Jagd beendet
Was die Durchsetzung einer »Flugverbotszone« doch alles zuwege bringen kann: Regimechange in Libyen ist erfolgt, Gaddafi tot, ein lästiger Störfaktor bei der erneuten treuhänderischen Übernahme afrikanischer Ressourcen beseitigt, libysche Erdreichtümer können neu verteilt werden. Eine NATO-Mission mit zahllosen Opfern, aber nicht auf der eigenen Seite. Daß Libyer sich gegenseitig abschlachteten, ist in Kauf zu nehmen; es ging ja um den Schutz von Menschenrechten. Daß Massen von Schwarzafrikanern aus dem Land vertrieben wurden, war unvermeidlich – schließlich war es ja Gaddafi, der sie dort hin geholt hatte. Gelohnt hat sich die Operation auch unter Werbegesichtspunkten: NATO-Kampfflugzeuge konnten ihre Leistungsfähigkeit nachweisen. Wäre es besser gewesen, Gaddafi als Gefangenen lebend vorzuführen? Ach was weiß der orientalische Himmel, welche Geschichten über hochrangige Exfreunde der Mann einem Gericht erzählt hatte. Und nun läßt sich das Halali in einen vielstimmigen Chorgesang überleiten, mit dem Text: Die westliche Wertegemeinschaft hat Libyen die Zivilgesellschaft beschert. Ganz bombig.
Die an den Luftschlägen beteiligten Nationen hätten ihre »Schutzverpflichtung erfolgreich umgesetzt«, erklärte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. In der Tat – und bis zum Tod Gaddafis; NATO-Luftwaffen richteten ihn her zur Exekution durch libysche Milizen. Daß diese auch sonst sich gern robuster Methoden bedienen, dafür muß man Verständnis haben. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Das Hobeln wird noch eine Weile weitergehen, nach dem Ende der Jagd muß nämlich entschieden werden, wer welches Stück der Beute bekommt, was interne und externe Teilnehmer an dem Unternehmen gleichermaßen betrifft. »Jeder versucht, für sich das Beste herauszuholen, die künftig Regierenden wissen hoffentlich, was sie uns schulden«, sagte der französische Militärminister Gérard Longuet.
P. S.
Krieg ist Muß
»Eine deutsche Schande« hatte er zu beklagen, Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der
Zeit. Gemeint war, daß die Bundesrepublik, wohl eher aus Versehen, sich der Teilnahme am Krieg in Libyen entzog. Damit den Regierenden ein solches Fehlverhalten nicht wieder unterläuft, hat Ulrich nun bei
Rowohlt eine Art Vademecum publiziert: »Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muß.« In Berlin stellte er sein Buch mit Hilfe des zuständigen Bundesministers vor, der offenbar nicht so ganz begeistert war von solcherart Außenberatung. Bernd Ulrich, die Berichterstattung hob es hervor, ist ein »ehemaliger Aktivist der Friedensbewegung«, er kommt »aus der Generation, die gegen Mittelstreckenraketen protestierte«. Aber längst hat er einen »Paradigmenwechsel« vollzogen. Seinerzeit war er Büroleiter bei der grünen Bundestagsfraktion, und zusammen mit Matthias Geis hat er eine »Joschka«-Biographie publiziert. So hat Joseph Fischer Schule gemacht. Vom Saulus zum Paulus – noch immer ein agitatorischer Effekt.
M. W.
PDL: Neues Mitglied
Es ist geschafft: Zu 97 Prozent stimmten die Delegierten des Parteitags der Linken dem Programmentwurf zu. Und einen erheblichen Aufmerksamkeitserfolg hatte die Partei zu verzeichnen, weil sie – wenn auch mit einigen Formulierungsproblemen – die Entkriminalisierung des Drogenkonsums fordert. Viele Medien stellten wie auf Absprache einen Zusammenhang her mit einer anderen Forderung der PDL, der nach einem Ende von Kampfeinsätzen der Bundeswehr. Wehrkraftzersetzung also, die per Rauschgift die Kommunisten betreiben wollen ... Die SPD-Führung warf der PDL Diebstahl vor – diese hatte beim Parteitag das sozialdemokratische Erfurter Programm von 1891 rezitieren lassen. Will Peer Steinbrück, gerade vom
Spiegel mit Hilfe von Helmut Schmidt ultimativ zum Kanzlerkandidaten ausgerufen, vom Bebelmarxismus selbst wieder Gebrauch machen?
Gregor Gysi nahm beim Parteitag die Bibel zur Hilfe: Jesus, lebte er noch, wäre heute Mitglied der PDL, rief er den Delegierten zu, fügte jedoch vorsichtigerweise hinzu: ein sehr kritisches.
Was sind schon 97 Prozent? Die führenden Zeitungen setzen weiter darauf, daß die PDL von innen her ruiniert wird. Die
Frankfurter Allgemeine zitiert einen anonymen Reformer aus der Partei: »Für viele (der Reformer,
C.T.) braucht es nur noch wenig, damit sie sich (aus der PDL,
C.T.) verabschieden«. Und
Spiegel online meldet, ein »führender Vertreter« (ebenfalls anonym) des »Reformflügels« habe geäußert: »Dieses Programm will eigentlich niemand.« »Verhangen in Arbeiterschweiß-Rhetorik« titelte die
taz bei ihrer Kritik an der PDL-Programmatik – was die Vermutung nahelegt, daß Drogengenuß in der Redaktion dieser Zeitung schon legalisiert ist.
Clara Tölle
Eine Landebahn wird gestartet
In Zeiten wie diesen reißt einen eine Überschrift nur noch selten vom Hocker, es sei denn, man stößt im Video-Text des
ZDF auf die Schlagzeile: »Merkel startet neue Landebahn.« Wie denn, was denn, fragt man sich unwillkürlich. Eine Landebahn kann weder gestartet noch gelandet werden, die liegt wo sie liegt. Daran kann auch eine Bundeskanzlerin nichts ändern. Weshalb also, zum Teufel, die unsinnige Überschrift? Anscheinend orientiert man sich in der Redaktion am Sprachgebrauch der Meteorologen, bei denen die neue Woche nicht beginnt, sondern, je nach Wetterlage entweder mit viel Sonne oder – ein sprachlicher Leckerbissen der besonderen Art – mit ein paar mehr Wolken startet. Umgekehrt würde niemand sagen, Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel beginne beim nächsten Rennen aus der Poleposition. Verteidiger des modischen Unfugs, das Wort starten nach Belieben zu verwenden, verweisen gern auf die ähnlich klingende englische Bezeichnung, die ebenfalls unterschiedlich benutzt werde. Der »Duden« läßt allerdings starten als Synonym für beginnen nur im Sinne von »etwas beginnen lassen« zu.
Was war nun wirklich passiert? Mit der Landung von Bundeskanzlerin Merkel an Bord einer Regierungsmaschine war am 21 Oktober 2011 die neue Nordwest-Landebahn des Frankfurter Flughafens eröffnet worden. Die naheliegende Überschrift »Merkel eröffnet neue Landebahn« hätte zwar niemanden vom Hocker gerissen, aber sie wäre sprachlich in Ordnung gewesen. Sprachliche Unschärfe ist die Folge unscharfen Denkens. In Zeiten wie diesen sollten Journalisten sich diesen Luxus nicht leisten. Übrigens – für die neue Landebahn wurden 280 Hektar Wald gerodet und den Anwohnern droht 50 Prozent mehr Lärm.
Conrad Taler
Sprachgebrauch
Keine Kompromisse in der Sache, doch Entgegenkommen im Sprachgebrauch im Interesse eines sachlichen Gesprächs. Die Hauptsache ist, daß die Leute zuhören und nicht durch Vokabeln abgeschreckt werden. Das ist die Empfehlung von Gregor Gysi.
Sie klingt zunächst überzeugend, und wir kennen ja Gysis glänzende Rhetorik. Er versteht es, durch eine allgemein verständliche Sprache, gepaart mit Einfühlungsvermögen die Menschen zu interessieren, von der Sache zu überzeugen.
Aus soziolinguistischer Sicht ein interessanter Fall: Gregor Gysi wendet sich gegen den Gebrauch des Wortes Kommunismus, weil das einen Bayern nur verschrecken kann, da er es mit Stalin, Pol Pot und der bösen DDR verbindet. Seit Gesine Lötzsch von allen Seiten (einschließlich der eigenen Partei) angegriffen wurde, wagt kaum noch jemand in der Linkspartei, das Wort in den Mund zu nehmen. Selbst in den der Partei verbundenen Medien wird das Wort und schon gar der damit verbundene Begriff und Inhalt weitgehend gemieden. Sollte nicht eher auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, also auf eine Gesellschaft verwiesen werden, in der »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller« ist, eine »Gesellschaftsform ..., deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist«? Könnte nicht in der Argumentation mehr gewagt werden, auch wenn es in Bayern und anderswo damit Schwierigkeiten geben sollte?
Eine zweite Bemerkung: Muß man eigentlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer sagen? Abgesehen einmal von der Tatsache, daß es dieses Konstrukt Arbeitnehmer – Arbeitgeber nur im Deutschen gibt. Übersetzt werden in andere Sprachen kann nur das Wort Arbeiter, für Arbeitnehmer gibt es eigentlich keine Entsprechung. Allerdings kann das im Englischen übliche employer/employee als Ausnahme einer weitgehenden Entsprechung von Arbeitgeber/Arbeitnehmer – wie im Deutschen gebräuchlich – angesehen werden.
Arbeitgeber ist der Unternehmer oder (nicht nur historisch richtig) ganz einfach der Kapitalist.
Woher und warum diese bis heute gängigen Bezeichnungen?
Die Termini Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und gehören heute zum festen Vokabular für eine gelenkte Verschleierung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Tatsächlich sind die beiden Wörter in einem »Entwurf einer allgemeinen Handwerker- und Gewerbeordnung für Deutschland«, beschlossen von dem »Deutschen Handwerker-Congress« zu Frankfurt am Main 1848, zu finden. Das war nicht etwa zufällig, sondern sie wurden ganz bewußt mit dem Ziel der Vertuschung und Verschleierung der Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit dort verwendet.
Auf Verfälschungsversuche der herrschenden Klasse mittels Termini haben Marx und Engels wiederholt aufmerksam gemacht. So sagt Friedrich Engels im Vorwort zur dritten Auflage des »Kapitals« von Karl Marx: »Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das ›Kapital‹ den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin zum Beispiel derjenige, der sich für bare Zahlung von anderen ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird.«
Es handelt sich hier also um Termini, die mit ihrer geschickt parallelen Wortbildung ein Partnerschaftsverhältnis suggerieren und Gegensätze verdecken. Dem »allgemeinen Sprachgebrauch« gegenüber sollten wir wachsam sein. Allzu häufig geschieht es, daß Wörter und Begriffe recht achtlos und arglos übernommen werden. Zu wenig wird bedacht, woher diese Begriffe oder auch nur Wörter kommen, was ihr eigentlicher Inhalt ist und wer daran interessiert ist, daß sie Teil des Sprachgebrauchs werden. Begriffe sind unter Umständen wie gefährliche Zugriffe aufs Denken und schließlich aufs Handeln.
Manfred Uesseler
Kurzweil im Dutzend
Die Verwandlungskunst mache man der englischen Schauspielerin Josephine Larsen erst einmal nach: junge Geliebte, Punkerin, sorgenvolles Eheweib, Puppe eines Bauchredners, zänkische Greisin und sieben weitere Rollen in anderthalb Stunden. Die »Short Shrifts« genannten Stücke entstammen einem Dramatiker und Mimen namens Peter Oswald, der beim Londoner National Theatre unter Vertrag ist. Sie sind allesamt unterhaltsam, einige hinreißend komisch und fordern der Larsen viel ab. Nicht nur hat sie sich äußerlich in Windeseile zu verändern, sie muß auch jedes Mal eine total andere darstellen – stimmlich und in der Wortwahl, in Mimik und Körpersprache: eine Punkerin hat schließlich so wenig mit einem Vamp gemein wie eine zänkische Greisin mit der Puppe eines Bauchredners. Letztere gibt Josephine Larsen bravourös – da sitzt sie auf dem Schoß des Partners und fordert schrill ein Eigenleben, will nicht länger Puppe, sondern Frau sein, nicht länger von einem Mann, diesem Mann (gespielt von Peter Oswald) obszön berührt werden, will weg von ihm und in die Welt. Doch als der ihr das gewährt, fällt sie in sich zusammen wie eine Stoffpuppe, wird zu einem Bündel, das der Mann achtlos in einen Koffer wirft: Deckel zu und Schluß – aber keineswegs Schluß der Vorstellung. Sondern Pause.
Danach erst war die Larsen als zänkische Greisin zu erleben, eine so zänkische, daß es den von ihr verfluchten Lebenspartner geradezu umbringt. Nun hängt der wie eine Stoffpuppe überm Rand des riesigen Koffers: Ein lebloses Bündel, kläglich betrauert von der jetzt einsamen und nicht mehr zänkischen Greisin.
Attention Seekers nennt sich das kleine britische Ensemble, das im Kreuzberger English Theatre zu sehen war – Attention Seekers, in der Tat: Aufmerksamkeit zu erringen war den Darstellern vollauf gelungen.
Walter Kaufmann
Die dicken Bäuche der Dichter
»Warum trat die Kirchenmaus/ gestern aus der Kirche aus?/ Weil zwei Katzen, fromm und fein/ in die Kirche traten ein.«
Der solch ironisch-lakonischen Vers über das Parteigängertum geschrieben hat, lebt zwar hinter sieben erzgebirgischen Wäldern, ist aber kein Hinterwäldler. Wolfgang Buschmann aus Zöblitz, einst Schuldirektor, kommt uns nicht mit dem pädagogischen Zeigefinger. Buschmann stellt unser Schalten und Walten auf den Kopf, schlägt seltsam skurrile Purzelbäume und kommt am Ende wieder auf die Beine. Oder hat sich Buschmann auf den Kopf gestellt? Mit Witz, Ironie und Satire sowie Spaß an verdrehten Wortspielen erweist er sich als ein genauer Beobachter menschlichen Verhaltens. Buschmann folgt der Spur deutscher literarischer Tradition: Morgenstern, Ringelnatz, Busch. Und doch ist’s am Ende Buschmann! Originell sind seine Bilder, wenn beispielsweise aus der Lärche im Winter eine Larche wird, weil die Ä-Stricheln in der Kälte wie Nadeln heruntergefallen sind. Man denkt an Morgensterns »Fisches Nachtgesang« oder seinen »Trichter«. Buschmann erfindet eine Vielfalt solcher konkreter Poesie. Immer hat man beim Lesen das Gefühl, er sitzt in irgendeiner Ecke und beobachtet, ob seine leisen Töne nicht nur ins Ohr, sondern auch ins Hirn und dann ins Herz gehen. Dann freut sich dieser merkwürdige Poet in seinen stillen Wäldern mit.
Fragt sich nur, ob in unserem literarischen Wald voller Ritterrüstungen, Mordbuben und Genitalienbetrachtungen ein sensibles Gewächs wie Buschmanns Dichtung auch auf die Lichtung kommt. Derartig hintersinnige Verse sollten solche Hoffnung am glimmen lassen: »Herr Kautzky wollte einen Zaun/ vorm tiefen, tiefen Abgrund baun./ Oh Gott, wenn jemand stürzt und fällt./ Er opfert Zeit, Arbeit und Geld./ Da kamen Leute, die schrien: Nein!/ Der Zaun engt uns die Freiheit ein!// Kautzky riß ab und schrieb hinan:/ Wer runterfallen will, der kann!«
Wolfgang Eckert
Wolfgang Buschmann: »Der Dichter hat den dicksten Bauch«, VAT Verlag, 157 Seiten, 16,90 €
»Draußen« leben
Die Ich-Erzählerin, studierte Linguistin und praktizierende Logopädin, gehörte zu denen von »drinnen«. Immer »draußen« gewesen war Adam aus einer Familie mit fünf Kindern und einer Mutter, die immer mal wieder die »Klapse« von innen gesehen hatte. Nun aber liebt die Studentin Adam, bestaunt ihn. Er wird der Vater ihrer Kinder. Und schon ist auch sie »draußen«. So einfach erklärt sie sich ihre Gesellschaft. Adam, der keine Möglichkeiten zu höherer Schulbildung oder gar Studium hatte, hat goldene Hände und einen klugen, unangepaßten Kopf. Er repariert, baut, hebt alles auf, weil man es einmal brauchen könnte. Die Texte und das Lebensgefühl von »Ton Steine Scherben« und »Die Ärzte« hat er verinnerlicht – der ideale Mann für eine Welt ohne Konsumzwänge und Zivilisationsmacken. Dank der Erbschaft einer Freundin saniert er »jwd« ein Haus, und so entsteht eine Lebensgemeinschaft von immer mehr Menschen, die das »andere Leben« leben: mit Arbeit, Genuß, Spaß, Solidarität.
Fast liest es sich wie ein Märchen, doch zeitgeschichtliche Fakten sind raffiniert eingewoben: beispielsweise als alle links waren und dann plötzlich nicht mehr, als die »Kochinseln« modern wurden und als aufgeweckte Kinder als hyperaktiv diagnostiziert und mit Tabletten behandelt wurden. Birgit Vanderbeke (Jahrgang 1956) erzählt bewundernswert einfach, scheinbar naiv, aber in Wirklichkeit höchst kunstvoll, weil diese Geschichte diesen Stil braucht. Es geht um nichts weniger als um Möglichkeiten individuellen Widerstands gegen die zunehmende Verwüstung, die den einzelnen Menschen und die ganze Gesellschaft überzieht.
Christel Berger
Birgit Vanderbeke: »Das läßt sich ändern«, Piper, 147 Seiten, 12,99 €
Tragische Routinefahrt
Reykjavik, an einem trübsinnigen Frühlingstag irgendwann um das Jahr 1950 herum. Island hatte während des Zweiten Weltkriegs den Unionsvertrag mit dem dänischen Königshaus abgeschüttelt und war dafür unter den Einfluß der US-amerikanischen »Schutzmacht« geraten. Den Beitritt zur NATO im Jahre 1949 hatten die Regierungsparteien gegen den Widerstand breiter Bevölkerungskreise gewaltsam durchgesetzt. Folge der engen Kooperation mit den USA war eine radikale wirtschaftliche Modernisierung des Landes – mit all ihren positiven und negativen Seiten.
Für den Taxifahrer Ragnar ist es zunächst ein Routineauftrag: Ein stockbetrunkener Besatzungssoldat muß zum Flughafen gekarrt werden. Auf der Rückfahrt fällt dem Chauffeur ein am Straßenrand liegengebliebener Wagen auf, und er hilft der Fahrerin bei der Reparatur. Aus der Zufallsbekanntschaft entwickelt sich schnell eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die allerdings ein tragisches Ende nimmt.
Thorsteinssons im Jahre 1955 erstveröffentlichtes Buch war damals in Island ein Riesenerfolg – die Verfilmung durch den dänischen Regisseur Erik Balling (dem deutschen Publikum hauptsächlich bekannt durch die »Olsenbande«) wurde in den Kinos zum Kassenmagneten. Der Autor thematisiert in knapp gehaltener Sprache den plötzlichen Aufbruch des Landes und das damit verbundene Abstreifen traditioneller, stockkonservativer Moralvorstellungen und zugleich den Preis, den die isländische Gesellschaft dafür bezahlen mußte.
Es ist schwer nachvollziehbar, warum es über fünfzig Jahre dauerte, bis das Buch ins Deutsche übersetzt wurde. Thorsteinsson hat dies nicht mehr erlebt. Er starb im Jahre 2000. Sein Sohn, Arnaldur Indriðason, ist derzeit einer der bekanntesten Autoren isländischer Kriminalromane.
Gerd Bedszent
Indriði G. Thorsteinsson: »Taxi 79 ab Station«, übersetzt von Betty Wahl, Transit Verlag, 117 Seiten, 14,80 €
Anständige Diebe
Nach einer Notiz in der
Leipziger Volkszeitung berichtet
dpa über »große Freude beim früheren Außenminister« Genscher, weil ihm Diebe einen bei ihrem Einbruch in sein Haus gestohlenen »wertvollen« Füllfederhalter zurückgeschickt haben. Mit dem Füller hatte Genscher »am 7. Februar 1992 in Maastricht das Vertragswerk für die Europäische Union unterzeichnet«. Wahrscheinlich wollten die Diebe in die Sache nicht mit hineingezogen werden.
Günter Krone
Press-Kohl
Unter der Überschrift »Süßer Fratz, grantiger Onkel« und dem seltsamen Untertitel »Ein türkisches Findelkind adoptiert Elmar Wepper« stellt Michael Kohler Christian Züberts neuen Film »Dreiviertelmond« vor. Dabei hat Kohler, wie schon die Titelei verrät, gewisse Schwierigkeiten. Selbstverständlich wird Elmar Wepper nicht von einem türkischen Findelkind adoptiert und adoptiert auch keines. Und Hartmut Mackowiak, der von dem sympathischen und ausdrucksstarken Charakterdarsteller Elmar Wepper gespielt wird, hat mit Adoptionen im strengen Wortsinn nichts zu tun. Von einem Journalisten, der »Sterotypen« für den Plural von »Stereotyp« hält, erwartet man nicht, daß er in der
Berliner Zeitung unsere Muttersprache adoptiert. Man freut sich schon in seinem Artikel über eine gelungene Bildunterschrift wie diese: »Beim Angeln bedarf es ohnehin keinerlei Sprachgewandtheit. Eher wird dieselbe als störend empfunden.« Dieselbe kann man K. eher nicht nachsagen.
Unser Freund Werner Klemke behauptete, die köstlichsten syntaktischen Verwirrungen finde man in Kochbüchern. Sein Lieblingsbeispiel lautete: »Zum Abschluß ziehe die noch leise brutzelnde Sauce sanft und behutsam mit einem frischen Eigelb ab.«
Felix Mantel