Dem »arabischen Frühling«, aus dem Reifezeiten bisher nicht hervorgegangen sind, ist ein stürmischer Herbst im alten Europa gefolgt, keineswegs nur im von Unwettern schon fast zerstörten Griechenland. In einem Katastrophenjahr wähnt sich die politische Klasse auch der mächtigsten Länder der Eurozone – ins Taumeln getrieben von der Gewalt der Finanzmarktwinde, bedrängt aber auch von unerwarteten Gegenströmungen, bodennahen, »eurobellischen«.
Die Kachelmannsprache beiseite gelassen, denn um Naturereignisse handelt es sich nicht: Das kapitalistische Europaprojekt ist nicht nur in eine Schulden- und Kreditkrise geraten, es nähert sich dem politischen Konkurs. Ausgerichtet wurde es darauf, notwendige Dienstleistungen der Politik für die wirtschaftlichen Interessen der mächtigsten Konzerne, Banken und Finanzfonds zu erbringen, innereuropäisch und im Weltmarkt. Und um dafür Loyalität beim Volk zu sichern, war es üblich, parlamentarische Demokratie und halbwegs zufriedenstellenden Wohlstand für die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu versprechen. Beide Verpflichtungen können ganz offensichtlich nicht mehr eingehalten werden, die politische Insolvenz ist kaum noch zu verschleiern.
»Unsäglich albern« hat der Fast-Bundespräsident Joachim Gauck, den SPD und Grüne in dieses Amt hieven wollten, die Protestbewegung gegen das ungebändigte Treiben der Banken genannt. Er ist Möchtegern-Politiker; die politisch Verantwortlichen aus CDU/CSU/FDP/SPD und Grünen sind sensibler, sie beteuern ihr Verständnis für das »Wutbürgertum«, solange dieses sich an Recht und Ordnung halte. Ärger demonstrativ abzulassen, ist also obrigkeitlich erlaubt. Und damit der Zorn nicht ausufert, werden Vorkehrungen für »innere Sicherheit« ausgebaut, zugleich wird versprochen, man werde europäische Instrumente erfinden, um das Finanzkapital zur Mäßigung anzuhalten, notfalls sogar Banken für eine Weile in staatliche Regie überführen. Neu ist daran nichts, schon immer haben Staaten dem privaten Großkapital in Krisenzeiten durch befristete »Sozialisierungen« aus der Klemme geholfen, und das spekulierende Kapital war stets innovativ genug, auf politische Kontrollen mit neuen »Finanzprodukten« zu reagieren. Derzeit fordern die Parlamentarier ihr Recht ein, über den Staatshaushalt zu bestimmen, und in den Medien wird ein Klagelied gesungen: Die VolksvertreterInnen hätten gar nicht den nötigen Durchblick, um den Lauf der großen finanzwirtschaftlichen Dinge zu beeinflussen. Aber ist die Pleite der Parlamentsdemokratie darin begründet, daß die Staatschefs oder Finanzminister den Abgeordneten keine Mitbestimmung gönnen? Oder daß bei den Parlamentariern ein Bildungsdefizit im Fach »Volkswirtschaft« vorliegt? Das anzunehmen, wäre unsäglich töricht. Also muß weiter über die Gründe der Demokratiekrise nachgedacht werden: Kann es sein, daß die herrschende Ökonomie gar keine »Volks«-Wirtschaft ist? Weder auf einzelstaatlicher, noch auf europäischer Ebene? Daß dem Parlamentarismus nur Spielraum zugestanden wird, wenn er den Geschäftsbetrieb der geheimnisvollen »Märkte« nicht stört? Daß die Volkssouveränität nur auf dem Verfassungspapier steht?
In der Politikwissenschaft wird inzwischen ganz locker über das Zeitalter der »Postdemokratie« gesprochen und geschrieben. Darin steckt die Hypothese, daß die kapitalistische politische Ökonomie nicht dauerhaft mit Demokratie kompatibel sei. Wer demokratische Ansprüche nicht historisch verabschieden will, wird sich demnach überlegen müssen, wie man Kapitalherrschaft bricht.
Das »Occupy« vor Bankgebäuden kann eine Ermunterung dazu sein. Albern wäre es, sich damit zu begnügen.