Die US-Amerikaner wählen wieder. Wie immer am ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November, also wie in alten Zeiten bestimmt – nach der Erntezeit und vor dem großen Schnee, nicht zu nahe dem kirchlichen Sonntag (bei damals langen Wegen) und nicht am Monatsersten, an dem schriftlich abzurechnen war.
Nur: Der Wahldienstag ist kein Feiertag. Und da beginnen schon die Probleme. Einige Bundesstaaten erlauben die Abstimmung am vorherigen Wochenende. Etliche aber nicht. Daher müssen viele US-Amerikaner früh vor der Arbeit oder nach Feierabend wählen. Nach einem harten Arbeitstag kann dann die Warteschlange entmutigend lang sein, gerade wenn es zu wenige Wahlmaschinen gibt. Und wo fehlen am häufigsten die Maschinen? In den Stadtvierteln der Schwarzen und Latinos, die mehrheitlich für Obama stimmen würden.
Halt! Maschinen? Ja, das moderne Land kann sich nicht mit handgemalten Kreuzchen zufriedengeben, es müssen hochmoderne Geräte sein. Mit einem Klick gibt der Wähler dem gewünschten Kandidaten seine Stimme, heutzutage muß er sogar nur mit dem Finger den Namen berühren, um für Barack Obama, Mitt Romney, die Grüne Jill Stein oder für andere zu stimmen. Darunter stehen, in vertikalen Spalten nach Parteien aufgelistet, Kandidaten für den Senat, das Abgeordnetenhaus und für lokale Ämter. Und schon gibt es weitere Probleme. Wer mit Computern zu tun hat – und nichts anderes sind die Wahlmaschinen hinter den Vorhängen –, weiß nur zu gut, daß sie manchmal nicht funktionieren und manchmal Dinge tun, die der Benutzer nicht beabsichtigt hat. Und wer baut die meisten Wahlcomputer? Ausgerechnet Firmen, die hinter Romney stehen und früher hinter Bush standen. Und wo gibt es die meisten Pannen? Richtig! In Gebieten, wo Schwarze, Latinos oder Studenten wählen, die eher für Obama stimmen.
Für die anstehende Wahl haben sich die Republikaner aber noch etwas Neues ausgedacht. Seit einigen Jahren schon klagen sie über die vielen Falschwähler, gemeint sind beispielsweise Doppelwähler oder Wähler ohne US-Staatsbürgerschaft, die sich irgendwie einschleichen. Vor 100 Jahren lachte man über Parteimänner, die nachts mit Laternen die Friedhöfe nach Namen absuchten, um sie als »Wähler« anzumelden, und über den angeblichen Wahlspruch: »Wählt früh – und oft!« Heutzutage gibt es höchstens einen Handvoll solcher Fälle, die meist auf Irrtümern beruhen. Dennoch forderten die Republikaner schrill neue Bestimmungen ein.
In einigen wichtigen, von Konservativen geführten Bundesstaaten wurden inzwischen Gesetze erlassen, die das Wählen am Wochenende einschränken, das späte Registrieren an den Wahllokalen verhindern und nun auch verlangen, daß der Wähler seine Identität mit einem amtlich gestempelten Foto nachweist. Personalausweise gibt es nicht, daher genügt meist eine Fahrerlaubnis. Aber was tun, wenn man keine hat? Dann muß man mit seiner Geburtsurkunde ein entsprechendes Dokument beantragen. Doch die Ämter sind oft weit entfernt, sind häufig überfüllt, und meist wird eine Gebühr verlangt. Bis zu fünf Million Menschen sollen von diesem Problem betroffen sein. Und wer wird auf diesem Weg entmutigt, zur Wahl zu gehen? Ältere Leute, Gehbehinderte, ärmere Staatsbürger, ja, richtig, vor allem Schwarze und Latinos! Letzteren fehlen oft Geburtsurkunden. Auch Studenten haben teilweise noch keine Fahrerlaubnis und müssen weit weg von zu Hause abstimmen. Jeder weiß, wohin bei den genannten Gruppen die politischen Neigungen tendieren. Neulich hörte ich eine Anekdote über zehn ältere Nonnen, die – ohne Fahrerlaubnis – in einem Kloster, weit entfernt von allen Ämtern wohnen. Auch sie werden wahrscheinlich nicht abstimmen. Die Demokraten fechten die »Foto-Gesetze« als verfassungswidrig an; die gerichtliche Entscheidung könnte jedoch in jedem betroffenen Bundesstaat anders ausfallen, womöglich auch zu spät fallen.
Hinzu kommt das Wahlmännersystem, das vielen mysteriös erscheint. Dabei ist es leicht erklärbar: Bei der Wahl des Präsidenten (und des Vizepräsidenten) werden nicht die Wählerstimmen gezählt, sondern die Stimmen der fünfzig Bundesstaaten (plus Washington und einiger Quasi-Kolonien). Nur die Mehrheit dieser Stimmen entscheidet. Die Bundesstaaten haben je nach Bevölkerung ein unterschiedliches Gewicht; die kleinsten wie Wyoming, North und South Dakota haben jeweils nur drei Stimmen; Schwergewichtler wie Kalifornien, Texas und New York haben 55, 34 und 31 Stimmen. In jedem Staat bekommt die stärkste Partei all diese Stimmen. Es ist also ein Wettkampf zwischen Bundesstaaten (wobei die eigentlichen Wahlmänner und -frauen nur eine formale Rolle spielen). Meist stimmen am Ende die »Wahlmännerzahl« und die Zahl der Volksstimmen überein. Doch viermal in der Geschichte eben nicht; der Sieger bekam weniger Volksstimmen als der Verlierer, zuletzt im Jahr 2000 als Bush gegen Gore antrat! Tja, auch die Demokratie hat manchmal ihre Tücken!
Diese Eigenart des Wahlsystems führt dazu, daß die Stimmen von Wählern in bevölkerungsreichen Staaten schwerer wiegen als die der Wähler in den kleinen Bundesstaaten. In Kalifornien, New York und Obamas Heimatstaat Illinois ist den Demokraten der Sieg sicher (vor allem weil es dort viele Schwarze, Latinos und jüdische Wähler gibt). Texas dagegen steht zu Romney wie die meisten Bundesstaaten im Südosten und in den weiter westlichen Prärie- und Bergstaaten. Bleiben einige Wackelstaaten mittlerer Größe, die voraussichtlich wahlentscheidend sein werden: Pennsylvania im Osten, Ohio und Wisconsin in der Mitte, Colorado im Westen sowie im Südosten Virginia, North Carolina und Florida. Daher konzentrieren Obama und Romney auf diesen Staaten ihre letzten Bemühungen.
Und gerade hier bemühen sich vor allem die Republikaner mit ihren miesen Tricks, von denen noch weitere in Planung sind. Beispielsweise beabsichtigen die Republikaner, all diejenigen von der Wahl auszuschließen, die schon einmal eine Gefängnisstrafe verbüßen mußten, egal aus welchem Grund. Außerdem werden Gruppen von »Wahlbeobachtern« trainiert – möglichst offiziell im Aussehen. Sie sollen wartende Wähler, die augenscheinlich einer Bevölkerungsminderheit zugehörig sind, auffordern, sich als »berechtigt« auszuweisen, was Chaos verspricht und viele einschüchtern und abschrecken könnte. Ohne es offen auszusprechen, bauen Mitt Romney und Paul Davis Ryan vor allem auf den Haß vieler Wählerschichten gegen Schwarze und »illegale Immigranten«. Sie wissen, besonders weiße Männer fürchten, ihre bevorzugte Position auf dem Arbeitsmarkt zu verlieren. Ihnen wird unablässig suggeriert, daß ihr Verdienst aus ehrlicher Arbeit versteuert wird, um dunkle »Arbeitsscheue« auszuhalten, deren ärztliche Versorgung zu bezahlen, womöglich noch Abtreibungen. Es grassiert unterschwellig die Angst, daß durch die nahende Mehrheit farbiger Menschen im Land den Weißen deren traditionelle Privilegien verlorengehen könnten. Die Ängste basieren auf Unkenntnis, Engstirnigkeit, Dummheit. Der Rassenhaß wird von Tea-Party-Anhängern fast offen, von der republikanischen Partei unterschwellig geschürt. Dazu gehört auch die verbreitete Propaganda, Obama sei ein Muslim aus Kenia, womöglich noch ein Sozialist! Einmal nur sagte Romney deutlich, ohne zu wissen, daß alles aufgenommen wurde, was er von den fast fünfzig Prozent der Bevölkerung hält, die »nichts geben, sondern nur nehmen«. Seinesgleichen war damit aber nicht gemeint!
Die Fäden im Hintergrund ziehen Karl Rove, Charles und David Koch, Sheldon Adelson und andere Milliardäre, auch die großen Banken, Erdöl-, Pharma-, Gas- und Rüstungskonzerne. Sie merken, daß manche Amerikaner nach langen ruhigen Jahren sich dagegen wehren, daß die Kluft zwischen den »filthy rich«, den Stinkreichen, und den vielen Ärmeren immer größer wird. Hier setzte die »Occupy Wall Street«-Bewegung mit ihren aufsehenerregenden Aktionen an, stellvertretend für die 99 Prozent der Bevölkerung, die unter dem einen Prozent der Superreichen dieser Erde zu leiden haben. Erstaunliche Proteste von Arbeitern fanden im sonst ruhigen Madison (Wisconsin) statt, es gab einen begeisterten Streik von LehrerInnen in Chicago, Erfolge errangen die Tomatenpflücker in Florida, erstmals rang ein Streik der größten US-Firma, Wal-Mart, Zugeständnisse ab.
Die »filthy rich« verfolgen auch die Nachrichten von kämpferischen Studenten in Quebec und Chile, von Demonstrationen in Ägypten, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland. Und sie merken, daß der Ärger wächst und daß Schwarze und Latinos zur Mehrheit werden. Am 6. November wollen die reichen US-Amerikaner das Steuer in ihrem Land unbedingt wieder fest in die Hand bekommen: das Weiße Haus und auch den Senat, das Abgeordnetenhaus, den Obersten Gerichtshof. Obama hat sich nicht als der erhoffte Kämpfer gezeigt, er hat viele enttäuscht. Illusionen über ihn oder die Demokratische Partei wären völlig falsch. Dennoch ist es wichtig, daß die Rassisten, auch manche Quasi-Faschisten, nicht unter der Flagge von Romney und Ryan an die Macht kommen. Sie wären nicht allein für die USA weitaus gefährlicher als Obama. Bald wird man sehen, ob sich die vielfältigen Tricks noch durchkreuzen lassen.