Wenn Rot und Grün sich nicht einigen können, soll das Volk entscheiden. Wer aber ist das Volk? Und, fast noch schwerer zu beantworten: Wie eigentlich definiert sich Rot?
In Berlin ist ein rot-grünes Regierungsbündnis schon in den Koalitionsverhandlungen am Streit um ein verkehrsbauliches Großprojekt gescheitert, trotz weitgehender Einigkeit in wichtigeren Fragen. In Baden-Württemberg droht die Erneuerung des Landes nach jahrzehntelanger CDU-Herrschaft am Konflikt um Stuttgart 21 zu scheitern, das irrwitzig teure, verkehrspolitisch wie städtebaulich äußerst fragwürdige und mit unkalkulierbaren geologischen Risiken behaftete Projekt der Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs unter die Erde, das Grün verhindern, Rot aber durchsetzen will. Und in Bayern, wo seit der Kür des allseits beliebten Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude zum SPD-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2013 erstmals die Chance winkt, die CSU-Herrschaft nach dann 56 Jahren brechen zu können, lähmte ein ähnlicher Streit rasch die aufkeimende Hoffnung: Ude, der selbstherrliche Strahlemann, hat sich eisern auf den Ausbau des Münchner Airports durch eine dritte Startbahn festgelegt, den seine potentiellen Koalitionspartner, neben den Grünen noch die Freien Wähler, vehement ablehnen.
Nun soll das Volk entscheiden: in Baden-Württemberg mit einer Volksabstimmung auf Landesebene, in Bayern mit einem Bürgerentscheid in der Stadt München. Das klingt demokratisch, und die Konfliktpartner versichern, das Ergebnis respektieren und sich daran halten zu wollen. Nur: Warum sollen die Münchner entscheiden dürfen, nicht aber die Freisinger, die unter dem zunehmenden Fluglärm viel stärker zu leiden haben? Und warum in Baden-Württemberg ein Landesvolksentscheid, obwohl es einerseits um ein Stadtentwicklungsproblem geht, das allein die Stuttgarter angeht, und andererseits um verkehrspolitische Grundsatzfragen, die ganz Deutschland betreffen? Ob die Stuttgarter sich ihren optimal funktionsfähigen Bahnhof kaputtmachen lassen, um sich dafür ein unterirdisches Nadelöhr einzuhandeln, ob sie viele Jahre gewaltiger Baubelästigung ertragen, vor gefährlichen Bodenverwerfungen zittern und dabei zusehen wollen, wie die neue Stadtregion auf dem aufgelassenen Gleisgelände zur Beute der Immobilienhaie wird, sollten sie selbst entscheiden dürfen; die Tübinger und Mannheimer geht es nicht mehr an als die Berliner und Münchner. Die Frage aber, ob die Bahn ihre begrenzten Investitionsmittel in prestigeträchtige Großprojekte stecken soll statt in einen zielstrebigen Ausbau der Flächenversorgung (was auch die Frage aufwirft, ob sie mit dem Flugverkehr oder mit dem Auto konkurriert), betrifft nicht nur die Baden-Württemberger.
Die Münchner entscheiden, weil die Stadt München Gesellschafter der Flughafengesellschaft ist und gegen die dritte Startbahn ein Veto einlegen kann. In Baden-Württemberg läßt man die Landeswählerschaft entscheiden, um die finanzielle Beteiligung des Landes an dem Projekt gesetzlich zu blockieren, die einst der damalige Ministerpräsident Oettinger freiwillig versprach, um das etwas erlahmte Interesse der Bahn an dem Projekt neu zu wecken. Das ist Pragmatismus pur, aber demokratisch ist es nicht. Es ist ein billiger Trick, um einen Konflikt zu entsorgen, statt ihn zu klären und zu lösen.
In Baden-Württemberg wie in Bayern hat die SPD-Führung weite Teile der Parteibasis gegen sich. Vielleicht sogar die Mehrheit; das weiß man nicht und will es offenbar nicht wissen. Anträge auf eine Mitgliederbefragung wurden auf dem Parteitag der baden-württembergischen SPD in Offenburg abgeschmettert. Eine Partei, die schon öffentlich mit dem Gedanken spielt, an der Entscheidung über ihren Kanzlerkandidaten per Basisbefragung sogar Nichtmitglieder teilnehmen zu lassen, will nicht wissen, wie in einer so entscheidenden, die Gemüter aufwühlenden und die Regierungsarbeit lähmenden Sachfrage die Mehrheit ihrer Mitglieder denkt. Lieber flüchtet sie in einen Volksentscheidschwindel, der das Demokratieverständnis aushöhlt.
Echte Bürgerbeteiligung, echte Basisdemokratie würde bedeuten, in einen transparenten Planungsprozeß, in dem Nutzen und Nachteil gründlich abgewogen und denkbare Alternativen durchdiskutiert werden, die Betroffenen von Anfang an einzubeziehen. Die Geißler-Schlichtung hat gezeigt, wie wenig planerisch rational und demokratisch korrekt die Entscheidung für Stuttgart 21 gewesen ist: Alternativen wurden ausgeblendet, abgenickt wurde ein festgezurrtes, aber finanziell wie sachlich mangelhaft geklärtes Planungspaket. Der Bundestag hat überhaupt nicht abgestimmt, obwohl der Bund Hauptfinanzier ist. Daß Schlichter Geißler trotzdem die einzig logische Konsequenz nicht gezogen hat, für Neuplanung und Neuentscheidung zu plädieren, lag offenbar nicht an mangelndem Mut: geraume Zeit nach dem Schlichtungsverfahren hat er öffentlich bekannt, ein überzeugter Anhänger von Stuttgart 21 zu sein. Eigentlich aber sollte selbstverständlich sein, daß vor der Realisierung eines hochumstrittenen Großprojektes, das vor mehr als 15 Jahren geplant und beschlossen wurde, noch einmal gründlich geprüft wird, ob die Voraussetzungen noch stimmen.
Stuttgart 21 steht exemplarisch für einen längst überholten Begriff von Modernität: die Euphorie fürs Grandiose, Gigantische – fürs »Faustische« also, von dem Mephisto weiß: »Auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Die SPD-Führung läßt sich noch immer leicht von diesem Modernitätsrausch blenden und verliert darüber den Blick für das Ganze ihrer Programmatik. Sie hätte beizeiten einsehen können, daß Stuttgart 21 möglicherweise eine faszinierende Idee, aber absolut nicht notwendig ist, und daß man auch faszinierende Ideen nicht gegen den erbitterten Widerstand weiter Teile der Bevölkerung durchsetzen sollte. Egal, wie nun der Volksentscheid ausgeht: Es wird nur Verlierer geben. Hauptverlierer ist die Demokratie.