Die politischen und medialen Bilanzen zu zehn Jahren Enduring Freedom – »Anhaltende Freiheit« – in Afghanistan fielen vorhersehbar alles andere als glorreich aus. Von Desaster und militärischem Alptraum war die Rede, von einem verlorenen Krieg und ungewisser Zukunft. Mit der Aufzählung von ein paar bescheidenen Alltagserfolgen wurde die Botschaft verbreitet, daß es den Versuch wert gewesen sei, im angeblichen Stammland des islamischen Fundamentalismus, das in Wahrheit Saudi-Arabien ist, das terroristische Blatt zu wenden.
Daß aber ein Krieg für diese Absicht die denkbar schlechteste Methode ist, das wußten nicht nur Fachleute, sondern auch viele Bürger von Anfang an. Ein noch schonungsloseres Resümee zog daher der Bundesausschuß Friedensratschlag mit einer gut besuchten Bilanzveranstaltung in Berlin. »Meine Landsleute fragen sich«, so einleitend Mahmoud Khan, »weshalb 36 Staaten seit Jahren nicht in der Lage sind, Frieden zu bringen.«
Eine der Antworten gab der Jurist Otto Jäckel, der daran erinnerte, daß in Afghanistan ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg geführt wird. Denn die nach den Attentaten vom 11. September 2001 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Resolution rief alle Staaten zur Zusammenarbeit auf, um die Täter vor Gericht zu stellen. Sie setzte dabei auf polizeiliche Maßnahmen, von Militär war keine Rede. Zumal es bis heute keinen Beleg dafür gibt, daß die Täter im Auftrag Afghanistans gehandelt hätten.
Der Dokumentarfilmer Frieder Wagner (Deadly Dust) führte mit erschütternden Daten den Beweis, daß die eingesetzte Uranmunition eine Massenvernichtungswaffe ist. So haben in Kabul und Dschalalabad umfangreiche Labortests unter der Bevölkerung eine 400 bis sogar 2000 Prozent höhere Urankonzentration als normal ergeben. Eine solche Belastung soll nicht einmal in Tschernobyl gemessen worden sein, da in den Waffen eine verheerende Mischung aus abgereichertem und nichtabgereichertem Uran verwendet wird. 30 Prozent der getesteten Bewohner haben die typischen Symptome der Strahlenkrankheit, Zigtausende seien bereits an hochaggressivem Krebs gestorben. 25 Prozent der Kinder sind unerklärlich krank. Afghanistan sei offenbar zu einem Testfeld für diese Waffen geworden, die ähnlich auch im Irak, in Serbien, Somalia und Libyen eingesetzt wurden. Warum man so wenig darüber hört? Weil Ärzte und Betroffene ihren Job verlieren oder gar um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie öffentlich darüber reden, so Wagner.
Mir war schließlich vom Ratschlag die Aufgabe übertragen, eine Art Anklage gegen diesen Krieg vorzutragen. Ich tat dies nicht aus der Position nachträglichen Besserwissens, sondern in Erinnerung meiner »kleinen Rede in großer Kirche«, die ich bei Ausbruch des Krieges in einer von Frauengruppen organisierten Protestveranstaltung in der Berliner Gethsemanekirche gehalten hatte: »… Für das Öl der arabischen Länder haben wir uns bis heute mehr interessiert als für ihre Kultur. Die Privatisierung von Gewalt haben lange vor den Fundamentalisten die Terroristen der Ökonomie praktiziert. Mit angesehen zu haben, wie ausgerechnet diese ebenfalls todbringenden Terroristen sich zu Verteidigern westlicher Grundwerte ernannt haben – darin liegt unsere Mitverantwortung. Wir haben nicht länger das Recht, für unseren Wohlstand die Verletzung des Menschenrechts auf Leben in ärmeren Ländern billigend in Kauf zu nehmen. Genau diese gottlose Demütigung ist die Ursache für fundamentalistische Wut.«
Nachgedruckt in der Süddeutschen Zeitung (16.10.2001) löste die Rede dort einigen Unwillen aus, und so war es das letzte Mal, daß ich mich in einer größeren Zeitung gegen einen von der NATO unterstützen Krieg aussprechen durfte. Der Widerspruch gegen die in Endlosschleife wiederholten Mythen des Zeitgeistes bleibt Hauptaufgabe der Friedensbewegung: Die Anschläge vom 11. September 2001 nicht als das zu behandeln, was sie wirklich waren, nämlich als Schwerstkriminalität, sondern stattdessen als Krieg, war einer der folgenschwersten Taschenspielertricks der Weltgeschichte.
Nur so konnte das NATO-Bündnis den Verteidigungsfall ausrufen und der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution den Frieden bedroht sehen. Wie viele Jahre darf man sich verteidigen, ohne ein weiteres Mal angegriffen worden zu sein? Diese Frage ist völkerrechtlich völlig ungeklärt. Es ist zu beklagen, daß in rechtsfreien Räumen immer noch das Recht des Stärkeren gilt. Das Ad-hoc-Bündnis unter Führung der USA mit dem zynischen Namen Enduring Freedom ist die andauernde Freiheit zur Menschenrechtsverletzung. Gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung ist Rot-Grün aus falsch verstandener Bündnistreue in diesen Krieg gezogen und hat Schwarz-Gelb ihn immer wieder verlängert und finanziell und personell aufgestockt.
Es ist Klage zu führen gegen die Schreckensbilanz, die ein Krieg anrichtet, der angeblich geführt wird, um Terror zu beseitigen, und der stattdessen Angst und Schrecken im Lande hinterläßt. Es gibt keine gesicherten Angaben über die Opfer unter der Zivilbevölkerung. Das ist ein Zeichen der Geringschätzung afghanischer Menschenleben, die sich auch materialisiert hat: Die Familien der unter deutschem Befehl bombardierten zivilen Opfer von Kundus erhalten 3000 Dollar Entschädigung, während die Familien eines getöteten deutschen Soldaten 150.000 Euro erhalten. Im christlichen Abendland wird immer wieder demonstriert, daß vor Gott alle Menschen ungleich sind. Es handelt sich aber auch um den kompletten Verstoß gegen den Grundgedanken von Artikel 1 der UN-Menschenrechtscharta, nach der alle Menschen gleich an Würde und Rechten sind und sich im Geiste der Brüderlichkeit begegnen sollen.
Doch die Zahl der Getöteten zu erheben, liegt offenbar nicht im Interesse der andauernden Freiheit. Allein für das Jahr 2010 werden im Jahresbericht der UN und der afghanischen Menschenrechts-Kommission mindestens 2777 zwischen den Fronten von NATO und Taliban umgekommene Zivilisten genannt. Rechnet man die getöteten afghanischen Soldaten und Polizisten sowie die an den unmittelbaren Kriegsfolgen Gestorbenen dazu, so ist klar: Der Krieg richtet unter
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Bewaffneter Export
»Kriegsleiden« überschreibt Berthold Kohler, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen, seinen Leitartikel zur zehnjährigen NATO-Exkursion in Afghanistan. Mit dem Wort »Leiden« will er sagen: Unsere Regierenden wissen schon, daß Kriege sein müssen, aber an welchen sollen sie sich beteiligen? Da stehen sie unter leidigem Abwägungsdruck, denn: »Kriege sind schwer zu berechnen«, das heißt: Der Betreiber weiß nie genau, ob der erstrebte Effekt sich einstellt; auch sind die Kosten nicht sicher kalkulierbar. Also stellt sich, schreibt Kohler, »die Frage, was uns einen Krieg wert ist«. Am Hindukusch sei deutlich geworden, »daß der Export von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht ganz so gut gelingt wie der Verkauf von Luxuskarossen in Einparteien-Diktaturen«. Das ist ein Satz, der Fragen aufwirft und zum Weiterdenken anregt: Allein mit dem Absatz besagter Autotypen ist den einschlägig engagierten deutschen Unternehmen nicht geholfen – eine breitere Produktpalette braucht ihre Abnehmer. Darum bedarf es, wie auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien zu lesen ist, robuster Pflege der Handelsbeziehungen, nötigenfalls eines Bundeswehreinsatzes. Wenn damit aber auch noch der Export von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbunden sein soll, könnte das kontraproduktiv sein; in Zeiten kriegerischer Umerziehung eines Landes pflegt dort die Nachfrage im zivilen Markt abzusacken. Außerdem ist die Einführung von Demokratie handelspolitisch riskant; man weiß nie, ob ein souveränes Volk nicht auf die Idee kommt, selbst zu produzieren und sich dem Import zu verweigern. Demnach bietet sich als günstigste Berechnungsgrundlage für die Überlegung, was uns einen Krieg wert ist, folgendes Modell an: Der militärisch herzustellende Zustand des betreffenden Landes muß erstens Abnahmegarantien für deutsche Waren und zweitens Eigentumssicherheit für deutsche Investitionen sichern. Dies dann Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu nennen, schadet nicht. Oder man tauft eine Diktatur in Demokratie um, das kann für den deutschen Export nützlich sein. Nicht berücksichtigt ist in Kohlers Gedankengang der branchenspezifische Wert eines Krieges für unsere Rüstungsunternehmen; der müßte ins Kalkül einbezogen werden.
Marja Winken
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den Afghanen jedes Jahr einen 11. September an! Am Ende wird es selbst unter den westlichen Soldaten mehr Opfer gegeben haben als an jenem Schreckensdatum 2001. Was für eine irrationale Unverhältnismäßigkeit der Mittel.
Es ist zu verurteilen, daß es in den großen Medien ein striktes Tabu gibt, nach Ursachen oder gar eigener Verantwortung für den Terrorismus zu fragen. Der atemberaubende Verdacht, daß der Terrorismus den Profiteuren des Wirtschaftsliberalismus nicht ungelegen kommt, weil sie sich unter dem Vorwand, ihn zu bekriegen, die Welt untertan machen können, ist nicht ausgeräumt. Haben wir je gefragt, unter welchen Bedingungen die Fundamentalisten bereit wären, ihren Terror einzustellen? Könnte die schockierende terroristische Gewalt der Selbstmordattentäter nicht die asymmetrische Antwort auf die Schockstrategie des Westens sein? Die Schreckensherrschaft der einst von den USA im Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion gepäppelten Taliban hätte wohl im Westen niemanden gestört, wenn sie nicht den unumschränkten Zugriff auf Gas und Öl der Region verweigert hätten. Was Bin Laden vor zehn Jahren in einem Video als Kriegsursache anführte.
Hauptursache des Terrorismus, so sagen Fachleute vor Ort, ist nicht religiöser Fundamentalismus, sondern die totale Aussichtslosigkeit, einen als zutiefst ungerecht empfundenen Zustand mit legalen Mitteln beseitigen zu können. Die Anklage richtet sich insbesondere gegen die als Hölle beschriebenen Folgen des Krieges im Alltag, in einem Land, das seit 32 Jahren keinen Frieden kennt. Es befindet sich immer noch in einer dramatischen Sicherheitslage, die Freiheit nur für die Warlords kennt. Statt mit den jungen, demokratisch gesinnten Kräften zu arbeiten, haben die westlichen Truppen durch Mißachtung der Menschenrechte Warlords und Taliban gestärkt, die in den einflußreichsten Positionen sind. Sie fördern Korruption, Drogen- und Waffenhandel, betreiben Landraub und dominieren die Moscheen und die Medien. Während des Krieges ist die Jugendarbeitslosigkeit von 26 auf 47 Prozent gestiegen. Auch wenn sich der Zugang zu Grundschulen leicht verbessert hat, sind immer noch etwa 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Mädchen und Frauen sind weiterhin die Ausnahme an Schulen. Die Zahl der Slumbewohner hat sich von 2,4 auf 5,4 Millionen mehr als verdoppelt, die Versorgung mit sanitären Anlagen halbiert.
Inzwischen weiß die ganze Welt, daß der Afghanistankrieg nicht zu gewinnen ist – Abzug wird versprochen, aber wie das funktionieren soll, weiß niemand genau. Und daß dazu auch die Auflösung der großen Militärbasen an der Grenze zu China gehören wird, ist nicht zu erwarten. Die am Wiederaufbau und an der Ausbeutung der Ressourcen beteiligten Unternehmen werden bleiben, als eine Art wirtschaftliche Besatzungsmacht. Wenn überhaupt, steht nur ein Pseudoabzug bevor.
Die Anklage lautet schließlich:
Angriffskrieg ist die exzessivste Form von Terrorismus. Erfolgversprechender sind rechtsstaatliche Prozesse gegen anhaltenden Terrorismus, ein Waffensperrvertrag bei gleichzeitiger Investition genau der Summen, die der Krieg kostet, in friedlichen Aufbau, in Bildung und soziale Gerechtigkeit. Die Waffen gegen Terroristen sind Aufklärung, Einhaltung des Völkerrechts und eine Weltordnung, die die Würde jedes Einzelnen garantiert.