst über jeden Verdacht erhabene Spitzenfunktionäre »objektiv letztlich auch die Kräfte in der Partei, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind«. Nach dieser ehrverletzenden Konstruktion des »nützlichen Idioten« gibt es keine »Unverdächtigen«. Denn ebenso gefährlich wie Personen, die der fdGO feindlich gegenüberstehen oder sie beseitigen wollen, »können Personen sein, die selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfassungsfeindliche Bestrebungen fördern, ohne dies zu erkennen … Eine derartige Person, die nicht merkt, wofür sie mißbraucht wird, kann für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung genauso gefährlich sein wie der Überzeugungstäter.«
Zwar berge die nachrichtendienstliche Beobachtung von Abgeordneten, so die Richter, »erhebliche Gefahren« im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit und auf die Mitwirkung der betroffenen Parteien an der politisch-demokratischen Willensbildung. Doch sei das Gewicht dieser Belastung dadurch gemindert, daß das Bundesamt sich im Fall Ramelow (angeblich; R. G.) auf offene Beobachtung beschränke, also keine geheimen Mittel anwende und den Kern parlamentarischer Arbeit ausnehme. Demgegenüber sprächen für die Rechtmäßigkeit der Beobachtung die »existentielle Bedeutung« und das »besondere Gewicht des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Umstand, daß der Kläger ein führender Funktionär der Partei« sei (was nicht mehr stimmt; R. G.); deshalb dürfe die »erforderliche Erhebung von Informationen durch den Verfassungsschutz auf den Kläger als eines ihrer herausgehobenen Mitglieder erstreckt werden«. Auch der Grundsatz des freien Mandats und die Statusrechte des Abgeordneten (Art. 38 GG) stünden dem nicht entgegen. Der »zusätzliche Erkenntnisgewinn« über extremistische Strömungen in der Partei stehe, so der Vorsitzende Richter, »in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung für den Abgeordneten«, der sich alle innerparteilichen Strömungen zurechnen lassen muß.
Der selbst als verfassungskonform geltende Ramelow wird auf diese Weise gleichsam vom Virus der Verfassungsfeindlichkeit erfaßt, darf also instrumentalisiert und verdachtsunabhängig ausgespäht werden, damit das Verfassungsschutzamt Erkenntnisse über die Linkspartei gewinnt: Wie entwickeln sich die radikalen Kräfte in der Partei und wie verhält sich Ramelow gegenüber diesen antikapitalistischen und sozialistischen Gruppierungen, in denen etwa über die Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftszweige debattiert wird – während, am Rande bemerkt, Bundeskanzlerin Merkel und ihre Regierungsmehrheit die Verstaatlichung sogenannter notleidender, aber als systemrelevant geltender Banken längst in die Tat umgesetzt haben und der Kapitalismus ohnehin nicht zu den verbrieften Verfassungswerten gehört, zumal Artikel 15 Grundgesetz die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln ausdrücklich zuläßt. Solche Forderungen stellen daher – anders als etwa die nach einer »Diktatur des Proletariats« – keinen Verstoß gegen die fdGO dar, genauso wenig wie Kapitalismuskritik und antikapitalistische Politik.
Bodo Ramelow zog inzwischen vor das Bundesverfassungsgericht, um dieses Staatsschutzurteil zu kippen und dem Geheimdienstspuk sowie dessen stigmatisierenden, ausgrenzenden und domestizierenden Wirkungen ein Ende zu bereiten. In der Verfassungsbeschwerde vom 5.10.2010 haben sein Anwalt Dr. Peter Hauck-Scholz und der Staatsrechtler Prof. Dr. Hans-Peter Schneider (Universität Hannover) deutlich gemacht, daß das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts den Beschwerdeführer Ramelow in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Darüber hinaus beklagen sie Verstöße gegen das freie Mandat, das Willkürverbot (Art. 3 I GG) und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III, 28 I GG).
Das Bundesverfassungsgericht hat nun in dieser Angelegenheit von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung die Gelegenheit, dieses staatsschützerische Unwerturteil, das im politischen Meinungskampf delegitimierend und abschreckend wirken soll und kann, zu kippen, dem Persönlichkeitsrecht und der Informationellen Selbstbestimmung von Bodo Ramelow, der freien Meinungsäußerung und dem freien Mandat des Abgeordneten sowie dem Parteienprivileg wieder volle Geltung zu verschaffen sowie jegliche Relativierung im Geheimdienst- und Staatsschutz-Interesse zu unterbinden. Das höchste Gericht sollte dem Regierungsgeheimdienst »Verfassungsschutz« dabei endlich auch klarmachen, »daß es die DDR nicht mehr gibt« (Gregor Gysi) und der Kalte Krieg seit 20 Jahren zu Ende ist.
Der Fall Rolf Gössner
Ich komme zum zweiten Fall, jetzt in eigener Sache, so daß es nun zwangsläufig auch persönlicher wird. Wie inzwischen nachgewiesen, bin ich seit 1970 fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen vom Bundesamt für VS beobachtet und ausgeforscht worden – eine der längsten dokumentierten Überwachungsgeschichten in der Bundesrepublik. Geheimdienstlich beobachtet wurde ich als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein ganzes Arbeitsleben lang in allen meinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen – also als Publizist, Rechtsanwalt, Parlamentarischer Berater, Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des alljährlich erscheinenden Grundrechte-Reports und der Zweiwochenschrift Ossietzky sowie auch als Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises »BigBrotherAward«.
Ich erlebe es immer wieder, daß viele Menschen in ungläubiges Staunen verfallen, wenn sie von dieser rekordverdächtigen Überwachungsgeschichte erfahren. Kann das wirklich wahr sein, oder leidet da einer an Verfolgungswahn? Redet der von Stasi-Methoden oder vom bundesdeutschen Rechtsstaat? Und tatsächlich: Womit hat jemand in diesem Land der freiheitlich demokratischen Grundordnung verdient, sein gesamtes Studenten-, Ausbildungs- und Arbeitsleben – vier von sechs Lebensjahrzehnten hindurch – ununterbrochen von einem Geheimdienst beobachtet und ausgeforscht zu werden? Das muß doch gute Gründe im bösen Tun haben. Warum sonst wird ein Bürger dieses Landes quasi als gefährlicher Staats- und Verfassungsfeind einer solch »fürsorglichen Belagerung« (Heinrich Böll) unterzogen?
Tatsächlich geht es um mein gesamtes bewußtes Leben – und um das, was der Verfassungsschutz aus seiner selektiven, ideologisch motivierten Sicht aus diesem Leben macht: Er zeichnet in Personenakten und Schriftsätzen ein aus zeitgeschichtlichen Zusammenhängen herausgerissenes Bild, konstruiert abstruse Anschuldigungen und bedient sich einer geradezu inquisitorischen Beweisführung. Heraus kommt ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wiedererkenne und vor dem ich, auf den ersten Blick zumindest, selbst erschrecken würde. Letztlich geht es um die Deutungshoheit über ein politisches Leben, über politisches Handeln und politische Kontakte, deren sich der Verfassungsschutz mit seiner obsessiven Gesinnungsschnüffelei und seiner amtlichen Interpretation oder besser: Fehlinterpretation bemächtigte. Nun versuche ich, mir diesen Teil meiner eigenen Lebensgeschichte wieder anzueignen, um die Deutung politischer Vorgänge und Entwicklungen nicht einem letztlich unkontrollierbaren und skandalträchtigen Geheimdienst zu überlassen. Und ich mußte mich dabei auch der bangen Frage stellen, was das Wissen um meine Beobachtung und die Negativbewertung durch den Verfassungsschutz mit mir und aus mir gemacht hat, ob sich mein Verhalten dadurch etwa verändert, ob ich mich womöglich schleichend anpasse, Themen oder Kontakte meide – ob also die Schere im Kopf seitdem klammheimlich ihr zerstörerisches Unwesen treibt.
Diese Aufarbeitung und Selbsthinterfragung muß öffentlich geschehen. Denn auch die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre kritischen Mitglieder müssen sich angesichts eines solch exemplarischen Falles die dringliche Frage stellen, was all dies für die Meinungs- und Pressefreiheit, für Mandatsgeheimnis und Informantenschutz, für Dialogbereitschaft und Offenheit in diesem Land bedeutet. Insofern handelt es sich um ein brisantes Lehrstück in Staatskunde, ein Lehrstück in Sachen Bürgerrechte und Demokratie. Selbstverständlich ist dies kein Einzelfall, schließlich gab und gibt es zahlreiche andere Fälle von Bespitzelung mit zum Teil weit gravierenderen Folgen, und zwar in allen Jahrzehnten seit Bestehen der Bundesrepublik: ob in den Zeiten der Kommunistenverfolgung der 1950er und 60er Jahre, in Zeiten des Deutschen Herbstes der 70er Jahre oder erstarkender politisch-sozialer Bewegungen der 80er Jahre; auch nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges bis heute sind Parteien, Gewerkschaften und politische Organisationen bespitzelt und infiltriert worden. Die Überwachungs- und Skandalgeschichte des Verfassungsschutzes ist jedenfalls ellenlang.
Was wirft mir dieser euphemistisch »Verfassungsschutz« titulierte Geheimdienst durch die Jahrzehnte hindurch eigentlich vor? Zunächst legte er mir meine beruflichen und ehrenamtlichen Kontakte zu angeblich linksextremistischen und »linksextremistisch beeinflußten« Gruppen zur Last. Dazu zählen politische Parteien wie die DKP, Organisationen wie die Rechtshilfegruppe »Rote Hilfe« oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), aber auch Presseorgane wie Demokratie und Recht, Blätter für deutsche und internationale Politik, Geheim, junge Welt oder Neues Deutschland, in denen ich neben vielen anderen Medien veröffentliche oder interviewt werde.
Nun, jeder Autor und jeder Referent freut sich über eine treue und kritische Leser- und Zuhörerschaft. Und so nahm ich durchaus mit Genugtuung zur Kenntnis, daß Bedienstete des Bundesamtes über mehrere Beamten-Generationen hinweg zu meinen treuesten Mitlesern und Mithörern gehörten – aber leider auch zu den verständnislosesten und böswilligsten.
So wurde durch die Jahrzehnte hindurch alles registriert, was ich von mir gegeben habe: ob in gedruckter Form, als Artikel oder im Interview. Selbst Berichte über mich und meine Bücher wurden gesammelt und mir zur Last gelegt, wenn sie in besagten inkriminierten Medien erschienen sind. Desgleichen interessierte sich der Geheimdienst für meine Äußerungen, wenn ich referierte und diskutierte, etwa in öffentlichen Veranstaltungen und auch geschlossenen Sitzungen. Das Bundesamt identifizierte mich dabei unzulässigerweise mit den Medien, in denen ich publizierte, mit den Veranstaltern, bei denen ich referierte und Diskussionen führte, und mit meinen Mandanten, die ich beraten habe.
Eigene verfassungsfeindliche Ziele und Beiträge wurden mir zunächst nicht unterstellt. Also: Nicht was ich sagte oder schrieb, war für die Beobachtung entscheidend, sondern in welchem politischen Umfeld dies geschah. Meine diesbezüglichen Kontakte verdichtete das Amt zu einem regelrechten Kontaktprofil, das mir als eine Art »Kontaktschuld« angelastet wird. Hieraus folgert das BfV schließlich messerscharf eine »nachhaltige Unterstützung« solcher nicht verbotenen, aber als »linksextremistisch« geltenden Personenzusammenschlüsse und Presseorgane, die ich – so wörtlich –, als »prominenter Jurist« aufgewertet und gesellschaftsfähig gemacht haben soll. Dabei haben die Verfassungsschützer alle Not, die jahrzehntelange Überwachung einer Einzelperson, die in keiner politischen Organisation oder Partei organisiert war, nur auf deren Kontakte zu stützen und mit »nachhaltiger Unterstützung« zu rechtfertigen. Deshalb verstieg sich das Bundesamt zu folgender abenteuerlichen Konstruktion: »Dabei agiert er ganz bewußt nicht als Mitglied einer offen extremistischen Partei oder Organisation. Nicht etwa, weil er sich von den verfassungsfeindlichen Zielen der unterstützten Organisationen distanziert, sondern weil er so seine Glaubwürdigkeit nach Außen als vermeintlich unabhängiger Experte zu wahren versucht.«
Darin steckt die diffamierende Behauptung, ich sei seit Jahrzehnten taktisches Nichtmitglied diverser, durchaus disparater extremistischer Parteien oder Organisationen – sozusagen als ideeller Gesamtlinksextremist.
Doch dabei blieb es nicht. Das Bundesamt ließ im Laufe der Zeit die Anschuldigungen gegen mich stufenweise eskalieren – so mit dem Vorwurf, ich sei nicht nur Unterstützer, sondern zeitweise doch auch Mitglied in »linksextremistischen Personenzusammenschlüssen« gewesen: nämlich im Sozialdemokratischen/Sozialistischen Hochschulbund (SHB) und in der Redaktion des geheimdienstkritischen Magazins Geheim. Vorläufig letzte Eskalationsstufe: Das BfV zieht nun auch das von mir Geschriebene und Gesagte in Mißkredit und setzt es dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit aus. Mit meiner »diffamierenden« Kritik der bundesdeutschen Sicherheitspolitik, der Sicherheitsorgane und besonders des Verfassungsschutzes, darüber hinaus mit meiner Kritik am KPD-Verbot und an den Berufsverboten (die es in der Bundesrepublik nach offizieller Lesart nie gab), so der Geheimdienst-Tenor, wolle ich den Staat wehrlos machen und den linksextremistischen Bestrebungen und der revolutionären Umwälzung schutzlos ausliefern. Außerdem wird mir fehlende Distanzierung von der DDR, der Stasi, der UdSSR, dem Gulag und allen Verbrechen des Kommunismus zur Last gelegt – gleichzeitig werde ich der einseitigen Kritik am Westen bezichtigt.
Brauchen wir dazu einen Inlandsgeheimdienst?
Von meiner Überwachung habe ich erfahren, weil ich 1996 beim Bundesamt einen Antrag auf Auskunft über die dort zu meiner Person gespeicherten Daten gestellt hatte. Als Antwort bekam ich ein Personendossier mit einer Sündenliste – Artikel, Interviews und Reden in den falschen Zeitungen oder Veranstaltungen –, die bis 1970 zurückreichte. Etwa alle zwei Jahre fragte ich erneut nach, um das jeweils neueste Sünderregister kennenzulernen, das mir dann auch prompt zugeschickt wurde. Da die Überwachung munter weiterging, auch in Zeiten der rot-grünen Bundesregierung, reichte ich Ende 2005 über meinen Freiburger Anwalt Dr. Udo Kauß beim zuständigen Verwaltungsgericht Köln Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, um vollständige Einsicht in meine Personenakten zu bekommen sowie die jahrzehntelange Überwachung gerichtlich für rechtswidrig erklären zu lassen.
Ein Ende dieses Prozesses ist nach fast fünf Jahren immer noch nicht abzusehen – aber es ist einiges passiert. Das Gericht hat das Bundesamt dazu verdonnert, meine gesamte Personenakte seit 1970 bis 2007 vorzulegen, was inzwischen geschehen ist – zum überwiegenden Teil allerdings mit geschwärzten Textstellen; ganze Seiten sind entnommen. Von allen über 2.000 mir vorgelegten Aktenseiten sind circa 1.750 Seiten ganz oder teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht vorgelegt worden, also etwa 85 Prozent; nur rund 15 Prozent sind offen und vollständig lesbar.
Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des Bundesinnenministeriums als oberster Aufsichtsbehörde des Bundesamtes zurück. Begründung: Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem »Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten«; die Funktionsfähigkeit des VS würde beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt werden (das nennt sich dann »Ausforschungsgefahr«). Und die Geheimhaltung diene in erster Linie dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe (»Quellenschutz«); denn eine Enttarnung dieser »Quellen« könne zu einer »Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit« von V-Leuten, Hinweisgebern und VS-Bediensteten führen. Als ob die – wohl von mir und meinesgleichen – Repressalien zu befürchten hätten.
Gegen diese Aktenverweigerung klagte ich vor dem Bundesverwaltungsgericht, um Sperrerklärungen und Geheimhaltung in einem sogenannten In-camera-Verfahren, einem rechtsstaatlich problematischen Geheimverfahren, überprüfen zu lassen. Nach ihrer Auswertung der gesperrten Aktenteile in geheimer Sitzung in einem abhörsicheren Raum und ohne meine Mitwirkung kamen die höchsten Verwaltungsrichter zu dem Ergebnis, daß diese Aktenteile weiterhin aus Gründen des Quellenschutzes, der Ausforschungsgefahr und des Staatswohls geheim gehalten werden müßten. Somit wird das Verwaltungsgericht Köln nur auf dieser äußerst eingeschränkten Beweisgrundlage seine Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Dauerbeobachtung treffen können. Und das soll rechtsstaatlich sein?
Trotz dieser höchstrichterlich abgesegneten amtlichen Beweismittelunterdrückung im staatlichen Geheimhaltungsinteresse ist die verbleibende Dokumentensammlung dennoch aufschlußreich. So hat mich sehr erstaunt, wie viele Behörden, andere Stellen und Personen sich in meinem Fall als denunziatorische Zuträger für den Verfassungsschutz betätigt haben und wie viele Spitzelberichte über meine Referate und sonstigen Aktivitäten angefertigt worden sein müssen.
Wenige Tage vor dem ersten Verhandlungstermin vor dem Verwaltungsgericht Köln Ende 2008 teilte das BfV dem Gericht überraschend mit, daß meine Beobachtung »nach aktuell erfolgter Prüfung« durch das Bundesinnenministerium und das Bundesamt eingestellt worden sei und die zu mir erfaßten Daten löschungsreif seien und ab sofort bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens gesperrt würden. Ohne Klage wäre diese Entscheidung wohl nie gefallen. Ob man jedoch der lapidaren Mitteilung Glauben schenken kann, bleibt erstmal abzuwarten. Noch wenige Monate zuvor hatte das Amt auf meiner weiteren Beobachtung bestanden – selbst auf die besorgte Nachfrage des Vorsitzenden Verwaltungsrichters hin, ob nicht meine zwischenzeitlich erfolgte Wahl zum Stellvertretenden Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen daran etwas ändern müsse. Nein, erklärte das Bundesamt forsch, auch Richter könnten unter gewissen Voraussetzungen, die bei mir vorlägen, beobachtet werden – trotz ihrer verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit. Also ein vom Verfassungsschutz beobachteter Verfassungsfeind als Verfassungsrichter – bei so viel Widersprüchlichkeit kann man leicht die Verfassung verlieren.
Erst kurz vor der mündlichen Verhandlung kam dann die Kehrtwende. Einer der Gründe, weshalb ich jetzt plötzlich nicht mehr beobachtet werden müsse, war höchst hörenswert: Die Bedrohungslage in der Bundesrepublik habe sich geändert, die knappen Ressourcen müßten nun für andere Schwerpunkte eingesetzt werden. Nach 38 Jahren, in deren Verlauf die DDR unter- und der Kalte Krieg zu Ende ging sowie der internationale Terrorismus als neue Gefahr erkannt wurde, gibt es also jetzt plötzlich eine neue Bedrohungslage, die eine Umorientierung und Umschichtung im BfV erforderlich macht! Wahrlich ein Fall für den Bundesrechnungshof wegen des Verdachts auf jahrzehntelange Verschwendung öffentlicher Gelder.
Im Übrigen behauptete das Amt, ich sei nicht mehr so viel in linksextremistischen Kreisen unterwegs. Offenbar eher eine Notlüge: Denn meine inkriminierten beruflichen Kontakte haben nicht nachgelassen, es sind eher weitere hinzugekommen, die dem Verfassungsschutz mißfallen und ihn zu erneuter Überwachung reizen könnten; und auch meine Texte sind – so hoffen ich und meine Leserschaft – keinesfalls harmloser geworden.
Es war schon ein eigenartiges Gefühl, nach so langer Zeit fürsorglicher Dauerüberwachung plötzlich zu erfahren, daß man nicht mehr unter geheimdienstlicher Beobachtung stehe, sozusagen außer Kontrolle und staatsschutzlos. Doch ich fühlte mich zunächst erleichtert und war erfreut. Denn ich hatte immer damit rechnen müssen, daß es letztlich keine Vertraulichkeit mehr gab, ein Umstand, der auch mein gesamtes soziales Umfeld erheblich irritierte; wie sich herausstellte, war diese Irritation nicht unberechtigt. Ein ganzes Netzwerk von V-Leuten, Informanten und anderen Zuträgern versorgte den Verfassungsschutz mit unzähligen Informationen, die von Bediensteten des Bundesamtes fleißig gesammelt, gespeichert und bewertet wurden – im diensteifrigen Bemühen, ein Phantom-Persönlichkeitsbild von mir zu zeichnen.
Ich mußte immer befürchten, daß bei meiner publizistischen Arbeit meine oft heiklen Recherchen und Kontakte zu bestimmten Informanten ausgespäht und meine Informanten dadurch gefährdet würden. Und tatsächlich habe ich mehrfach erlebt, daß meine Kontakte etwa mit dem einen oder anderen Informanten aus den Polizei- oder Geheimdienst-Apparaten ausgeforscht und observiert wurden – die jeweiligen Whistleblower kannten schließlich die Zuträger ihrer Behörde. Um meine Informanten dennoch so gut wie möglich zu schützen, bedurfte es oft anstrengender Klimmzüge. In Einzelfällen mußten Kontakte deshalb unterbleiben oder abgebrochen werden.
Auch als Rechtsanwalt und Strafverteidiger mußte ich mit geheimdienstlicher Ausforschung rechnen. Seit meine geheimdienstliche Überwachung nicht mehr zu verheimlichen war, sah ich mich genötigt, meine Mandanten darüber aufzuklären. Ich hatte immer wieder mit besorgten Ratsuchenden zu tun, die verständlicherweise Probleme hatten, sich mir unbefangen anzuvertrauen. Manche sind abgesprungen; wie viele den Kontakt zu mir deshalb erst gar nicht suchten, kann ich selbstverständlich nicht ergründen. Das Mandatsgeheimnis und der Informantenschutz waren jedenfalls so nicht mehr durchgängig zu gewährleisten, die verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensverhältnisse zwischen Anwalt und Mandant sowie zwischen Journalist und Informant waren erschüttert, meine Berufsfreiheit und berufliche Praxis damit mehr als beeinträchtigt.
Meines Erachtens prallen in diesem Streitfall zwei unterschiedliche politische Kulturen und Grundhaltungen aufeinander: auf der einen Seite die Kultur oder eher Unkultur des Ausspähens, Stigmatisierens und Ausgrenzens im Namen von Sicherheit und Staatswohl, auf der anderen die Kultur der demokratischen Transparenz, des offenen und kritischen Dialogs im Namen von Demokratie und Freiheit, den ich in allen meinen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten suche und führe – nicht selten gegen den Mainstream und ohne allzu große politische Berührungsängste, auch gegenüber Gruppen und Personen, die nicht verboten sind, ihrerseits aber unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen und die allein deswegen in den Augen vieler als verfemt oder geächtet gelten, etwa bestimmte kommunistische oder kurdische Gruppen, islamische Gemeinschaften, Muslime oder sonstige Migranten, die seit dem staatlichen Antiterrorkampf ihrerseits unter Generalverdacht geraten sind.
Ich möchte es jedenfalls nicht hinnehmen, daß verfassungskonforme und bürgerrechtliche Kräfte als Unterstützer extremistischer Kreise stigmatisiert werden, sobald sie in ihrer Arbeit bestimmte politische Spektren nicht ausgrenzen und gesellschaftlich isolieren, sondern sie bewußt in den politisch-demokratischen Willensbildungsprozeß einbeziehen. Kritischer Dialog und offene politische Auseinandersetzung dürfen nicht unter geheimdienstliche Kuratel gestellt werden. Das würde keine Demokratie auf Dauer aushalten. Ich möchte im Zusammenhang mit meiner Überwachungsgeschichte an einen Ausspruch des Schriftstellers Günther Eich erinnern, den ich in meinem Abitur 1967 mit Bedacht als Aufsatzthema ausgewählt hatte und der in gewisser Weise zu meinem Lebensmotto wurde: »Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.«